Die Bachkantate (054): BWV54: Widerstehe doch der Sünde

  • Wie schon im Rahmen der Vorstellung der Kantaten zum Sonntag Estomihi erwähnt, hatte in Leipzig während der Passionszeit die Figuralmusik in den Kirchen zu schweigen. Bach hatte somit genügend Zeit, sich den äußerst anspruchsvollen Kompositionen seiner Passionsmusiken für den Karfreitag zu widmen - ein für die gesamte Musikwelt sehr praktischer Umstand also. Denn wer weiß, wieviel Zeit Bach für die Komposition beispielweise einer Matthäus-Passion geblieben wäre, wenn er während der gesamten Passionszeit den gewohnten sonntäglichen Kantaten-Kompositionsrhythmus hätte beibehalten müssen?


    Somit stammen die wenigen Kantaten, die für Sonntage der Passionszeit entstanden sind, nicht aus Bachs Leipziger Zeit. Die Kantate für den Sonntag Oculi ist somit während Bachs Weimarer Zeit entstanden.


    Der Name des Sonntags leitet sich vom Beginn des Psalms, der im Gottesdienst des heutigen Tages vorgetragen wird, her. Es ist Vers 15 aus Psalm 25: "Meine Augen sehen stets auf den Herrn", nur eben auf lateinisch.




    BWV 54: Widerstehe doch der Sünde
    Kantate zum Sonntag Oculi (vermutlich Weimar 1714)




    Lesungen:
    Epistel: Eph. 5,1-9 (Ermahnung zu reinem Lebenswandel)
    Evangelium: Luk. 11,14-28 (Jesus vertreibt die bösen Geister nicht mit Beelzebubs Hilfe)



    Drei Sätze, Aufführungsdauer: ca. 14 Minuten


    Textdichter: Georg Christian Lehms, aus dessen Dichtung „Gottgefälliges Kirchen-Opffer“ (1711)




    Besetzung:
    Solo: Alt; Violino I/II, Viola I/II, Continuo




    1. Aria Alt, Streicher, Continuo
    Widerstehe doch der Sünde,
    Sonst ergreifet dich ihr Gift.
    Lass dich nicht den Satan blenden;
    Denn die Gottes Ehre schänden,
    Trifft ein Fluch, der tödlich ist.


    2. Recitativo Alt, Continuo
    Die Art verruchter Sünden
    Ist zwar von außen wunderschön;
    Allein man muss
    Hernach mit Kummer und Verdruss
    Viel Ungemach empfinden.
    Von außen ist sie Gold;
    Doch will man weiter geh’n,
    So zeigt sich nur ein leerer Schatten
    Und übertünchtes Grab.
    Sie ist den Sodomsäpfeln gleich,
    Und die sich mit derselben gatten,
    Gelangen nicht in Gottes Reich.
    Sie ist als wie ein scharfes Schwert,
    Das uns durch Leib und Seele fährt.


    3. Aria Alt, Streicher, Continuo
    Wer Sünde tut, der ist vom Teufel,
    Denn dieser hat sie aufgebracht.
    Doch wenn man ihren schnöden Banden
    Mit rechter Andacht widerstanden,
    Hat sie sich gleich davongemacht.




    Die Entstehung der Kantate für den Sonntag Oculi ist nicht ganz eindeutig zu belegen, jedoch spricht z. B. der Bezug der Dichtung auf die Epistel für den heutigen Sonntag und die im Evangeliumstext enthaltenen Hinweise auf Teufel und Beelzebub und deren Vertreibung für eine Komposition, die anlässlich dieses Fastensonntags entstanden ist.
    Da jedoch das Thema "Sünde", bzw. "Versuchung" ein zentrales christliches Thema darstellt, wäre natürlich auch eine andere Bestimmung dieser Kantate denkbar. Alfred Dürr vermutet u. a. den 7. Sonntag nach Trinitatis des Jahres 1714 als weiteren möglichen Entstehungsanlass, da es auch an diesem Tag in den Lesungen um die Sünde geht.


    Außerdem hatte Bach in Weimar nur alle 4 Wochen eine Kantatenkomposition anzufertigen (sonst gäbe es sicher noch einige weitere Kantaten für Fastensonntage aus seiner Weimarer Zeit) und hielt diesen Rhythmus anscheinend recht strikt ein. Die Entstehung einer Kantate zum Sonntag Oculi des Jahres 1714 passt nun anscheinend nicht in dieses 4-wöchige Schema, fällt also aus dem Rhythmus.
    Aber deshalb sehe ich keinen Grund, daran zu zweifeln, dass diese Kantate nun nicht für diesen Fastensonntag entstanden sein sollte: Es gibt so oft irgendwelche außerplanmäßigen Vor- und Zufälle, die unerwartete und unvermutete Maßnahmen erfordern, dass es ohne Weiteres sein kann, dass Bach für diese Komposition aus seinem gewohnten 4-wöchigen Kompositionsrhythmus ausscheren musste (z. B. weil ein Kollege erkrankt war) und somit für den Sonntag Oculi des Jahres 1714 eine vorher so nicht geplante Komposition schuf.


    Dafür spräche die Knappheit der Komposition: Eine nur dreiteilige Kantate, die zudem weder Chorbeteiligung und außer einem Streichensemble auch keine weiteren "Zusatzinstrumente" erfordert, sondern nur von einer einzigen Solostimme bestritten wird, ist in Bachs Kantatenschaffen eher die Ausnahme.
    Man hat aufgrunddessen auch lange angenommen, dass diese Kantate nur unvollständig überliefert wurde, bis man den zugrundeliegenden Textdruck entdeckte und feststellte, dass tatsächlich keine weiteren Sätze dieser Kantate mehr existieren konnten.


    Die hier vorliegende Satzfolge Arie-Rezitativ-Arie ist wohl so etwas wie die rudimentärste Form einer Kantate überhaupt.
    Während die Eingangsarie aus dem Gegensatz "Schönheit der Sünde" und dem erforderlichen "Widerstand" dazu lebt und zur Illustration des Textes u. a. mit einem dissonanten Einsatz beginnt, ist das Rezitativ Nr. 2 in seiner Machart wohl typisch für den jungen Bach der Weimarer Zeit zu nennen - es endet mit einem ausgeprägten Arioso.


    Nachdem nun die Passionszeit-Sonntage Invocavit und Reminiscere bereits verstrichen sind (für sie existieren keine Bach-Kantaten), steht nun die nächste Bachkantate erst wieder für den 25. März an: Das noch zur Bachzeit auch von Protestanten begangene Fest Mariae Verkündigung.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Guten Abend


    gerade gestern habe ich eine Aufnahme dieser Kantate mit Andreas Scholl unter Ph. Herreweghe gehört:



    Bach muss schon damals in Weimar einen erstklassischen Altisten in der Himmelsburg zur Verfügung gehabt haben. Die Weimarer Hofkapelle weist für diesen Zeitraum einen Christian Gerhard Bernhardi und Gottfried Blühnitz als Altisten auf.


    Gruß aus der Kurpfalz


    Bernhard

  • Hallo Bernhard,


    danke für den Tip!


    Andreas Scholl könnte ich mir als Interpret dieser Kantate für Solo-Alt wirklich sehr gut vorstellen!


    Werde ich mir mal auf meine Wunschliste setzen...

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Guten Abend


    Zitat

    Original von MarcCologne
    Andreas Scholl könnte ich mir als Interpret dieser Kantate für Solo-Alt wirklich sehr gut vorstellen!


    Werde ich mir mal auf meine Wunschliste setzen...


    Paul Esswood hat mit dem Leonhardt-Consort schon 1976



    diese schöne Kantate eingespielt, so hat man einen Interpretations- Vergleich von fast 30 Jahren zwischen Esswood und Scholl. Die Aufnahme mit A. Scholl sagt mir aber mehr zu.


    Gruß aus der Kurpfalz


    Bernhard

  • Da diese Kantate zu meinen liebsten gehört, muss ich mich auch mal nach dieser Aufnahme unter Herreweghe umhören.


    :jubel: :jubel: :jubel:

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Hallo,
    Zitat:
    Andreas Scholl könnte ich mir als Interpret dieser Kantate für Solo-Alt wirklich sehr gut vorstellen!
    ------------------------


    Er ist absolut ein Grosser seiner Fraktion, ihn kann man als Alto gerne hören, ein Spitzenkönner der auch International ein gefragter Gesangs-Solist ist.


    Grüsse
    Volker.

    Bach ist so vielfältig, sein Schatten ist ziemlich lang. Er inspirierte Musiker von Mozart bis Strawinsky. Er ist universal ,ich glaube Bach ist der Komponist der Zukunft.
    Zitat: J.E.G.

  • Es gibt eine wunderbare Einspielung dieser Kantate aus dem Jahr 1962, dirigiert und begleitet von Glenn Gould. :yes:


    Als Countertenor singt Russel Oberlin. Oberlin, geboren 1928, widmete sich nach seinem Studium an der Juilliard School of Music in New York vor allem der Alten Musik und wurde mit einer Aufnahme von Händel-Arien berühmt. Erst während seiner musikalischen Tätigkeit nach der Ausbildung wurde der Tenor zum Countertenor. Seine Berühmtheit nutzte er nicht, um Star zu werden. Schon bald gab er keine Konzerte mehr. Im Alter von 36 (!) Jahren zog er sich aus dem musikalischen leben in der Öffentlichkeit zurück und widmete sich als Professor am Hunter College in New York der Lehre und dem Unterricht.



    Leider ist diese Aufnahme der Kantate Nr. 54 nicht als CD erhältlich. Meine wiederholten Fragen nach einer (Wieder)-Veröffentlichung auf CD hat Sony bisher nicht beantwortet. :motz: :no: :motz:


    Bei YOUTUBE ist aber die Filmaufzeichnung seh- und hörbar. Einfach die Stichworte "Bach" "54" und "Gould" eingeben ...


    Freundliche Grüße von Andrew

    „Nichts auf Erden ist kräftiger, die Traurigen fröhlich, die Ausgelassenen nachdenklich, die Verzagten herzhaft, die Verwegenen bedachtsam zu machen, die Hochmütigen zur Demut zu reizen, und Neid und Hass zu mindern, als die Musik.“

  • Merkwürdig, auf wie wenige Aufnahmen sich die Taminos beschränken.


