Galina Ustwolskaja - die Kompromisslose

  • Zum Tod der russischen Komponistin Galina Ustwolskaja ( 1919 - 2006 )



    Ihre Musik hämmert und irritiert mit exzessiven Klangballungen. Ihr Klavier vibriert in klanglichen Sphären mit heftigen Einzeltönen oder dichten Tonballungen.
    Elementar wirkt diese Musik, als ein Aufschrei, der aus tiefster Seele kommt, einer wahrhaft verwundeten Seele. Galina Ustwolskaja stammt aus der damaligen Sowjetunion, die rastlos gearbeitet, aber das meiste in der Schublade versteckt hat – nicht nur aus Furcht vor der ästhetischen Gängelung, sondern auch aus radikalen Qualitätsvorstellungen heraus. Nur gut zwei Dutzend Werke liess sie gelten. Sie kombinierte und wählte seltsame Besetzungen wie Piccoloflöte mit Tuba und Klavier. Mit grosser satztechnischer Präzision verfasste Galina Ustwolskaja ihre Werke und doch wirken ihre Kompositionen ungeschliffen und befreiend. Ihre Werke sind religiös konnotiert, aber nicht im Stile des mystischen Minimalismus eines Arvo Pärt oder eines Henryk Gorecki.
    Spät sind diese Werke an die Öffentlichkeit gekommen. Galina Ustwolskaja, am 17. Juni 1919 in St. Petersburg geboren. Sie begann schon im Kindesalter zu komponieren. Galina Ustwolskaja schloss 1947 am dortigen Konservatorium ihr Kompositionsstudium ab: bei keinem Geringeren als Dmitri Schostakowitsch, dessen Assistentin sie wurde. Schostakowitsch, der nicht nur ihre Musik so bewunderte, dass er sie in eigenen Stücken zitierte, so in seinem fünften Streichquartett ein Thema aus ihrem 1949 komponierten „Trio“, sondern auch um ihre Hand anhielt – allerdings vergebens. Der Lehrer und Übervater war Galina Ustwolskaja, so viel liess sich ihren ganz wenigen Äusserungen entnehmen, eine schwere seelische Belastung. Über Jahrzehnte lebte sie vollkommen zurückgezogen vom Unterrichten in St. Petersburg; Aufführungen ihrer Werke gab es kaum, Reisen waren ebenso wenig möglich.
    Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kam dies schmale Werk langsam ans Licht. In Holland war es der Dirigent Reinbert de Leeuw, der sich mit dem Amsterdamer Schönberg-Ensemble ihrer kantigen, hochexpressiven Musik annahm, in Österreich der Pianist Markus Hinterhäuser, der die sechs gewaltigen Klaviersonaten aus den Jahren 1947 bis 1988 spielte und auf CD aufnahm, während das Festival Wien modern ihr 1998 einen Schwerpunkt widmete und das Ballett Basel zu Musik von Galina Ustwolskaja tanzte.
    Verstehen liess sich diese solitäre Kunst kaum; die Komponistin hat sich gegen Analysen und Deutungen ebenso verwahrt, wie sie sich der Begegnung beim Interview verweigert hat. „Ich schreibe dann, wenn ich in einen Gnadenzustand gerate“, sagte sie. „Danach ruht das Werk eine Zeitlang, und wenn seine Zeit gekommen ist, gebe ich es frei. Wenn seine Zeit nicht kommt, vernichte ich es. Nur ich selbst bestimme den Weg meiner Werke.“ Der Ausstrahlung dieser feinen, zerbrechlich wirkenden und doch so ungemein starken Frau konnte man sich allerdings nicht entziehen. Am 22. Dezember 2006 ist Galina Ustwolskaja im Alter von 87 Jahren in St. Petersburg an den Folgen eines Herzinfarkts gestorben.


