Le Coche et la mouche - Alexander Skrjabin: Sonate Nr.10 op.70 (1912/13)

  • Lange fehlten mir die rechten Worte für die "Insekten-Sonate", die "Triller-Sonate" von Skjrabin, und dann kamen sie wie von selbst bei einem kurzen Urlaub in Frankreich über das Radio. Dominique Jameux brachte am 22. April 2007 bei Radio France Musique einen Beitrag "Rupture : Emission Scriabine / La Fontaine", in dem er einen Großteil der Skrjabin-Einspielungen auf der Horowitz-CD entlang der Fabel "Die Landkutsche und die Fliege" (Le Coche et la mouche) von Jean de La Fontaine interpretierte.



    Salvador Dali (1904- 1989): Le Coche et la mouche (1974)


    Skrjabin hat natürlich eine ganz andere Sicht auf diese Fabel als Dali. Ein Leben lang hat er komponiert, bis ihm die letzten Werke gelangen, die gleichzeitig entstanden sind, unter ihnen hervorzuheben die 10. Sonate und "Vers la flamme", op. 72.


    Da steigt bei sengender Hitze eine Kutsche gezogen von 6 Pferden den Berg hinauf. Zeit, Luft und alle Gefühle scheinen in langsam kreisender Bewegung still zu stehen. Wie läßt sich das besser beschreiben als mit Skrjabins Prélude opus 67 Nr. 1 oder den beiden Préludes opus 59 Nr. 1 und 2?


    In der Kutsche sitzen ein Weib, ein Greis und ein Mönch. Wie so oft auch in Erzählungen von Maupassant bringt die Reise Personen in ein gemeinsames Abenteuer zusammen, die einander sonst kaum begegnet wären. Aber nun muss der Mönch sein Brevier beiseite legen, die Frau zu singen aufhören. Alle müssen aussteigen und helfen, die Kutsche zu schieben. Der Schweiß steht ihnen auf der Stirn.


    Wäre das nicht schon genug, kommt eine Fliege geflogen, summt den Pferden um die Ohren, sitzt mal auf der Deichsel und dann auf der Nase des Kutschers, bringt durch ihre Aufgeregtheit und Geschäftigkeit alles in mürrische Bewegung, und glaubt auch noch, dank dieser Leistung sei ihr gelungen, die Kutsche wieder in Fahrt zu setzen und schließlich auf dem Berg anzukommen.


    Als alles sich erschöpft ausruht, bläht sie sich auf, sonnt sich und erwartet Dank von allen Seiten. Dazu erklingt die Etude opus 8 Nr. 12, die "Sturmvogel-Etüde", nun in völlig konträrer Bedeutung.


    Oder doch nicht? Ist alles revolutionäre Wirken des Menschen nichts anderes als solche Überheblichkeit einer Fliege, im Glauben, der Mensch könne die Schöpfung umwenden? Oder hat Dali recht, dass sich zwar alle über die Fliege ärgern, und sie dennoch mit ihrer unbekümmerten Munterkeit alle ein wenig aus ihrer zähen Trägheit gerissen hat?


    Jameux sieht bei La Fontaine wie bei Skrjabin hinter dem Moralisieren beißenden Spott, einen verzweifelten Anblick der menschlichen Nichtigkeit. Nach dem Verlust des Glaubens bleibt ihnen nur noch die Sucht, sich in religiösem Eifer oder pseudo-religiösen Gefühlen entflammen zu lassen. Sie verbrauchen ihre letzte Kraft der Hoffnung im leeren Flügelschlagen zum gleißenden Licht, beim Trillern der Musik. Es ist ein stechender Rhythmus, der hinter den Versen von La Fontaine und in der Musik von Skrjabin wie eingebrannt ist. - Ich mag jedoch - um all das ein wenig zu relativieren - die freudigere Sicht von Dali nicht missen, und sehe ein wenig davon auch bei Fontaine und Skrjabin umgesetzt.


    Um das Gemeinsame von La Fontaine und Skrjabin zu zeigen, wählt Jameux als Drittes die Bagatelle opus 9 Nr. 1 von Anton Webern, gespielt vom Emerson Quartett.


    Skjrabin ging seinen Weg zuende. Seine Stücke zeigen zugleich den ständigen Aufstieg in die Höhe wie depressives Absinken in das Dunkle. Das ist schließlich vollendet in der 10. Sonate opus 70.


    Referenzaufnahme ist zweifellos Vladimir Horowitz. Eine echte Alternative ist die frühe Einspielung von Igor Shukov.