    Bei der Scholl-Aufnahme ist das kein Wunder, wird sie doch allerorten als beste dieser Kantate gepriesen. Auch ich besitze sie, und preise mit. Großartiger Gesang von A. Scholl ist hier zu hören. Einfach wunderbar.


    Mit gefällt aber auch die Esswood-Aufnahme sehr gut. Esswood hat deutlich mehr Metall in der Stimme als Scholl. Dies ausnutzend gelingt ihm insbesondere der dritte Satz - im ersten muss ich, der ich lange Jahre nur die Scholl-Aufnahme besaß, mich immer noch an den Stimmklang gewöhnen - sehr eindrucksvoll.


    Als dritte Einspielung besitze ich jene mit Leusink/Buwalda. Sie fällt gegenüber den anderen beiden deutlich ab.


    Viele Grüße an die Bachliebhaber
    Thomas

  • Zitat

    Original von ThomasNorderstedt
    Mit gefällt aber auch die Esswood-Aufnahme sehr gut. Esswood hat deutlich mehr Metall in der Stimme als Scholl. Dies ausnutzend gelingt ihm insbesondere der dritte Satz - im ersten muss ich, der ich lange Jahre nur die Scholl-Aufnahme besaß, mich immer noch an den Stimmklang gewöhnen - sehr eindrucksvoll.


    Ich will gar nicht einen Streit Scholl - Esswood beginnen, denn beide Sänger haben große Verdienste um die Musik erworben. Ich bedauere nur, daß Esswood ziemlich unbekannt geblieben ist, obwohl er ein so schönes Timbre hatte, sehr viel Volumen und ein großes Register.


    LG, Paul

  • Wenn man bereit ist, sich auf Bach mit "modernem" Instrumentarium einzulassen, fährt man mit der Einspielung von Marianne Beate Kielland exzellent, finde ich. Erschienen bei naxos.


    Ich zitiere mich einfach selbst:


    Marianne Beate Kielland singt Geistliche Solokantaten von Johann Sebastian Bach


    von Heinz Gelking


    Marianne Beate Kielland war bereits an Helmut Müller-Brühls kürzlich bei NAXOS erschienener Aufnahme der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach beteiligt (siehe: image hifi 2/2006). Wegen der insgesamt guten Besetzung der Solo-Partien (darin liegt die Stärke dieser Matthäus-Passion), fiel sie mir da aber gar nicht besonders auf.


    Mit der Aufnahme der Solo-Kantaten Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust (BWV 170), Widerstehe doch der Sünde (BWV 54), Gott soll allein mein Herze heben (BWV 169), Bekennen will ich seinen Namen (E BWV 200) und Schlage doch gewünschte Stunde (BWV 53) gibt die junge Mezzo-Sopranistin jedoch eine Visitenkarte ab, die man in Erinnerung behalten wird.


    Ihre Stimme erinnert mich an den Klang einer Alt-Blockflöte: Die Höhe leuchtet gedeckt und innig, im mittleren Tonbereich klingt sie ungewöhnlich warm, da hat sie die schönste Farbe, und dort verfügt Marianne Beate Kielland über das größte dynamische Differenzierungsvermögen und die feinste Ausdruckspalette. Sie bezeichnet sich selbst als Mezzo-Sopranistin (http://www.kielland.no), doch sämtliche Solo-Partien dieser Kantaten schrieb Bach für die Alt-Stimme. Marianne Beate Kielland hat zweifelsohne den nötigen Stimm-Umfang, doch tief liegende Töne kommen ein wenig verhalten und klingen stärker abgedunkelt, hier trägt die Stimme der Norwegerin nicht ganz so gut, während sie sich sonst wunderschön und vollkommen anstrengungsfrei entfaltet und gegenüber dem nicht kleinen Orchester durchsetzt. Ihr Deutsch ist nahezu akzentfrei und die Einbindung des Textes ins Singen gelingt ihr, wenn auch vielleicht nicht mit brillanter Eloquenz, so doch absolut souverän. Die Textverständlichkeit ist sehr gut, was ich gerade bei Bach-Kantaten sehr wichtig finde.


    Wenn ich ihre Stimme mit einer Alt-Blockflöte vergleiche, dann möchte ich tatsächlich die damit verbundenen Assoziationen hervorrufen: Marianne Beate Kiellands Stimme hat weder ein „silbriges“ Timbre, noch die Strahlkraft einer Trompete oder welche instrumentalen Vergleiche einem zu Stimmen auch immer einfallen – der Holzton und die klar definierte Ton-Emission einer Alt-Blockflöte beschreibt den Klang für mich wirklich am besten. Ich finde ihn ungewöhnlich schön und möchte ihn fast anti-brillant nennen.