    Herzliche Grüsse


    romeo&julia

  • Das Gesamtwerk dieser Komponistin dürfte auf fünf wenn nicht gar auf vier CDs passen. Zumindest das, was sie gelten ließ.
    Man kann sich den Unterschied kaum vorstellen: Auf der einen Seite schrieb sie im Einheitsstil des Sozialistischen Realismus handwerklich perfekte, aber persönlichkeits- und ausdrucksarme Stücke, auf der anderen Seite entstanden ihre eigentlichen Werke: Seltsame Gebilde mit Klängen, die man kaum je zuvor gehört hat: Kleinzellige Motive, die mit Clustern aufgeladen werden, immer wieder repetiert wie sakrale Formeln. Eine Musik, die den Schrei - oder besser: Den Ruf - kennt und die Stille, aber nichts dazwischen.
    Sie ist von den Minimalisten ebenso weit entfernt wie von der sowjetischen Tauwetter-Avantgarde. Diese Musik kommt nirgends her. Selbst wenn man sie in ihre technischen Bestandteile zerlegt, wird man zwar jeden einzelnen bei anderen Komponisten finden, aber nicht in den Zusammenhängen, in denen er von Galina Ustwolskaja gebraucht wurde.
    Während ihre ersten avantgardistischen Werke auch von den sowjetischen Kulturbehörden noch durchaus akzeptiert wurden (ihre Violinsonate wurde noch im Stalinismus als Beispiel für die mögliche Koexistenz von Sozialistischem Realismus und musikalischer Avantgarde gepriesen), wurde die Komponistin zunehmend ins Abseits gedrängt, als ihre Werke immer deutlichere religiöse Bezugspunkte aufwiesen. Schließlich breitete man in der Sowjetunion den Mantel des Schweigens über Galina Ustwolskaja - und ihr Ruhm im Westen wuchs zwar, wurde aber nie so groß, wie es diese einzigartige Komponistin verdient hätte.


    Wer sich ein Bild von Galina Ustwolskajas Musik machen will, höre ihre Zweite Symphonie, ein rund 20-minütiges einsätziges Werk für ein Orchester, das aus 6 Flöten, 6 Oboen, 6 Trompeten, 1 Posaune, Schlagzeug und Klavier besteht und eine Singstimme verwendet.
    Wobei diese Singstimme nicht singt, sondern an einigen wenigen Stellen einzelne Wörter wie "Herrgott", "Wahrheit" usw. skandiert. Dazwischen steht ein unerbittliches Ritual, in dem ein wenige Töne umfassendes Motiv immer wieder und wieder, mitunter wörtlich, mitunter leicht verändert, repetiert wird. Keine Entwicklung, keine Verarbeitung. Diese Musik bedeutet nicht, sie ist.
    Galina Ustwolskaja hat in der Neuen Musik eine völlige Außenseiterposition eingenommen, sie hat sich nirgends angebiedert und hat auf ihren schließlich eintretenden Erfolg im Grunde gar nicht reagiert. Denn für sie war es nicht ihre Leistung, sondern der Wille Gottes, der ihr ihre Musik ermöglichte. In russischen Künstlerkreisen galt sie durch diese tief empfundene und gelebte Religiosität als "Gottesnärrin" - aber dieses Wort wird mit Hochachtung, nicht mit Hohn ausgesprochen.
    Galina Ustwolskaja war für mich einer der Fixpunkte der Neuen Musik. Es trifft mich tief, daß dieser Stern erloschen ist. Aber ich bin überzeugt, daß ihre Musik auch in Zukunft immer mehr leuchten wird.


    :hello:

    ...

  • Hallo Edwin


    Wir danken Dir für Deine wertvollen Ergänzungen.


    Galina Ustwolskajas Gesamtwerk ist so klein, dass wir ihr Werkverzeichnis hier gerne noch anfügen möchten;


