Alltagsgeräusche als Inspirationsquelle - Wahrheit oder Klischee?

  • Dialog aus dem Film "Mein Name ist Bach":


    Zitat

    Friedrich II :
    Herr Bach, ich muss ihnen gestehen, die Idee zu dem Thema, über das sie komponiert haben, kam mir, als mir die Schröpfköpfe vom Rücken abgenommen wurden.


    J.S.Bach :
    Wären wir quitt, wenn ich ihnen sagte, dass Idee zu meinem Kanon von einem scheppernden Gurkentopf kam !?


    Taugen banale Alltagsgeräusche tatsächlich als Inspirationsquelle?
    Ist das ein typisches Filmklischee?
    Oder der Versuch, das Unerklärbare zu erklären?
    Haben die Komponisten unter uns schon einmal eine solche Inspiration erfahren?
    Gibt es gar Belege (aus Briefen/Aufzeichnungen), dass die großen Meister ihre Ideen aus solch unheiligen Quellen bezogen?


    Oder, anders formuliert:
    Ist in einem Gurkentopf wirklich Musik drin?




    inspirierte Grüße vom Violoncellchen!
    :hello:

  • hallo Violoncellchen,


    so spontan würde ich mal sagen - das kommt auf die Gurken an ... aber Spaß beiseite. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass 'Alltagsgeräusche' - dieses Wort umfasst immerhin eine sehr weite Palette und kann wirklich ALLES bedeuten - bisweilen eine gewisse Melodik oder Rhythmik beinhalten, die Otto Normalverbraucher kaum zur Kenntnis nimmt, die den Künstler aber inspirieren. Meines Wissens wurde Gustav Mahler durch den Rhythmus seines über einen See schippernden Ruderbootes zum Kopfsatz seiner 7. Symphonie inspiriert. Steve Reich dient ein Gespräch zwischen älteren Leuten zur Vorlage seines Streichquartetts 'Different Trains'. Im Prinzip braucht man nur auf die Straße zu gehen - 2 unterschiedliche Autohupen können schon den Auftakt des nächsten Liedes darstellen.


    Man sieht (und hört) - alles ist möglich.

    Es wird immer weitergehn, Musik als Träger von Ideen.

    Kraftwerk

  • Zählen wir vielleicht Vogelstimmen auch zu Alltagsgeräuschen? Dann hätte Ludwig van Beethoven in der Pastoral-Sinfonie einen Kuckuck drin Szene am Bach). Vivaldi vertonte eine Distelfink ("Il Cardellino") und vom Grassi-Consort gibt's eine CD mit Namen "Imitation of the Birds".


    Aber das war vielleicht nicht ganz das Gemeinte. Smetana wurde vom Tinitus geplagt; damit sein Umfeld sich davon eine akustische Vorstellung machen kann, hebt der dritte (?) Satz seines Streichquartetts "Aus meinem Leben" mit eben jenem Ton an, der ihn täglich peinigte. Daß napoleonische Kanonendonner in Wien für Beethoven Insoirationsquelle gewesen sein soll -entweder für die dritte Sinfonie oder das Es-dur Klavierkonzert- gebe ich einfach weiter. Über einen anzunehmenden Wahrheitsgehalt mag dann jeder selbst befinden.


    Nun aber zu einem Beispiel komponierter Geräusche: Der schweizer Komponist Arthur Honnegger war fasziniert von einer Lokomotive namens "Pacific 231", die 1923 die damals immense Geschwindigkeit von 120 km/h erreichte und die für Güterzüge gebaut worden war. In seinen eigenen Worten "Das Werk geht von der sachlichen Beobachtung aus - das ruhige Atemholen der Maschine im Stillstand, die Anstrengung beim Anziehen, das allmähliche Anwachsen der Schnelligkeit -, bis sie einen lyrischen Hochstand erreicht, die Pathetik eines Zuges von 300 Tonnen, der mit 120 km pro Stunde durch die tiefe Nacht stürmt. - Der Gegenstand meiner Komposition war eine Lokomotive vom Typus Pacific Marke 231 für Gütereilzüge." Ein grandioses Werk, knapp sechs Minuten lang (aus meiner Erinnerung).


    Aaaahh, zurück zu Bach, Johann Sebastian Bach: "Schlage doch gewünschte Stunde": in diese Kantate ist das Schlagen eines Uhrwerkes hineinkomponiert (den Part übernimmt in meiner Aufnahme -ganz und gar nicht HIP- eine Celesta. Klingt aber sehr überzeugend.


