Die Bachkantate (019): BWV190: Singet dem Herrn ein neues Lied

  • Auf diesem Wege allen Forianern ein gutes, erfolgreiches und vor allem an herrlichen musikalischen Erlebnissen reiches neues Jahr 2007!


    Wie könnte man es besser angehen lassen, als mit einer zum Neujahrstag passenden Bachkantate?




    BWV 190: Singet dem Herrn ein neues Lied
    Kantate zum Neujahrstag / Fest der Beschneidung Christi (Leipzig 1724)




    Lesungen:
    Epistel: Gal. 3,23-29 (Durch den Glauben sind wir Erben der Verheißung)
    Evangelium: Luk. 2,21 (Beschneidung und Namensgebung Jesu)



    Sieben Sätze, Aufführungsdauer: ca. 19 Minuten


    Textdichter: unbekannt (evtl. Picander?) unter Verwendung einiger Worte aus Luthers „Deutschem Tedeum“
    Choral: Johannes Herman (1591 oder 1593)


    Besetzung:
    Soli: Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Oboe I - III, Oboe d’ amore, Tromba I-III, Timpani, Violino I/II, Viola, Continuo



    1. Chor erhaltene Stimmen: SATB, Violino I/II
    Singet dem Herrn ein neues Lied; die Gemeine der Heiligen soll ihn loben!
    Lobet ihn mit Pauken und Reigen, lobet ihn mit Saiten und Pfeifen!
    Herr Gott, dich loben wir!
    Alles, was Odem hat, lobe den Herrn!
    Herr Gott, wir danken dir!
    Alleluja!


    2. Choral e Recitativo erhaltene Stimmen: SATB, Violino I/II
    Herr Gott, dich loben wir!
    Bass
    Dass du mit diesem neuen Jahr
    Uns neues Glück und Segen schenkest
    Und noch in Gnaden an uns denkest.
    Herr Gott, wir danken dir!
    Tenor
    Dass deine Gütigkeit
    In der vergang’nen Zeit
    Das ganze Land und uns’re werte Stadt
    Vor Teurung, Pestilenz und Krieg behütet hat.
    Herr Gott, dich loben wir!
    Alt
    Denn deine Vatertreu
    Hat noch kein Ende,
    Sie wird bei uns noch alle Morgen neu.
    Drum falten wir,
    Barnherz’ger Gott, dafür
    In Demut uns’re Hände
    Und sagen lebenslang
    Mit Mund und Herzen Lob und Dank.
    Herr Gott, wir danken dir!


    3. Aria Alt, Streicher, Continuo
    Lobe, Zion, deinen Gott,
    Lobe deinen Gott mit Freuden,
    Auf! erzähle dessen Ruhm,
    Der in seinem Heiligtum
    Fernerhin dich als dein Hirt
    Will auf grüner Auen weiden.


    4. Recitativo Bass, Continuo
    Es wünsche sich die Welt,
    Was Fleisch und Blute wohlgefällt;
    Nur eins, eins bitt’ ich von dem Herrn,
    Dies eine hätt’ ich gern,
    Dass Jesus, meine Freude,
    Mein treuer Hirt, mein Trost und Heil
    Und meiner Seelen bestes Teil,
    Mich als ein Schäflein seiner Wiede
    Auch dieses Jahr mit seinem Schutz umfasse
    Und nimmermehr aus seinen Armen lasse.
    Sein guter Geist,
    Der mir den Weg zum Leben weist,
    Regier und führe mich auf eb’ner Bahn,
    So fang ich dieses Jahr in Jesu Namen an.


    5. Aria Tenor, Bass, Oboe d’amore (oder Violino solo) Continuo
    Jesus soll mein alles sein,
    Jesus soll mein Anfang bleiben,
    Jesus ist mein Freudenschein,
    Jesu will ich mich verschreiben.
    Jesus hilft mir durch sein Blut,
    Jesus macht mein Ende gut.


    6. Recitativo Tenor, Streicher, Continuo
    Nun, Jesus, gebe,
    Dass mit dem neuen Jahr auch sein Gesalbter lebe;
    Er segne beides, Stamm und Zweige,
    Auf dass ihr Glück bis an die Wolken steige.
    Es segne Jesus Kirch’ und Schul’,
    Er segne alle treuen Lehrer,
    Er segne seines Wortes Hörer;
    Er segne Rat und Richterstuhl;
    Er gieß’ auch über jedes Haus
    In uns’rer Stadt die Segensquellen aus;
    Er gebe, dass auf’s neu
    Sich Fried’ und Treu
    In unser’n Grenzen küssen mögen.
    So leben wir dies ganze Jahr im Segen.


    7. Choral SATB, Oboe I-III, Tromba I-III, Timpani, Streicher, Continuo
    Lass uns das Jahr vollbringen
    Zu Lob dem Namen dein,
    Dass wir demselben singen
    In der Christen Gemein;
    Wollst uns das Leben fristen
    Durch dein allmächtig Hand.
    Erhalt deine lieben Christen
    Und unser Vaterland.
    Dein Segen zu uns wende,
    Gib Fried an allem Ende;
    Gib unverfälscht im Lande
    Dein seligmachend Wort.
    Die Heuchler mach zuschanden
    Hier und an allem Ort!



    Leider sind von den beiden Anfangssätzen dieser Kantate nur die Sing- und Violinenstimmen erhalten.
    Alfred Dürr vermutet, der Grund für die fehlenden Noten könnte darin begründet sein, dass Bach 1730 diese Kantate zur 200-Jahrfeier der Augsburgischen Konfession wiederverwendete (deren Notenmaterial allerdings nicht erhalten geblieben ist) und im Zuge der Umarbeitung das Notenmaterial der ersten beiden Sätze (das sicherlich hierfür zu Rate gezogen wurde) "auf der Strecke" geblieben ist....