    Orchesterwerke


    Sinfonien und andere Orchesterwerke


    1. Junge Pioniere - Suite - 1950


    2. Sinfonietta - 1951


    3. Kinder - Suite, 1952


    4. Sinfonie Nr.1 - in 3 Sätzen nach G.Rodari für Knabenchor und Orchester, 1955, 30´


    5. Sport - Suite in 11 Sätzen, 1958, 20´


    6. Das Licht der Steppe - sinfonische Dichtung, 1958, 25´


    7. Die Ausbeutung der Jugend - sinfonische Dichtung, 1959


    8. Sinfonie Nr.2 ("Die wahre, ewige Seligkeit!") - 1979


    9. Sinfonie Nr.3 ("Jesus Messias, rette uns") - nach Hermannus Contractus für Solostimme und Orchester, 1983, 16´


    10. Sinfonie Nr.4 ("Das Gebet") - für Alt, Trompete, Tamtam und Klavier, 1985-87, 10´


    11. Sinfonie Nr.5 ("Amen") - für Erzähler, Oboe, Trompete, Tuba und Schlagzeug, 1990, 13´


    Konzert


    1. Klavierkonzert - für Klavier, Streichorchester und Pauke, 1946, 15´


    Kammermusik


    1. Streichquartett - 1945


    2. Sonatine - für Violine und Klavier, 1947


    3. Trio - für Klarinette, Violine und Klavier, 1949, 16´


    4. Oktett - für 2 Oboen, 4 Violinen, Pauken und Klavier, 1949/50, 16´


    5. Violinsonate - 1952, 20´


    6. Großes Duett - für Violoncello und Klavier, 1959, 26´


    7. Duett - für Violine und Klavier, 1964


    8. Oktett - für 2 Oboen, 4 Violinen, Pauken und Klavier, 1970


    9. Dona nobis pacem - Komposition Nr.1 für Piccoloflöte, Tuba und Klavier, 1970/71, 17´


    10. Dies irae - Komposition Nr.2 für 8 Kontrabässe, Schlagzeug und Klavier, 1972/73, 18´


    11. Benedictus, qui venit - Komposition Nr.3 für 4 Flöten, 4 Fagotte und Klavier, 1974/75, 7´



    Klavierwerke


    1. Sonate Nr.1 - 1947, 10´


    2. Sonate Nr.2 - 1949, 10´


    3. Sonate Nr.3 - 1952, 17´


    4. Zwölf Präludien - 1953, 18´


    5. Sonate Nr.4 - 1957, 12´


    6. Sonate Nr.5 - 1986, 16´


    7. Sonate Nr.6 - 1988, 7´


    Vokalinstrumentale Werke


    Singstimme und/oder Chor und Orchester


    1. Stepan Rasins Traum - nach volkstümlichen Texten für Bariton und Orchester, 1948, 20´


    2. Der Mann aus den hohen Bergen - nach N.Gleizarow für Bariton, Männerchor und Orchester, 1952


    3. Morgendämmerung über der Heimat - nach N.Gleizarow für Kinderchor und Orchester, 1952



    Leider ist ihr Werk dementsprechend gering auf dem CD-Markt vertreten oder wieder aus dem Handel genommen worden wie die bei Philips entstandene Aufnahme mit dem Dirigenten Reinbert de Leeuw. :no:


    Herzliche Grüsse


    romeo&julia

  • Allerdings gibt es einen großen Teil ihres "eigentlichen" Werks auf Megadisc, die Orchesterwerke werden dabei vom sehr guten Ural-Symphonieorchester unter Dmitri Liss interpretiert (also von jener Formation, um die bei den Rachmaninow-Konzerten ein - berechtigter - Hype entstanden ist).
    Ich empfehle zum Einstieg die CD mit den Symphonien 2-5 - entweder man verfällt dieser Musik oder man lehnt sie ab. Lauwarm kann man kaum bleiben - auch dieses Polarisieren spricht für die Größe der Ustwolskaja.


    :hello:

    ...

  • danke für die vorstellung der mir bislang unbekannt gebliebenen ... hört sich äußerst bemerkenswert und interessant an. :hello:

    --- alles ein traum? ---


    klingsor

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  • Zitat

    „Meine Werke sind zwar nicht religiös im liturgischen Sinne, aber von religiösem Geist erfüllt, und … sie würden am besten in einem Kirchenraum erklingen …”


    Galina Ustwolskaja äussert sich ungern zu ihrem eigenen Schaffen, das ich zum
    Eindrucksvollsten zähle, was an Musik aus dem 20.Jahrhundert auf uns gekommen ist. Diese Werke scheinen ohne ablesbare Grundlagen aus dem Nichts zu kommen, es handelt sich um Musik, deren ritueller Gehalt elementar
    und unerbittlich ist. Für spirituelle Attitüden, die derzeit noch immer hoch im Kurs stehen, wird hier nicht der geringste Spielraum zugelassen.


    Diese Musik mag befremden oder faszinieren, kalt lassen dürfte sie keinen !


    Unmittelbar vor seinem Tode hörte Igor Strawinski Ustwolskajas "Oktett - für 2 Oboen, 4 Violinen, Pauken und Klavier, 1970".
    Es soll aschfahl im Gesicht geworden sein und gesagt haben: "So, wie diese Musik klingt und wirkt, muss man sich den eisernen Vorhang vorstellen"!

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Hallo BBB,

    Zitat

    Diese Werke scheinen ohne ablesbare Grundlagen aus dem Nichts zu kommen,


    Das ist für mich eine der faszinierendsten Facetten dieser Komponistin: Wo kommt das her? Lediglich der reife Stil Janáceks scheint mir ähnlich aus dem Nichts zu kommen.


    Bei der Ustwolskaja stehen natürlich die Riten der russisch-orthodoxen Kirche im Hintergrund. Ich bin auch relativ sicher, daß die kurzen melodischen Phrasen, die mit Clustern angereichert werden, als Urform in den Rezitativgesängen der russisch-orthodoxen Liturgie vorgebildet sind. Ein weiterer Vorfahre dieser eigentümlichen Musik ist vielleicht auch Strawinskijs "Symphonies pour instruments à vent".


    Dennoch - wie ich oben schrieb: Einzelne Details mag man von anderen Komponisten ableiten können, aber nicht den Zusammenhang. Seltsamerweise ist das Ergebnis nämlich kein Eklektizismus, auch die Postmoderne spielt überhaupt keine Rolle. Auch die russische Avantgarde oder die die sogenannte Kiewer Avantgarde (etwa der frühe Silvestrow) haben keinen Einfluß ausgeübt.


    Wie Du sagst: Das Schaffen der Ustwolskaja gehört zu Eindrucksvollsten, was es im 20. Jahrhundert gibt.


    :hello:

    ...

  • Hallo Edwin,


    einige der "ustwolskischen Versatzstücke" finden sich z.B. in den "Stichira-Gesängen" des 17. Jahrhunderts, (Iwan Grosny war einer ihrer bedeutendsten Verfasser und Schtschedrin nutzte sie für sein gleichnamiges Orchesterwerk aus 1987.


    Auch die Gesänge der Altgläubigen dürften eine Rolle gespielt haben. Leider ist jedoch das mir bekannte Material diesbezüglich zu wenig aufschlussreich.


    Wie auch immer: das alles sind und bleiben schliesslich eher Äusserlichkeiten, die das Werk der Komponistin vielleicht ein wenig fassbarer erscheinen lassen, ihm jedoch nichts, (und darauf kommt es hier an) von seinem Geheimnis nehmen.


    Bei Janacek scheint mit der Fall doch ein wenig anders gelagert, denn auch sein Spätwerk ist ganz vom Rhythmus und Duktus seiner mährischen Muttersprache geprägt, was bis in die Parameter seiner späten Instrumentalmusik, (Orgeltoccata der "Glagolitischen Messe") und im vokalen Bereich sowieso allgegenwärtig ist.


    Für mich ist er nach Heinrich Schütz einer der größten Wort-Magier
    überhaupt und die Tendenz, sein Werk als rein musikalische Äusserung verkürzend abzutun, halte ich für mehr als fatal.

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Hallo BBB,
    die "Stichira" haben sicher einen Einfluß ausgeübt - meiner Meinung nach vor allem dadurch, ein Gesetz für die melodischen Bildungen festzulegen und diesem ohne Abweichung zu folgen. Der Gedanke, eine rein homophone Musik durch die Zuschaltung von Mixturen zu kolorieren, liegt nahe.
    Auf jeden Fall hat es die Ustwolskaja geschafft, die rituelle Kraft der Stichira in ihre eigene Sprache zu transformieren.
    (Nebenbei: Kennst Du die verblüffende Aufnahme mit den Iwan-Grosny-Stichira und dem Schtschedrin'schen Orchesterwerk?)


    Die Parallele zu Janácek sehe ich ausschließlich durch dieses Von-nirgendwo-her-Kommen. Auch Janáceks musikalische Ableitungen der Alltagssprache sind nirgends vorgebildet - und seine eigentümliche Orchesterbehandlung mit den schnell wechselnden Blöcken kleiner Ensembles ist ebenfalls völlig neu.


    :hello:

    ...

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  • Hallo Robert,
    kannst Du eventuell für einen Ustwolskaja-Einsteiger die Wirkung beschreiben, die diese CD auf Dich gemacht hat?
    Ich muß etwa für meinen Teil gestehen, daß ich etwa die Vierte Symphonie anfangs extrem unzugänglich fand (meine beiden Initialerlebnisse waren die Zweite und die Dritte).
    :hello:

    ...

  • Hallo liebe TaminoanerInnnen


    Wir kennen hauptsächlich das kammermusikalische Werk von Galina Ustwolskaja, ihr sinfonischen Werk hören wir eher selten.


    Eine Komposition die uns besonders angesprochen hat, ist das „Grand Duet für Violoncello und Klavier“.
    Anlässlich des aargauischen Boswiler Kammermusikfestivals (Schweiz) für zeitgenössische Musik im Jahre 1991 sagte Galina Ustwolskaja zur 1959 geschriebenen Komposition „Das „Grand Duet“ ist niemals Kammermusik.“ Das Stück sei zu intim für ein Kammerensemble und daher sei es ein Duett. Galina Ustwolskaja liess ihre Werke nicht katalogisieren oder analysieren.
    Der niederländische Autor Elmer Schönberger nannte Galina Ustwolskaja „Die Dame mit dem Hammer“. Dies trifft sicherlich auch auf das oben erwähnte Werk „Grand Duet“ zu. Auch hier beginnt das Klavier strickt und obsessiv in den höchsten Register zu spielen und stampft in den tiefsten Bässen. Das Violoncello scheint reduziert auf das absolut Essenzielle. Die grösste Kraft entsteht in der Interaktion der beiden Instrumente.


    Auch dieses knapp zwanzigminütige Werk reisst uns mit seiner Intensität und seiner Reduziertheit stark mit.


    Herzliche Grüsse


    romeo&julia

  • Wobei bei der Ustwolskaja die Grenzen zwischen Kammermusik und Symphonik fließend werden: Die Vierte Symphonie etwa ist für Stimme, Klavier, Trompete und Tamtam geschrieben, die fünfte für Stimme, Oboe Trompete, Tuba, Violine und Schlagzeug. Die Wirkung ist für mich allerdings so großräumig, daß ich die Bezeichnung "Symphonie" durchaus verstehe.

    ...

  • Zu der von mir oben erwähnten CD mit der Symphonie Nr. 4 bin ich über die Stadtbücherei gekommen. Weiß der Kuckuck, wie so ein Repertoire dahin gelangt ist! Jedenfalls kann ich nur dankbar sein, die CD ist schon bestellt und unterwegs.


    Ausgangspunkt meiner Neugier war die Klavier- und Kammermusik, nicht die Symphonie. Dann kam aber alles ganz anders. Das Werk überfiel mich mit einer elementaren Wucht, die ich nicht erwartet hatte. Mit fehlt hier wieder die musiktheoretische Ausbildung, um das Werk richtig analysieren zu können, aber in diesem speziellen Fall ist das womöglich gar nicht erwünscht.


    Galina Ustwolskaja hat nämlich selbst folgendes gesagt:
    “Alle diejenigen, die meine Musik wirklich lieben, bitte ich, auf eine theoretische Analyse zu verzichten...”


    Was fällt mir zur Beschreibung des Erlebnisses ein? Offenbarung. Die Musik ist einfach nur da, unwahrscheinlich intensiv und dicht, sie entwickelt sich nicht, hat kein Ziel. Sie ist für mich (ich zitiere Tarkowskij) "eine Hieroglyphe der absoluten Wahrheit" Sie soll, so der Pianist Markus Hinterhäuser in einem Interview, gesagt haben, sie komponiere in einem Zustand der Gnade.


    In einem webblog hat jemand geschrieben, ihre Musik sei "wie eine zugleich grob und doch extrem präzise behauene Skulptur aus Musik."


    Eine Skulptur, das trifft es ziemlich genau. Sie meißelt die Töne heraus, schafft etwas, das Tarkowskij in Bezug auf den Film als "versiegelte Zeit" bezeichnet hat.


    Dabei ist die Musik trotz ihrer Strenge und Fremdheit - für mich - nicht kalt und fremd. Die extremen Lautstärkeunterschiede, die Instrumentierung sind gewöhnungsbedürftig, aber erstaunlicherweise leichter zugänglich als zB Sciarrino oder auch Scelsi


    Edwin, ich kann Dir nicht sagen, ob ich über die anderen Symphonien einen leichteren Zugang gefunden hätte, denn ich kenne von diesen nur die Klangschnipsel auf den Seiten der einschlägigen Internethändler.



    Der starke religiöse und mystische Bezug der Musik ist von Ustwolskaja ausdrücklich beabsichtigt:


    “Meine Werke sind zwar nicht religiös im liturgischen Sinne, aber von religiösem Geist erfüllt, und – wie ich es empfinde – sie würden am besten in einem Kirchenraum erklingen, ohne wissenschaftliche Einführungen und Analysen. Im Konzertsaal, also in ‘weltlicher’ Umgebung, klingen sie anders...”


    Möglicherweise ist es dieser Bezug, der mir den Zugang so erleichtert hat.


    Dazu wieder Hinterhäuser: "Diese Sonate ist wie ein Kreuzweg, wie ein Kreuzgang mit verschiedenen Stationen des Leidens und auch einer Art metaphysischen Hoffnung , die immer wieder durchschimmert. Die letzte Sonate ist ein Dauerinferno, riesige Akkorde, ein Metachoral, der unglaublich laut daherkommt. Das Interessante daran ist, dass diese extreme Lautstärke zugleich eine extreme Qualität der Stille hat. Über dieser extremen Dynamik zeichnet sich ein ganz stiller Choral ab."


    Hinterhäuser weiter:
    "Wenn man Bilder einer bestimmten Periode von Malewitsch sieht, der sogenannte Suprematismus, die gegenstandslose Welt, Dinge, die überhaupt keine Assoziationen hervorrufen, die einfach nur da sind, das mag ein Grund sein, solche Musik zu schreiben. Und schlussendlich, und das ist wirklich ganz wesentlich, hat das meiner Meinung nach auch mit den Anfängen der russischen Ikonenmalerei zu tun. In der ursprünglichen Ikonenmalerei durfte ja Gott nicht dargestellt werden. Gott wurde durch Licht dargestellt, durch Spiegelungen. Diese ungeheure Lautstärke, die etwas ganz Stilles hervorruft, wie eine Spiegelung, ein Schatten von dem, was man hört."


    Durch letztere Bemerkung schließt sich der Kreis:


    Ustwolskaja meißelt aus der Stille eine gewaltige symphonische Skulptur.

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  • Edwin:


    Zitat

    (Nebenbei: Kennst Du die verblüffende Aufnahme mit den Iwan-Grosny-Stichira und dem Schtschedrin'schen Orchesterwerk?) Die Parallele zu Janácek sehe ich ausschließlich durch dieses Von-nirgendwo-her-Kommen. Auch Janáceks musikalische Ableitungen der Alltagssprache sind nirgends vorgebildet - und seine eigentümliche Orchesterbehandlung mit den schnell wechselnden Blöcken kleiner Ensembles ist ebenfalls völlig neu.


    Hallo Edwin, die von dir benannte Aufnahme begleitet mich seit ca. 15 Jahren, ich erstand sie für Pfennige auf einem Berliner Trödelmarkt ! =)


    In Janaceks Nachlass fanden sich auch die "Denkmälerbände deutscher (und österreichischer) Tonkunst und ich meine, Janacek hat in damaliger Zeit so ziemlich als Einziger verstanden, was die "Venezianischen Mehrchörigen"aber auch Hans Leo Hassler mit ihrem Musizieren in mehreren Chören meinten: Hasslers 16stimmiges "Duo Seraphim" (um 1590) mit seinen schnellen Registerwechseln
    erinnert mich durchaus an die Orchester-Arbeit des späten Janacek; hier eben halt mit zeitgemässen Mitteln und Instrumenten.


    Übrigens hat jetzt auch der KSM seinen Einstieg in die Ustwolskaja-Diskussion
    angedroht, was da, wo er den ihm unangenehmen Hauch der Spiritualität witterte, nicht wunder nimmt ! :pfeif:

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Zitat

    Original von BigBerlinBear
    Übrigens hat jetzt auch der KSM seinen Einstieg in die Ustwolskaja-Diskussion
    angedroht, was da, wo er den ihm unangenehmen Hauch der Spiritualität witterte, nicht wunder nimmt ! :pfeif:


    :hello:
    Offiziell bin ich noch nicht in dieser Diskussion :stumm:
    Aber ich habe schonmal eine sehr schöne Klaviersonate von ihr gehört, bei der ich keineswegs auch nur auf die Idee gekommen wäre, es mit "spiritueller Musik" zu tun zu haben. Damals habe ich beschlossen, sie meiner CD-Sammlung einzuverleiben. Seit ich diesen Thread hier las, nahm ich an, dass ich eines Tages hier widersprechen würde, auch als die Spiritualität noch nicht ruch- pardon riechbar war.
    :D
    Jedenfalls habe ich bei jener einmaligen Anhörung unschwer bemerken können, es mit einem stark ausgeprägten Personalstil zu tun zu haben. Wenn ich mir ihre Altersgenossen anschau: Cage, Britten, Nancarrow, Lutoslawski, Zimmermann, Xenakis - muss ich sagen, dass es in ihrer Generation nicht an Komponisten mit stark ausgeprägtem Personalstil mangelt. Es ist das eben die Generation, die noch nicht in ihrer Jugend vom Serialismus heimgesucht wurde.


    Ihre Musik ist jedem Falle eine interessante Ergänzung.

  • Hallo miteinander!


    Im Rahmen des in Berlin stattfindenden
    Ultraschall-Festivals fuer Neue Musik wird Markus Hinterhaeuser
    die Klaviersonaten Nr. 1 - 6 von Ustwolskaja interpretieren!!


    Ort: Sophienkirche
    Zeit: 17:00 Uhr


    Da es sich um Kammermusik handelt,
    betraegt der Eintrittspreis 12 EUR (ermaessigt 8 EUR).



    :hello:
    Wulf.

  • Hallo Wulf, danke für den interessanten Hinweis und du würdest mich wunschlos glücklich machen, wenn du jetzt noch das DATUM dieser Verantstaltung posten könntest ! LG BBB :hello:



    PS: Habs selber gefunden, das Konzert findet am Sa, 20.01.2007 , 17:00 Uhr statt !!!!!!!

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Aeh ja, erst hatte ich vergessen darauf hinzuweisen, dass das Konzert in Berlin stattfindet.


    Dann muss ich wohl auf die Idee gekommen sein das Datum zu loeschen und den Ort zu nennen. :wacky:


    Wuensche Dir einen schoenen Abend, BBB!


    LG
    Wulf.

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  • Keena weita hia aus Berlin Lust, die wundervollen Klaviersonaten von Ustwolskaja zu hören ? Und sowas wär beinahe mal "Kulturhauptstadt Europas" geworden !


    :motz:

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Der Raeusper-Smiley fehlt....


    Ich wuerde gerne mitkommen, werde morgen aber an meiner Examensarbeit weiter basteln,
    die knapp zur Haelfte fertig ist und derer Vollstaendigkeit bis Monatsende von mir verlangt wird.


    Da ich am So gezwungenermassen eh zu nichts kommen werde, muss ich zumindest morgen den Tag freihalten.


    Falls ich jedoch wider aller Bemuehungen gar nicht vorankomme, wuerde ich es mir noch mal ueberlegen....


    :hello:
    Wulf.

  • Meinst Du?


    Ob meine Briefboerse sich dann auch spirituell gestaerkt fuehlt?


    Hmm, na ich werd mal sehen.....


    Verlockend klingt es ja schon.....


    LG
    Wulf.

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  • Hallo Robert, leider habe ich kein Equipment, um das mitschneiden zu können.
    Schade, daß Salsiburgensis jetzt nicht in Berlin ist, der ist diesbezüglich vom Feinsten ausgerüstet ! X(

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Meinst Du, daß man evtl. am Rande des Konzerts CD von Hinterhäuser kaufen kann?


    Die Klaviersonaten von Ustvolskaja habe ich nach dem Stadtbücherei-Erlebnis schon bestellt, aber er hat auch eine Platte mit Scelsi gemacht, die mich interessieren würde.

  • Ich wäre ja auch gerne gekommen, aber gerade heute um 17 Uhr habe ich einen Termin, der auch leider nicht zu verschieben ist.


    Wie viel Zeit müsste man eigentlich einplanen für 6 Klaviersonaten?
    Die werden ja nicht in Beethovenlänge sein, nehme ich mal an.



    Gruß, Peter.

  • Zitat

    Original von BigBerlinBear
    Hallo Robert, leider habe ich kein Equipment, um das mitschneiden zu können.
    Schade, daß Salsiburgensis jetzt nicht in Berlin ist, der ist diesbezüglich vom Feinsten ausgerüstet ! X(


    Kannst mich ja mit deinem Privatjet mal eben abholen. :D Aber ob ich mit ins Konzert komme? :pfeif:


    Liebe Grüße,
    Thomas

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

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