    Liebe Grüße vom Thomas

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Vielleicht wäre in diesem Zusammenhang noch zu unterscheiden zwischen

    • Alltagsklängen (Vogelgezwitscher, Läuten einer Uhr, etc)
      Da ist ja tatsächlich eine Melodie vorhanden, die vom Komponisten aufgegriffen, verarbeitet und variiert werden kann
    • Alltagsgeräuschen(besagter Gurkentopf, Kanonendonner, etc),
      wo die eigentliche Musik eher durch Assoziation im Kopf des Komponisten entsteht


    :hello:

  • Hallo Violoncellchen,


    zu den Geräuschen: Nun, Ludwig van Beethoven hat sie in seiner Schlachtensinfonie "Wellingtons Sieg" ziemlich original besetzt, nämlich mit Büchsen und Kanonen (auch noch fein säuberlich differenziert zwischen Briten und Franzosen), deren Einsätze im Notentexte präzise vermerkt sind. Tschaikowsky tat ein Ähnliches in seiner Ouvertüre "1812" (vorgeschrieben sind russische Glocken, bei denen der Schlegel und nicht die Glocke bewegt wird).


    Und dann wurde auch noch so ein spannedes Instrument wie die Windmaschine erfunden: Maurice Ravel setzt sie in seinem Ballett "Daphnis und Chloé" ein, Richard Strauß verwendet sie in seiner Alpensinfonie.


    Und das Puffern und Schnaufen der "Pacific 231"? Nun, das ist tasächlich für die klassischen Orchesterinstrumente komponiert.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

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  • Die ganze Bewegung der "Musique concrète" setzt ja darauf, dass Geräusche zur Musik taugen.


    Vogelstimmen sind auch bei Messiaen zu finden.


    Viele Grüße
    Arne

  • Hallo zusammen!


    In Gershwins "An American in Paris" wird der Laerm der Pariser Grossstadt - insbesondere -
    das damals (wie heute) schicke Autohupen aufgegegriffen.


    Ich glaube Stockhausen schrieb mal ein Quartett fuer vier Hubschrauber.
    Auffuehrungen waren bisher nicht sooo zahlreich :rolleyes:


    :hello:
    Wulf.

  • Zitat

    Original von Wulf
    Ich glaube Stockhausen schrieb mal ein Quartett fuer vier Hubschrauber.
    Auffuehrungen waren bisher nicht sooo zahlreich :rolleyes:


    ...vier Hubschrauber und Streichquartett. Jeder Spieler sitzt in einem der Hubschrauber. Soviel ich weiß, gab es eine Aufführung zu seinem Geburtstag.

  • Zitat

    Original von Arne
    Die ganze Bewegung der "Musique concrète" setzt ja darauf, dass Geräusche zur Musik taugen.


    Vogelstimmen sind auch bei Messiaen zu finden.


    Viele Grüße
    Arne


    ... bei ihm werden sie aber zuweilen zur Grundlage riesiger musikalischer Formen. Réveil des oiseaux für Klavier und Orchester, 1953 komponiert, besteht nur aus Transkriptionen von Vogelstimmen, und der riesige Catalogue d'oiseaux für Soloklavier bietet fast drei Stunden lang diverse französische Vögel in den Szenarien, in denen sie auch "in echt" auftauchen. Also werden die Gesänge der anderen Piepmätze musikalisch übertragen, außerdem diverse Effekte des Tages- und Nachtlichtes, Farben der Landschaft und des Meeres und zuweilen auch die Klänge der menschlichen Zivilisation, etwa bei der Leuchturmsirene in dem "bretonischen" Schlußstück (der große Brachvogel).

  • ... schön ist auch das Finale von Beethovens "Sturm"-Sonate d-moll Opus 31 Nr.2. Nach Carl Czernys Aussage soll Beethoven zu diesem Allegretto vom Hufegetrappel eines vorbeigaloppierenden Pferdes angeregt worden sein. Andererseits übertrift das poetische Bild dieses Finales diese Vorstellung. Wenn man die ganze Sonate im Licht von Shakespeares "Sturm" hört (hatte Anton Schindler recht?), bildet das Finale vielleicht die Welt des Luftgeistes Ariel ab und rein musikalisch die Synthese zwischen dem dramatischen Toben des Sonatenhauptsatzes und der entrückten Stille des Adagios. Übrigens hat das Stück eine entfernte Verwandschaft zu dem berühmten "Für Elise", oder?

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  • Vielleicht kann man Bach nicht mögen, auch wenn ich mir dies schwerst vorstellen kann, doch muss man selbst dann anerkennend und ehrfurchtsvoll sein Haupt senken, wenn man von seiner Musik spricht, die man freilich kennen muss, um sie nicht zu mögen.


    Egal in welchem Genre Bach schreibt, es ist genial.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon