BWV 82: Ich habe genug
Kantate zum Fest Mariae Reinigung (Leipzig, 2. Februar 1727)
Lesungen:
Epistel: Mal. 3,1-4 (Der Herr wird zu seinem Tempel kommen)
Evangelium: Luk. 2,22-32 (Darstellung Jesu im Tempel)
Fünf Sätze, Aufführungsdauer: ca. 23 Minuten
Textdichter: unbekannt
Besetzung:
Soli: Bass; Oboe (da caccia), Violino I/II, Viola, Continuo
1. Aria Bass, Oboe, Streicher, Continuo
Ich habe genug.
Ich habe den Heiland, das Hoffen der Frommen,
Auf meine begierigen Arme genommen;
Ich habe genug!
Ich hab’ ihn erblickt,
Mein Glaube hat Jesum ans Herze gedrückt;
Nun wünsch’ ich, noch heute mit Freuden
Von hinnen zu scheiden.
Ich habe genug!
2. Recitativo Bass, Continuo
Ich habe genug!
Mein Trost ist nur allein,
Dass Jesus mein und ich sein eigen möchte sein.
Im Glauben halt’ ich ihn,
Da seh’ ich auch mit Simeon
Die Freude jenes Lebens schon.
Lasst uns mit diesem Manne zieh’n!
Ach! möchte mich von meines Leibes Ketten
Der Herr erretten!
Ach! wäre doch mein Abschied hier,
Mit Freuden sagt’ ich, Welt, zu dir:
Ich habe genug!
3. Aria Bass, Oboe da caccia, Streicher, Continuo
Schlummert ein, ihr matten Augen,
Fallet sanft und selig zu!
Welt, ich bleibe nicht mehr hier,
Hab’ ich doch kein Teil an dir,
Das der Seele könnte taugen.
Hier muss ich das Elend bauen,
Aber dort, dort werd’ ich schauen
Süßen Friede, stille Ruh’.
4. Recitativo Bass, Continuo
Mein Gott! wenn kömmt das schöne: Nun!
Da ich im Friede fahren werde
Und in dem Sande kühler Erde
Und dort bei dir im Schoße ruh’n?
Der Abschied ist gemacht,
Welt, gute Nacht!
5. Aria Bass, Oboe, Streicher, Continuo
Ich freue mich auf meinen Tod,
Ach! hätt’ er sich schon eingefunden.
Da entkomm’ ich aller Not,
Die mich noch auf der Welt gebunden.
Von dieser Kantate (Grundtonart c-moll) existieren neben der Bass- (Bariton-) Fassung noch folgende Versionen:
-für Sopran (e-moll) mit Einsatz einer Traversflöte statt der angegebenen Oboe aus dem Jahr 1731
-für Mezzosopran (c-moll); wahrscheinlich ist die Singstimme der originalen Bass-Version hier nur eine Oktave höher notiert - von 1735
-für Bass (c-moll); ca. 1745-48, ohne größere Abweichungen von der Fassung von 1727
Zur theologischen Bedeutung des Festtages Mariae Reinigung verweise ich auf meine Recherchen, die ich bei BWV 83 hinterlegt habe; man kann sich den Kantatentext von BWV 82 quasi wörtlich als Gesang des Simeon vorstellen (vor allem die Arie Nr. 1!), wenn man aus der Szene im Tempel beispielsweise ein Oratorium machen wollte.
In dieser Kantate treibt der leider unbekannte Textdichter die barocke Todessehnsucht auf die Spitze (und geht auf andere Aspekte dieses Feiertages leider so gut wie gar nicht ein ) - ich finde, auch wenn man zur Barockzeit das möglicherweise etwas anders gesehen hat, eine Textaussage wie "Ich freue mich auf meinen Tod" schon ziemlich bizarr, ja geradezu respektlos dem göttlichen Schöpfer gegenüber, der dem Menschen das irdische Leben ja auch geschenkt hat. Dieses gilt dem Dichter anscheinend jedoch gar nichts im Vergleich zu den Erwartungen an das Jenseits
Der Vollständigkeit halber sollte nicht unerwähnt bleiben, dass im Originaltext statt "genug" regelmäßig "genung" steht - das kann aber doch eigentlich nur ein Druckfehler sein???
Es gab zu Bachs Zeiten ja einige Wörter, die heute veraltet sind und sich zwischenzeitlich in "modernere" Fassungen gewandelt haben, in seinen Werken aber noch regelmäßig auftauchen, wie z. B. "willt" statt "willst", aber "genung" gehört meines Wissens nicht dazu...
Im Weihnachtsoratorium habe ich beispielsweise deutlich eine Stelle vor Ohren, wo es heißt "Genug! Mein Schatz geht nicht von hier" - daher kann ich mir nicht vorstellen, dass man damals tatsächlich "genung" gesagt haben soll
Singt den irgendeiner der zahlreichen Interpreten tatsächlich "genung"?? Das dürfte ziemlich komisch klingen, weil es dem Wort ja auch klanglich einen ganz anderen, viel weicheren Abschluss gibt, als dem härteren Wortende von "genug"! Würde mich schon interessieren, wie textgetreu hier manche Interpreten vorgehen, indem sie eben nicht nur die Noten, sondern auch den Gesangstext buchstabengetreu nehmen (und damit eben auch mögliche Druckfehler.... :wacky: )
Soviel zum für mich also nicht ganz unproblematischen Text dieser Kantate. Schade auch, dass es keinen Schlusschoral gibt - irgendwie fehlt mir das am Ende einer Bachkantate - es ist für mich immer wie eine Art "Amen" am Schluss.
Aber was hat Bach musikalisch aus dieser Textvorlage für ein Meisterwerk gemacht!
Die Kantate BWV 82 ist mit Recht eine der beliebtesten aus dem bachschen Kantatenfundus geworden! Nicht zuletzt ist dies überragenden Interpreten wie Dietrich Fischer-Dieskau, Thomas Quasthoff, Klaus Mertens, oder auch einem "Klassiker" wie Hans Hotter zu verdanken!
Dazu haben wir auch schon einen Thread: Thomas Quasthoffs Bachkantaten mit einigen Einspielungsempfehlungen!
Die Beliebtheit dieser Kantate erstaunt zumindest in der Hinsicht, dass diese Solokantate ja eigentlich alles andere als typisch für eine "richtige" Bachkantate ist: Kein Chor, keine Choralstrophen, nicht einmal mehrere Solostimmen - eigentlich alles ziemlich ungewöhnlich
Mir ist bislang allerdings noch keine Einspielung bekannt, in der eine der später entstandenen Versionen für Sopran oder Mezzosopran zum Einsatz kam (und in denen die Oboe als instrumentales Gegenstück zur Gesangsstimme durch eine Traversflöte ersetzt wurde) - ich erhoffe mir daher hier einige Tipps und Empfehlungen, um diese Kantate mal im ganz anderen, quasi "weiblichen" Gewand erleben zu können
Die Stimmung in diesen Versionen stelle ich mir deutlich heller vor - nicht nur wegen der eingesetzten höheren Gesangsstimme sondern auch durch den Verzicht auf die "klagende" Oboe und deren Ersatz durch eine weicher und "milder" klingende Flötenstimme.
Die Tatsache, dass bereits mehrere Fassungen dieser Kantate zu Bachs Lebzeiten entstanden, zeigt, wie beliebt dieses Werk offensichtlich schon damals war!
Ich Euch bekannt, ob die Sopran-/ Mezzosopran-Versionen schon damals für Damen- oder doch eher für Knaben-/ Kastratenbesetzung eingerichtet wurden?