    Bonne nuit, Walter

  • Ich kämpfe immer noch mit der 10. Sonate von Scriabin! Der Name "Insektensonate" hat mich immer etwas abgeschreckt. Beim hören der Triller assoziere ich tatsächlich ein häßliches monströses Insekt, dass um mich herum schwirrt. Eindrucksvoller kann man eine "Insektenmusik" nicht schreiben! Vielleicht finde ich ja doch noch mal den Zugang zu diesem Werk!


    Die 10 Sonate habe ich mit Pletnev, Hamelin, Ashkenazy und Austborn! Pletnev gefällt mir hier am besten! Leider kenne ich die Aufnahme von Horowitz und Igor Shukov (noch) nicht!


    Kennt jemand noch andere interessante Interpretationen dieser Sonate?


    Gruß
    Niko

  • Die 10 Sonate habe ich mit Pletnev, Hamelin, Ashkenazy und Austborn! Pletnev gefällt mir hier am besten! Leider kenne ich die Aufnahme von Horowitz und Igor Shukov (noch) nicht!


    Gruß
    Niko[/quote]


    Hallo, miteinander!


    Ich kenne die Interpretationen von Austbö (skandinavisch geschriebenes "ö", nicht Austborn!) und Horowitz, die mir beide gefallen, wobei Horowitz rücksichtsloser, radikaler spielt.


    Die 10. Sonate ist, obwohl auch sie auf der mystischen Skala Skrjabins basiert, für mich weniger rätselhaft als die drei vorausgehenden. Die Idee mit den Insekten finde ich recht originell, ich wäre selber aber nicht darauf gekommen. Meines Erachtens symbolisiert dieses Werk Religiosität (die vorausgehenden Sonaten heißen ja auch etwa "Weiße" und "Schwarze Messe") und elementare Liebe; durch die grellen akkordischen Steigerungen und die Trillereffekte kommt wahrlich Jugendstilerotik ins Spiel. Daneben stehen aber zurückhaltendere, melancholische Passagen. Insgesamt erscheint mir die 10. optimistischer und dualistischer angelegt als die Sonaten davor.


    Als Hobbyklimperer habe ich mir die Noten der Skrjabin-Sonaten zugelegt, zum Mitlesen natürlich. Was der Pianist hier technisch zu bewältigen hat, ist unglaublich.


    Beste Grüße, Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • ... als ergänzende Frage: Hat der Name "Insektensonate" eine quasi offizielle Basis? Oder hat ihn ein Taminoianer erfunden? :]


    Gruß, Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Zitat

    Original von WolfgangZ
    ... als ergänzende Frage: Hat der Name "Insektensonate" eine quasi offizielle Basis? Oder hat ihn ein Taminoianer erfunden? :]


    Gruß, Wolfgang


    Hallo Wolfgang,


    Ja Scriabin hat seine 10. Sonate als "Insektensonate" bezeichnet. Er hat aber auch einen Bezug zum Wald hergestellt " Das ist der Wald. Klänge und Stimmungen des Waldes...."! Zitiert aus Sigfrid Schibli, Alexander Scriabin und seine Musik S. 203!



    Gruß NIko

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  • Das Thema Insekten ist faszinierend. Innere Verwandtschaft in der Kunst verläuft oft über verborgene, geheime Wege. Oder wie ist anders zu erklären, dass 1774 der chinesische Maler Luo Ping Ameisen in einer Weise malte, die kongenial zu der Musik von Skrjabin passen? Kann der Farbton von Skrjabin besser getroffen werden?


    Luo Ping gilt oft als der letzte große chinesische Maler, bevor unter dem Druck des Einbruchs der europäischen Zivilisation nach China im 19. Jahrhundert diese Sicht der Welt ihr Ende fand und das "Alte China" untergegangen ist. Nach ihm verlagerte sich die chinesische Malerei von Landschaften zu Blumen- und Vögel-Bildern.


    Ich kann nur empfehlen, über die Möglichkeiten des Internet mehr von Luo Ping anzuschauen. Hier scheint mit 100 Jahren Vorlauf die Katastrophe der europäischen Kunst vorweggenommen zu sein.


    Den Hinweis auf diesen Maler verdanke ich dem überaus empfehlenswerten Buch von Albert Breier "Die Zeit des Sehens und der Raum des Hörens".



    Luo Ping (1733 - 1799): Ameisen (1774), Palast Museum Beijing


    Viele Grüße, Walter