Igor Markevitch gehört wie etwa seine Kollegen und Zeitgenossen Ferenc Fricsay, Antal Dorati oder Karel Ancerl zu jenen Dirigenten, die heute zumeist nur noch Sammlern und eingeschworenen Fans ein Begriff sind, obwohl sie zu ihrer Zeit durchaus bekannt waren und nicht wenige Schallplattenenspielungen hinterlassen haben. Die Gründe hierfür mögen vielfältig sein. Zum einen hatten sie wohl weniger Talent und Neigung zur Selbstdarstellung als vergötterte Pultstars wie Leonard Bernstein oder Herbert von Karajan und waren daher den Marketingmechanismen des Business entsprechend als „Marke“ weniger zu gebrauchen. Andererseits waren ihre Interpretationen nicht primär von klanglicher Süffigkeit oder orchestraler Hochpolitur geprägt, sondern eher, wenn man es so pathetisch formulieren will, von der größtmöglichen Treue zum Komponisten und zum Werk, ohne dabei jedoch in kapellmeisterliche Biederkeit oder Pedanterie zu verfallen. Igor Markevitch insbesondere verstand es, die Strukturen einer Partitur wie in einem Längsschnitt mit dem analytischen Skalpell freizulegen und sie gleichzeitig von innen heraus dramatisch zum Glühen zu bringen. Eine glückliche Kombination aus russischer Dämonie und französischer clarté, den beiden entscheidenden Einflüssen von Herkunft und Erziehung Markevitchs.
Auch Igor Markevitch ist ein Kind des berühmten Dirigenten-Jahrganges 1912, dem u.a. Sergiu Celibidache, Günter Wand, Kurt Sanderling, Sir Georg Solti, Erich Leinsdorf und Ferdinand Leitner angehören. Geboren wurde er am 27. Juli in Kiew auf dem Schloss der Familie, in dem schon Michael Glinka, ein entfernter Verwandter, seine berühmte Oper „Ivan Susanin/Ein Leben für den Zaren“ geschrieben hatte, ein Werk, das Markevitch später selbst für die EMI aufnehmen sollte. Die Familie siedelte 1914 erst nach Paris um, um sich dann endgültig im westschweizerischen Vevey niederzulassen, wo Igor schon früh als Kind mit seinem Vater Boris, einem Pianisten, vierhändig Klavier spielte und auch öffentliche Konzerte gab. Das musikalische Talent des Jungen fiel dem französischen Pianisten und Komponisten Alfred Cortot als erstem auf und so gab er dem erst Neunjährigen den ersten Kompositionsunterricht. 1926 ermöglichte er dann dem musikalisch Hochbegabten weitergehende Studien bei der berühmten Nadia Boulanger in Paris, wo er u.a. auch die Bekanntschaft von Igor Stravinskys Sohn Soulima machte.
Die Öffentlichkeit nahm zuerst 1929 von Markevitch Notiz, als dieser sein erstes Werk, ein Klavierkonzert, eigenhändig in London erfolgreich uraufführte. Im Jahr darauf hatte seine Ballett "L´habit du Roi" bei den Ballets Russes von Serge Dhiagilev Premiere, 1931 folgte die Partita für Klavier und Kammerorchester, 1932 dann wohl sein wichtigstes Werk "L´Envol d´Icare" für Orchester. Markevitch begann sich nun immer mehr für das Dirigieren zu interessieren, nahm Unterricht bei Pierre Monteux und dann bei Hermann Scherchen und debutierte 1933 bei Concertgebouw Orchester mit seinem Werk "Rébus". Zu dieser Zeit galt er als eines der hoffnungsvollsten jungen Kompositionstalente, „eine der herausragenden Persönlichkeiten der zeitgenössischen Musik“, wie Bela Bartok ihn nannte. Sein kompositorischer Stil erinnert entfernt an Stravinsky oder Prokofiev, war stark horizontal-polyphon geprägt, erhielt aber teilweise schon Experimente mit aleatorischen Formen (zuverlässige, wenn auch nicht überragende Aufnahmen seiner Werke liegen beim Label "Marco Polo" vor).
Der Zweite Weltkrieg bedeutete auch für Markevitch einen starken Einschnitt in seinem Leben. Als er sich 1939 in Italien aufhielt, um sein Oratorium "Lorenzo Il Magnifico" zu vollenden, wurde er vom Kriegsausbruch überrascht. Durch den Kriegseintritt Italiens in Florenz festsitzend, schloss Markevitch sich der italienischen Resistenza an. Nach der Befreiung durch britische Truppen im Jahre 1944 wurde er dann mit der Reorganisation des florentinischen Musiklebens betraut. Von nun an arbeitetete er gänzlich als Dirigent, zunächst beim Maggio Musicale Fiorentino vor allem mit der Aufführung von Opern beschäftigt.
Ab Ende der 1940er Jahre machte er sich als Gastdirigent in den Konzertsälen der Welt einen Namen, wobei ihm nicht nur sein phänomenales Gehör, sondern auch seine absolut klare, bewegliche und elegante Dirigiertechnik eine große Hilfe war. Seine völlig unabhängig voneinander agierenden Hände, unterstützt von kontrollierenden Blicken, machten den Orchestermusikern seine interpretatorischen Wünsche fast immer sofort verständlich. Ihm ging so der Ruf eines hervorragenden Orchestererziehers voraus, der selbst mit einem mittelmäßigen Orchester nach wenigen Proben jedes technisch noch so schwierige Konzertprogramm aufführen konnte. Aufgrund dieser Fähigkeiten war Markevitch ein sehr gefragter Dirigierlehrer, der überall auf der Welt Meisterkurse gab (u.a. auch in Salzburg) und sich auch musikwissenschaftlich beschäftigte. Während seiner Karriere hatte er jeweils nur kurzzeitig dirigentische Chefposten beim Orchestre Lamoureux, in Montreal und Monte Carlo sowie beim Orchester der Accademia Nazionale di Santa Cecilia inne, die Verbreitung und Festigung seines Rufes lag aber vor allem in senen skrupulösen Schallplattenaufnahmen begründet, die erst dann begannen, wenn Markevitch sich sicher war, dass das Ergebnis seinem Perfektionsideal entsprach.
Als Grundstock einer Markevitch-Sammlung bietet sich die bei der Deutschen Grammophon in der „Original Masters“-Serie erschienene Box „Igor Markevitch – Un véritable Ariste“ an, die sowohl Mono- als auch Stereo-Aufnahmen aus den 1950er und 1960er Jahren vereint, die sein weitgespanntes Repertoire bezeugen (Mozart, Gluck, Cimarosa, Haydn, Schubert, Beethoven, Brahms, Wagner, Kodaly, Gounod, Debussy, Bizet und Tchaikovsky).
Bei den Aufnahmen der Symphonien Mozarts (Nr. 34, 35 und 38, Berliner Philharmoniker und Orchestre Lamoureux) und Beethovens (Nr. 3 und 6, diverse Ouvertüren, NBC Symphony Orchestra und Orchestre Lamoureux) nimmt man mit Erstaunen zur Kenntnis, dass Markevitch schon in den 50er Jahren eine Art HIP-Stil avant la lettre pflegte: wenig Pathos, reduzierte Streicher, historisch korrekte Sitzordnung, Heraushebung der Bläserstimmen, die aber dennoch im Gesamtklang des Orchesters integriert bleiben, schnelle Tempi, insbesondere in den Menuetten Mozarts, die damit dem ursprünglichen Tanztempo wieder angenähert wurden. Dabei weiss er aber ganz genau, wie man die so freigelegten Strukturen durch teilweise unmerkliche Tempoverschiebungen, -rückungen und -verzögerungen zum Leben erweckt, ihnen ein hörbares Relief verleiht, wie etwa in der „Leonore III“, wo er bei ca. 11:54 die Streicher mit allmählicher Verzögerung vortasten lässt, bevor sie sich Gruppe für Gruppe crescendierend mit revolutionärem Elan in den Jubeltaumel stürzen. Und doch: bei aller Bewegung und loderndem Feuer wirkt alles stets kontrolliert, die Musik klingt zwar aufregend, ist aber nicht aufgeregt, sie „schwitzt“ trotz Hitze der Interpretation nicht. Gefühl und Verstand in harmonischem Ausgleich.
Aus der Fülle seiner Einspielungen, von denen mittlerweile durch die Auswertung der Back-Kataloge wieder viele zugänglich sind (insbesondere in der Universal-„Originals“-Serie), seien stellvertretend folgende Aufnahmen genannt:
- Berlioz, "La Damnation de Faust"
Eine Interpretation aus Feuer und Eis mit einem sich bei den Höhepunkten angemessen hysterisch überschlagenden Orchester und der gewissen Portion Vulgarität etwa im „Ungarischen Marsch“, durch den dieser die nötige Abgeschmacktheit bekommt.
- Haydn, "Die Schöpfung"
Eine erklärte Lieblingsaufnahme Markevitchs mit den Berliner Philharmonikern, strahlend schön in ihrer subtilen und schlichten Gradlinigkeit.
- Strawinsky- und Prokofiev-Boxen (Philips, EMI)
Für die Philips-Box habe ich keine Abbildung gefunden!
Hier ist Markevitch sozusagen auf ureigenstem Terrain, herausragend der „Sacre“, die „Geschichte vom Soldaten“ (mit Cocteau als Erzähler und Ustinov als Teufel) und die „Psalmensymphonie“ (eine Aufnahme aus der UdSSR).
- Strawinsky: „Sacre“ (Testament, BBC)
Wer weniger investieren möchte, dem seien die auch einzeln erhältlichen „Sacre“-Aufnahmen empfohlen, insbesondere die atemberaubend harte BBC-Live-Aufnahme mit dem London Symphony Orchestra, gekoppelt u.a. mit einer „Francesca da Rimini“ von Tchaikovsky, die sich als veritable Höllenfahrt erweist.
Igor Markevitch starb am 07. März 1983 in Antibes.
Wie ich bei der Recherche für diesen Artikel feststellen konnte, ranken sich allerdings auch merkwürdige Verschwörungstheorien um die Person Igor Markevitch. Diese beziehen sich allerdings nicht auf seine eher abweisende, verschlossene Persönlichkeit oder seine langjährige Heroinabhängigkeit, sondern kreisen um die Entführung des damaligen italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro. Hinter der Entführung Moros 1978 durch die Brigate Rosse (Roten Brigaden) vermuten einige (linke) Journalisten einen Coup westlicher Geheimdienste, die den aus ihrer Sicht politisch unbequemen Moro aus dem Weg räumen wollten, weil diese im sog. "Historischen Kompromiss" der Christdemokraten Moros mit den italienischen Eurokommunisten unter Berlinguer ein Abrücken Italiens aus der westlichen Allianz in Richtung Neutralität befürchteten. Markevitch, der in erster Ehe mit der Tochter Nijinskys, in zweiter Ehe mit einer Prinzessin aus der einflussreichen Adelsfamilie der Caetani verheiratet war (woraus ein Sohn, der Dirigent Oleg Caetani, hervorging), soll danach seit seiner Zeit in der italienischen Widerstandsbewegung beste Kontakte zum britischen Geheimdienst unterhalten und die Sache des „Westens“ unterstützt haben. Die Rolle Markevitchs, die ihm in diversen Theorien zugeschrieben wird, ist widersprüchlich. Mal wird er als organisatorischer Kopf der Entführung bezeichnet, in dessen Haus Moro versteckt und ermordet wurde, mal als Verhandler mit den Roten Brigaden im Auftrag der italienischen Regierung, da er aufgrund seiner bewiesenen antifaschistischen Gesinnung auch auf Seiten der Linken Ansehen genoss. Ganz verrückt wird es dann bei den Theorien, welche Markevitch als hohen Würdenträger der Rosenkreuzer oder als Großmeister der „Bruderschaft vom Berg Sion“ (bekannt durch den unsäglichen Bestseller „Sakrileg“) entlarvt haben wollen. Wie gesagt, alles nur ziemlich abstruse Verschwörungstheorien, die ich mir natürlich nicht zu eigen mache.
Viele wichtiger ist der Musiker Markevitch und seine akustische Hinterlassenschaft. Wie schätzt ihr die Bedeutung Markevitchs und die Qualität seiner Aufnahmen ein? Welche gefallen Euch, welche gefallen Euch nicht (falls es solche Aufnahmen überhaupt gibt )?
GiselherHH