    Helmut Müller-Brühl ist bekannt dafür, einen „Dritten Weg“ zwischen der marktführenden „historisch informierten Praxis“ und jener konventionellen Bach-Interpretation der Generation Jochums, Klemperers oder Karajans zu beschreiten. Beinharte „Originalklang“-Vertreter muss man also vor dieser CD warnen: Hier wird auf modernen Streichinstrumenten gespielt, und wer in dem Punkt fundamentalistische Ansichten vertritt, der sollte die Finger von der Aufnahme lassen. Das Orchester klingt nämlich – trotz (angeblich?) historischer Bogentechnik – ein wenig pastos. Einzelne Holzblas-Instrumente sowie eine Truhenorgel mit vier Registern (von Harald Hoeren toll gespielt – ein echter Dialog-Partner für Kielland!) reichern die matten Farben des Kölner Kammerorchesters allerdings mit Vollwertkost an. Auch in der Wahl der Tempi und in der Ausführung dynamischer Kontraste setzen Müller-Brühl und das Kölner Kammerorchester eher auf Ballance und Beschaulichkeit.


    Marianne Beate Kielland fügt sich in gewisser Weise darin ein. Es gibt Momente, die sie ruhig mit vehementer deklamierendem Ausdruck singen könnte, beispielsweise eine Phrase wie Ihr Mund ist voller Ottergift (1. Rezitativ, BWV 170) oder die tatsächlich hämisch „lachenden“ Verzierungen auf Dein scharfes Strafgebot so frech verlacht (2. Aria, BWV 170) oder das apellative Widerstehe doch der Sünde (1. Arie, BWV 54). Sie singt so etwas aus, als wüsste sie genau, was an rethorischem Ausdruck und virtuoser Beweglichkeit in den figurativen Passagen von einer Interpretin da mittlerweile erwartet wird (und das kommt auch souverän), behält dabei aber stärker die musikalische Linie als das auf’s einzelne Wort bezogene Ausdrucksmoment im Blick. Man könnte auch sagen: Sie wahrt den besinnlichen Kantaten-Charakter und vermeidet das Dramatisch-Opernhafte, das sich bei heftigeren emotionalen Ausbrüchen einstellen würde. So überzeugen vor allem die betrachtenden, introspektiven Arien, die sie mit wunderbarer Ruhe und unmittelbar berührend singt. Feinste Ausdrucksnuancen in Dynamik und Farbe ihrer Stimme machen Gott soll allein mein Herze haben oder Stirb in mir, Welt und alle deine Liebe (1. und 2. Arie aus BWV 169) zu Höhepunkten dieser CD.

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Auch ich besitze die bereits von Heinz Gelking ausführliche vorgestellte CD mit Marianne Beate Kielland als Solistin.



    Bei den JPC-Hörproben kann man die Eingangsarie von BWV 54 unter Track 4 hören, die Schlussarie dann unter Track 5. Das Rezitativ in der Mitte wurde offenbar ausgespart.


    Moderne Instrumente hin- oder her – die Aufnahme gefällt mir sehr gut.


    Die Musik der ersten Arie macht einen düsteren, dissonanten Eindruck. Kein Wunder, immerhin soll das Grauen der Sünde vor Augen geführt und dazu ermahnt werden, dieser zu widerstehen. Schon im Eingangsritornell ist deutlich der chromatisch harte Gang zu hören, mit dem die Sünde versinnbildlicht wird.


    Im folgenden Rezitativ wird auf plastische Weise die äußerliche Schönheit der Sünde und ihre innere Fäulnis gegeneinandergestellt. Als „übertünchtes Grab“ wird Scheinheiligkeit und Heuchelei gebranntmarkt; das Innere ist im Gegensatz dazu hohl und trostlos. Die Sünde soll darin den „Sodomsäpfeln" gleichen. Im Bach-Textlexikon von Lucia Haselböck wird erklärt, dass es sich hierbei um die Frucht eines Strauches handelt, der in der Gegend des Roten Meeres wächst. Diese Früchte sehen äußerlich sehr lecker aus, will man sie aber öffnen, zerfallen sie zu Staub. Wenn am Ende des Rezitativs die Sünde „wie ein scharfes Schwert durch Leib und Seele fährt“, wird das durch einen plötzlich beschleunigten Generalbass verdeutlicht.


    In der die Kantate abschließenden dacapo-Arie wird zunächst wieder vor der Sünde gewarnt; dann aber folgt der Hinweis auf die „rechte Andacht“, mit deren Hilfe man die Sünden besiegen könne. Es ist eine vokal-instrumentale Fuge zu hören, deren triumphierender, siegesgewisser Charakter durch flüssige Sechzehntelbewegungen verdeutlicht wird.


    Mit Gruß von Carola

  • HÖRT !!!


    gerade in einer Woche, in der tausende von Büros von der Steuerfahndung durchsucht werden und viele Reiche zittern, trifft die kommende Oculi-Kantate von 1714 genau den Nerv unserer Zeit. Nämlich: von außen sieht mancher so Wohlhabend und Wohlgefällig-, unschuldig aus. Das Gift der Sünde ergreift oft ausgerechnet den, der es eigentlich gar nicht nötig hat!


    GELAUSCHT


    habe ich der Kantate in der unübertroffenen Rilling-Aufnahme von 1975. Interpretiert von der vollen und markanten Stimme von Julia Hamari, die kraftvoll und eindeutig in hoher und tiefer Lage die Botschaft einer Ethik verkündet, die Gott als Maß aller Dinge versteht.


    VERSTANDEN


    habe ich Bachs alte Ode als Mahnung, dass jeder von uns für sein Gerechtigkeitsempfinden und seine Moral etwas tun muss, um der Bereicherung und der Gaffgier zu widerstehen.


    Bach bleibt erstaunlich aktuell!


    Gruß


    Adamo

    Magnificat anima mea

  • „Widerstehe doch der Sünde“ gehört zu den kürzesten Kantaten Bachs. Auch der Besetzungsaufwand beschränkt sich auf das Nötigste. Außer Streichern, Basso Continuo und einem fähigen Altisten waren für die Aufführung keine weiteren Musiker erforderlich.


    Nichtsdestotrotz (oder vielleicht gerade deswegen?) handelt es sich bei BWV 54 um ein besonders prägnantes und einprägsames Werk.
    Die wahre Kunst und der wahre Künstler zeigt sich für mich gerade darin, dass dieser in der Lage ist, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln und unter Einhaltung bestehender musikalischer Regeln und Grenzen Großartiges zu schaffen.
    Auf jeden Fall muss Bach einen virtuosen Altsänger an der Hand gehabt haben. Man darf wohl generell annehmen, dass Bach als Mensch des 18. Jahrhunderts zeitlebens nicht seine Reputation aufs Spiel gesetzt hätte, indem er Werke schrieb, deren halbwegs adäquate Umsetzung komplett unrealistisch gewesen wäre.


    Obwohl Bach sich wie immer an kompositorische Regeln und Formen hielt, hat er diese oft auch gedehnt und bis an die Grenzen ausgereizt.
    Dies trifft auch auf die vorliegende Kantate vor.


    Die erste Arie beginnt bereits auf der Takt-Eins mit einem dissonanten Akkord, den man in der Jazz-Harmonielehre als alterierten Eb maj7/2/4 oder einfacher als Bb7 /Eb („Slashchord“ Bb7 über Eb) bezeichnen könnte.
    Früher muss so ein Anfangsakkord wie ein kleiner Schock gewirkt haben. Heute hingegen ist man durch die Kenntnis der Musikgeschichte ganz andere Dinge gewohnt und muss sich vielleicht ganz neu in die harmonische Welt des 17. und 18 Jahrhunderts einhören, um solche speziellen Effekte nicht nur erkennen, sondern auch -wenigstens teilweise- nachempfinden zu können.
    Im weiteren Verlauf des Orchester-Ritornells stellt man fest, dass man zunächst auf mehr dissonante Vorhalte und über einem Bass-Orgelpunkt geschichtete Akkorde trifft, als auf konsonante, „normale“ Klänge.
    Mir scheint es so, als ob die Harmonik des Orchester-Vorspiels sich zunächst standhaft einer angenehmen Auflösung verweigert (jedenfalls bis einschließlich Takt 7) und diesen Widerstand vor allem ab Takt 9 aufgibt.


    Hierzu könnte auch folgende Interpretation des Figurenmaterials passen:
    Über stoisch- widerstehenden Orgelpunkten im Bass, die in ebenso stoisch-stupiden Achtel-Wiederholungen daherkommen, entwickeln sich in der ersten und zweiten Violine die gestischen Figuren des Widerstands. Diese sind durch ihre Septintervalle besonders eindringlich und ausdrucksvoll. Dadurch, dass sie sich gegenseitig nicht „ausreden“ lassen, sondern sich schon in der Mitte der Phrase imitierend ins Wort fallen, entsteht im harmonischen Kontext zunächst das Gefühl, dass sich diese dissonante, aufeinanderschichtende Sequenz immer so weiter fortsetzen könnte.
    Ab Takt 7 scheint der Kampf der Violinen ums Wort und um die Takt-Eins ausgekämpft.
    Stattdessen fahren sie in wesentlich harmonischeren Sextparallelen fort.
    Das Widerstands-Motiv der aufbegehrenden kleinen Septime ist ebenfalls passé. Die Violinen spielen nun ausschließlich paarweise gebundene 16-tel-Sekund-Figuren, die bei Bach sehr oft im Zusammenhang mit Begriffen wie „Schlange“ oder auch „Wellen“ vorkommen.
    Wenn man bedenkt, dass die Schlange in gezeichneten Symbolen bis heute sehr oft als Kopf mit einem in Wellen geformten Körper dargestellt wird, dann kann man verstehen, weshalb es in Bachs Figurenwelt hierbei Überschneidungen geben musste.


    Die Vermutung liegt für mich also nahe, dass besonders ab Takt 7 die angenehmen klingenden Schmeicheleien der Sünde und des Teufels zu hören sind. Zwar gibt es noch den "Orgelpunkt-Widerstand" im Bass, doch widersteht dieser nur noch auf der Dominante Bb, und nicht mehr auf der sicheren Tonika Eb, wie es noch am Anfang der Arie geschah. In Takt 9 wird sogar die sonst den Bass noch mit den stoischen Achteln unterstützende Viola auch noch schwach und stimmt in die „Schlangenfiguren“ mit ein.


    Angesichts dessen muss sich das bisher noch standfeste harmonische Fundament des B.C. nun dem allgemeinen Abwärtstrend der „gefallenen“ oberen Stimmen beugen und vollzieht ab Takt 9 eine nach unten zeigende Richtungsänderung.
    Allein schon im Orchester-Vorspiel wird also der gesungene Arientext ausgelegt, vertieft und kommentiert.
    Die Botschaft scheint zu sein, dass der Widerstand gegen die Versuchungen der Sünde den Menschen vor eine unangenehm (d.h. dissonante) Zerreißprobe stellt, während die Einwilligung in die verlockende Sünde zunächst angenehm ausschaut ( Takt 7) , dann auch eine Erleichterung verschafft, (Entspannung durch aufgelöste Akkorde, s. Takt 9 ff.) danach aber eine unauffällige, doch unausweichliche Abwärtsbewegung nach sich zieht. Diese Abwärtsbewegung (die theologisch gesehen nur in der Hölle enden kann) wird hier durch schmeichelnde Verblendungen der alten Schlange begleitet, die dafür sorgen, dass der Sünder gar nicht merkt, auf was für einem Pfad er sich eigentlich befindet.


    Über dem „Geschehen“ dieses im Orchester entwickelten Figurenmaterials hört man nun die gesungenen Appelle der Altstimme.
    Die anfängliche Widerstandsfigur des Orchesters wird dabei aufgegriffen, die schlangenartigen „Teufelsfiguren“ von Takt 9 ff.jedoch nicht.
    Bei der instrumentalen Parallelstelle in Takt 23 setzt der Alt einen wunderschönen, langgezogenen Ton dagegen. Für mich kann das nichts anderes bedeuten, als ob der Widerstand gegen die Sünde oft auch einen langen Atem erfordert…
    Interessant ist vielleicht auch, dass das Widerstandsmotiv bereits die schlangenartigen paarweisen 16-tel in Sekundbewegung in seinen ersten vier Noten enthält.
    Hieran könnte man mit etwas Phantasie und Einfühlungsvermögen in Bachs theologischen Gedankenwelt erkennen, dass nach der Bibel der Mensch nach dem Sündenfall die Neigung zum Sündigen sozusagen mit in die Wiege gelegt bekommen hat, und er somit von sich aus gar nicht mehr anders kann, als früher oder später der Sünde nachzugeben. Gerade der Römerbrief beschäftigt sich ja eingehend mit diesem Thema und auch mit der Lösung des Problems.
    Trotz aller Dissonanzen ist für mich der Grundaffekt dieser Eingangsarie weniger erschreckend als eher schön lieblich und angenehm klingend – ganz so verlockend, wie viele der Sünden dem Menschen erscheinen mögen. Erst im B-Teil bekommt man eine Ahnung vom wahren Gesicht und den Konsequenzen der Sünde. In der Umgebung von Takt 44 ff. etwa erklingen die gleichen Figuren für mich irgendwie erschreckender, was durch die melodischen und harmonischen Zusammenhänge erreicht wird.
    Bei einer Aufführung der Kantate sollte man solche Dinge m.E. auch durch die instrumentale Dynamik und Tongebung erkennen können. Aus meiner Sicht wäre es z.B. auch an dieser Stelle ein Fehler, solche Dinge durch eine einförmig nivellierende Spielweise zuzukleistern.
    Man sollte sie vielmehr empfunden herausarbeiten, ohne den Hörer plakativ und platt mit der Nase „draufzustoßen“.


    Das folgende Rezitativ verstärkt den Textausdruck ebenfalls durch ohrenfällig musikalische Mittel. Man achte nur auf die melodische und harmonische Gestaltung bei „leerer Schatten“, „übertünchtes Grab“ , und auch auf das „scharfe Schwert“, dass in den hierfür bei Bach typischen Figuren in den Continuobässen erkennbar wird.


    Die abschließende Arie „Wer Sünde tut, der ist vom Teufel“ greift einen biblischen Text aus 1. Johannes 3.7 auf:


    Kindlein, niemand verführe euch! Wer die Gerechtigkeit übt, der ist gerecht, gleichwie Er gerecht ist. Wer die Sünde tut, der ist vom Teufel; denn der Teufel sündigt von Anfang an.


    (Arie: Wer Sünde tut, der ist vom Teufel,
    Denn dieser hat sie aufgebracht)


    Ebenso auch Jakobus 4.7:
    Widerstehet dem Teufel, so flieht er von euch…


    (Arie: Doch wenn man ihren schnöden Banden
    Mit rechter Andacht widerstanden,
    Hat sie sich gleich davongemacht)


    Durch den chromatischen Anfang, die widerborstigen Synkopen und die lange Melisma auf dem Wort „Teufel“ wird die schmerz (und Kreuz!) verursachende Natur der Sünde (Chromatik), die vom rebellischen Teufel (widerborstige Synkopen und die sich „schüttelnde“ Melisma) aufgebracht wurde, deutlich mit musikalischen Mitteln dargestellt.


    Einen abschließenden Choral braucht diese Kantate nicht, denn es handelt sich hier um eine besonders scharfe „Predigt in Tönen“ die es an inhaltlicher Deutlichkeit nicht fehlen lässt.


    (In Norwegen spricht man in solchen Fällen übrigens von einer „Feuer – und Schwefelpredigt“.
    Ich habe im norwegischen Fernsehen Atheisten gehört, die meinten, dass die Kirchen heute wohl voller wären, wenn solche Predigten endlich wieder zu hören wären…)


    Doch zurück zu Bach – Dieser wollte die Hörer wohl eher aufrütteln und schockieren, statt sie mit einem Choral beruhigt nach Hause zu entlassen. Ganz nebenbei hat er damit auch aus der wohl organisatorisch bedingten Abwesenheit eines 4-stimmigen Chores noch eine Tugend gemacht.


    Sicher wird durch die Kantate auch das vom Vorredner genannten Thema der Steuerhinterziehung (also des Geizes gegenüber den Mitmenschen) berührt, doch meine ich, dass Bach ausgehend von den von MarcCologne genannten Bibellesungen aus Eph. 5 Vers 1ff. auch an die immer aktuellen Verführungen fleischlicher Art dachte, gegenüber denen sich wohl die Wenigsten als immun bezeichnen können (Epheser 5.1.) :


    Hurerei aber und alle Unreinigkeit oder Geiz lasset nicht von euch gesagt werden, wie den Heiligen zusteht, ….sondern vielmehr Danksagung. Denn das sollt ihr wissen, dass kein Hurer oder Unreiner oder Geiziger, welcher ist ein Götzendiener, Erbe hat in dem Reich Christi und Gottes.


    Dafür spricht, dass vor allem die Eingangsarie trotz aller eingebauten Dissonanzen einen lieblichen Grundaffekt aufweist. Auch der Begriff des Sodomsapfels (Dank an Carola für die Erläuterungen!) geht für mich in diese sinnlich verführerische Richtung.


    Nun aber zu einigen Einspielungen dieser Kantate:


    Als Referenzen gelten für mich beide Einspielungen des Altsängers Andreas Scholl, der die Kantate sowohl unter der Leitung Herreweghes als auch Koopmans eingesungen hat.
    Dabei fällt es mir schwer, mich für oder gegen eine Version zu entscheiden. Es ist gut, wenn man beide hat, denn beide sind aus meiner Sicht sehr zu empfehlen.
    Ein Unterschied liegt jedoch in der Streicherbesetzung der Eingangsarie.
    Bei Koopman spielen solistische Streicher, bei Herreweghe ist es ein Streichorchester. Beides hat seinen Reiz, besonders auch deswegen, weil die Streicher Herreweghes auf höchstem handwerklichem und künstlerischem Niveau spielen, was ebenso für Koopmans Musiker gilt.
    Ganz bisschen mag ich die Version Koopmans mehr, weil man hier besonders schöne solistische Dinge in der Tongebung und der Vibratodosierung
    ( :hello:Hildebrandt) hören kann und mich die dynamische Gestaltung momentan hier noch ein wenig mehr überzeugt. Die verführerische Süße der Versuchung höre ich in dieser Version im Moment noch am deutlichsten.Dies gilt auch für die o.g. "Schockstelle" des B-Teils.


    Hier reden wir allerdings über Unterschiede auf allerhöchstem Niveau.
    Von „schlechter“ könnte man bei solchen hervorragenden Einspielungen also m.E. keineswegs reden.
    Scholl bietet in beiden Aufnahmen alles, was man sich von einem Sänger hier wünschen kann: ein schönes, festes Timbre, hohe Intonationssicherheit, deutliche Aussprache, musikalisch-dynamische und interpretatorische Durchdringung und noch vieles mehr.
    Eigentlich höre ich einen Altus nicht mehr so gerne als Solisten wie früher. Bei Scholl mache ich aber ob seiner großen Kunst eine bewundernde Ausnahme.


    Wer in diese Versionen vor einem eventuellen Kauf hineinhören möchte, dem kann ich folgende Tipps geben:
    "http://www.youtube.com/watch?v=nmL1a9fFTS8 ( Koopman, Arie 1,Mono)
    "http://www.youtube.com/watch?v=kmtelHGnS_I ( Koopman, Rezitativ und Schlussarie, Mono)
    "http://www.youtube.com/watch?v=Z9nNHSU3Icw (Herreweghe, Arie 1, Mono)


    Durch die TELDEC-Aufnahme mit Leonhardt/Esswood habe ich die Kantate in jungen Jahren kennen und lieben gelernt. Heute ist mir im Vergleich mit den soeben genannten Aufnahmen manches ein bisschen zu statisch und schematisch musiziert, aber schlecht finde ich diesen Klassiker auf gar keinen Fall!


    Wer möchte, kann sich hier ein eigenes, akustisches Bild machen:


    "http://www.bach-cantatas.com/MusEx/BWV54-M1-Leonhardt.mp3 (Leonhardt, Arie 1, Stereo)


    Anfangs etwas schockierend und im Verlauf der Arie dann irgendwie langweilig und relativ spannungslos empfand ich die Aufnahme Suzukis mit dem Altus Mera:


    "http://www.bach-cantatas.com/MusEx/BWV54-M1-Suzuki.mp3


    Suzuki lässt die ostinaten 8-tel besonders hämmernd spielen.
    Die Idee hat schon etwas für sich, doch finde ich es mit der Zeit eher ermüdend. Die Dynamik der Geigen scheint mir nicht so eindeutig den Prinzipien einer verstandenen Klangrede zu entsprechen, wie es bei Herreweghe und Koopman der Fall ist. So vermisse ich z.B. in Takt 7 ein dynamisches Zurückgehen, um Luft für die folgenden Schlusssequenzen zu holen. Da die teuflische Schlange mit ihren lieblich-verführerischen Bewegungen sich auch eher leise und umgarnend bewegen dürfte, finde ich es auch von daher richtig, hier mehr ein sanftes piano zu spielen.
    Bei Suzuki wird hier forte durchgespielt, was ich schon etwas schade finde. Die Aussprache seines Sängers gefällt mir auch nicht so recht, wenn es sich z.B. nach „widastehe“ anhört.


    Zufälligerweise habe ich im Netz auch noch die Version Rillings gefunden.


    Hier ist sie:
    "http://www.bach-cantatas.com/MusEx/BWV54-M1-Rilling.mp3


    Eigentlich möchte ich mich zu Non-Hips ja nicht äußern, aber um eine Bestätigung dafür zu bekommen, dass diese Einspielung von 1975 immer noch unübertroffen sei, habe ich mir die Datei dann doch angehört.
    Unter den weiter oben genannten musikalisch-rhetorisch-theologischen Aspekten kann mich diese Aufnahme kaum überzeugen. Außer der Tatsache, dass hier handwerklich sauber gespielt und gesungen wurde und dass man sich mit einer durchaus vorhandenen Inbrunst bemühte, große Phrasierungsbögen durch eine entsprechende Grobdynamik herzustellen, kann ich nicht viel mehr Positives an dieser Version finden.


    Zu kritisieren gäbe es Vieles: eine vielschichtige Artikulation ( die sogar von Bach vorgeschrieben wurde) und eine damit verbundene Detaildynamik findet so gut wie nicht statt, und die flächige Grobdynamik kleistert so ziemlich alles zu, was zum Verständnis der Klangrede hätte beitragen könnte. Die Streicherbesetzung der im Vergleich zum silbrigen Klang der Barockgeigen grob klingenden modernen Instrumente ist so massiv, dass man bei den Einsätzen der Sängerin gezwungen war, die Dynamik deutlich wie mit einem Regler herunterzufahren; für mich eine eher zweifelhafte Praxis, die den Bachschen Intentionen sowohl vom allgemeinen musikhistorischen Kontext, als auch vom Notentext her kaum entsprechen dürfte. Vielmehr erkennt man an solchen durch die Klangbalance notwendig gewordenen Manipulationen der Grobdynamik, dass die in den 70er-Jahren bei Rilling und Anhängern noch praktizierte Besetzungs- und Spielweise tatsächlich einer grundlegenden Korrektur bedurfte und schon längst in der interpretatorischen Sackgasse steckte. Der Meinung, dass diese Aufnahme immer noch unübertroffen sei, kann ich mich also wirklich nicht anschließen. Auch in Stuttgart spielt man seinen Bach heute ganz anders, als weiland noch in den 70ern. Das Timbre der Sängerin gefällt mir auch nicht so sehr, da es sich in meinen Ohren etwas angestrengt anhört.
    Aus einer den Text auslegenden Predigt in Tönen wird beim Instrumentalpart der Rillingschen Aufnahme eine vielleicht am spätromantischen Klangideal orientierte Klangfläche.
    Zwar klang die Musik Bachs auch in einer solchen Aufführung immer noch gut, was auch ein Beleg für die unglaubliche Qualität seiner Kompositionen sein mag. Wer jedoch auf der Suche nach einem tieferen Verständnis – und damit wahrscheinlich auch zu einem tieferem emotionalen Erleben- dieser Werke ist, wird irgendwann bei anderen, neueren Interpretationen landen.

    Eine davon ist sicherlich die von meinen Vorrednern schon zu recht gelobte Einspielung Müller-Brühls mit der Norwegerin Marianne Beate Kielland. Ihr Timbre gefällt auch mir ausgesprochen gut, ja es kann auch mich sehr begeistern.
    Das Orchesterspiel ist hingegen nicht so ganz mein Fall, allerdings scheint es mir für den moderaten Höreinstieg in die Welten der historisch informierten Spielweise denkbar gut geeignet zu sein. Obwohl hier auch auf modernen Instrumenten gespielt wurde, sagt mir das Ergebnis schon wesentlich mehr zu, als bei der vorher besprochenen Rilling-Aufnahme. Mehr kann ich hierzu leider nicht sagen, da die Clips bei JPC einfach zu kurz sind.


    Fazit: So schnell wird man mich wahrscheinlich nicht von meinen favorisierten Aufnahmen mit Scholl und den Ensembleleitern Koopman oder Herreweghe abbringen können, denn bei diese emotional bewegenden Einspielungen machen auf mich insgesamt auch den stimmigsten und bei weitem überzeugendsten Eindruck.


    Ich wünsche viel Freude beim Hören der Kantate und auch beim Interpretationsvergleich!


    Gruß :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)