    Besonders bedauerlich ist dies im Fall des beeindruckenden Eingangssatzes, der sich in seiner Mischung aus Bibelwort (3 Verse aus Psalm 149 und 150) und dem Anfang von Luthers "Deutschem Tedeum" besonders prächtig und abwechslungsreich darstellt. Bach wechselt zwischen mottetischen, kraftvoll einstimmigen (im Tedeum) und fugierenden Teilen ("Alles, was Odem hat") und es ist ein Jammer, dass die übrigen Instrumentenstimmen dieses Chores fehlen, die (der Besetzung des Schlusschorals zufolge) wohl zusätzlich aus den 3 Trompeten, Pauken (auf die wird im Psalmtext ja sogar wörtlich Bezug genommen!), 3 Oboen und dem Continuo bestanden haben dürften. :(


    Immerhin sind die beiden Sätze nicht komplett verloren (das wäre noch viel schlimmer!) und somit lassen sich die fehlenden Stimmen wieder ergänzen.


    Dürr erwähnt den Versuch der Rekonstruktion der Instrumentation von Walther Reinhart, die im Rahmen der Neuausgabe der Kantate erfolgte und verschweigt auch nicht, dass dieser Versuch (erwartungsgemäß wie alle Rekonstruktionen) umstritten ist, immerhin der musizierenden Praxis diese Kantate wiedergegeben hat.


    Vielleicht kennt der einer oder die andere von Euch mittlerweile einige andere Rekonstruktionen, die ihm oder ihr in Aufnahmen und Konzerten begegnet sind?
    Würde mich interessieren, hier etwas über Alternativen zu erfahren... :hello:


    Die Kantate endet mit einer Strophe des ungewöhnlich langen Neujahrschorals von Johannes Herman, der von Bach in mehreren seiner Neujahrskantaten verwendet worden ist.


    Schön finde ich die Formulierung der ganzen Wünsche für das neue Jahr, da wird an die treuen Lehrer, Kirche, Schule, Rat und Richterstuhl und alle Häuser der Stadt gedacht - es gibt der Kantate irgendwie etwas rührend anheimelnd-familiäres.
    In Satz 2 wird sogar an die Abwehr einer drohenden Teurung gedacht, die auf dieselbe Stufe gestellt wird mit Pestilenz und Krieg... interessanter Vergleich (es lebe die ab heute erhöhte Mehrwertsteuer :wacky: :wacky: - irgendwie ändert sich in 280 Jahren nicht allzu viel :rolleyes: )


    Ich stelle mir vor, wie die Leipziger Gemeinde da am Neujahrsmorgen des Jahres 1724 in der Thomaskirche sitzt und diesen frommen, in Musik gegossenen Wünschen lauscht und sich beim besten Willen nicht vorstellen kann, dass selbige fast 300 (!) Jahre später noch immer erklingen - weltweit aufgeführt, bewundert und verehrt...
    Jedem, dem man das damals erzählt hätte - er hätte einen für komplett irre gehalten :wacky: ;)

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Hallo zusammen.


    Ich besitze von diese Kantate follgende Aufnahmen, alle vollständig und somit rekonstruiert:


    1. Helmuth Rilling , Rekonstruktion Olivier Alain, Gächinger Kantorei, Bach Collegium Stuttgart


    2. Ton Koopman, Rekonstruktion Ton Koopman, Amsterdam Baroque Orchestra & Choir


    3. Masaaki Suzuki , Rekonstruktion des 1. Satzes Masato Suzuki, Rekonstruktion des 2. Satzes Masaaki Suzuki, Bach Collegium Japan


    4. Hans Thamm, Rekonstruktion vermutlich Walter Reinhart, Windsbacher Knabenchor,


    Die Reihenfolge der Nennung sagt nichts über meine Präferenzen aus.


    Ich möchte versuchen, die Interpretationen in nächster Zeit zu vergleichen, habe es heute aber nicht mehr ganz geschafft. Nur noch soviel: Alle Rekonstruktionen des 1. Satzes klingen anders, keine ist identisch.


    ciao und noch einen schönen Abend


    Andreas

    Johann Sebastian Bach ist Anfang und Ende aller Musik (Max Reger)

  • Hallo Andreas,


    das ist ja fabelhaft :jubel: genau auf so etwas hatte ich gehofft:


    Mittlerweile gibt es zahlreiche neue Rekonstruktionsversuche der ersten beiden Sätze (und dann klingen sie auch noch alle anders!) - ich hätte gar nicht gedacht, dss es so viele verschiedene sind....


    Anscheinend ist der von Herrn Dürr erwähnte Versuch Walther Reinharts, der wohl im Zusammenhang mit der ersten neuzeitlichen gedruckten Ausgabe der Kantate entstand (in den 1950er Jahren?), tatsächlich nicht das Nonplusultra gewesen, wie es ja schon angedeutet wurde.
    Das hat dann wohl gleich mehrere Neu-Rekonstrukteure auf den Plan gerufen ;)


    Daher bin ich wirklich sehr gespannt auf weitere Details in diesem Zusammenhang!

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Ich hörte diese Kantate heute sehr oft auf den gerade erschienenen "Weihnachtskantaten" der Gardinerreihe. Volume 16. Rekonstruktionen hin oder her. Das was ich heute hörte, war eine der schönsten Bachkantaten. Besonders schön ist in der Tat der Text. Vor allen Dingen, wie bereits erwähnt, das Tenorrezitativ.



    Die beiden Rezitative (eines mit Chor) sind einfach nur wunderschön. Das andere lautet:



    Die gesamte Stimmung dieser Kantate passt zu alldem. Sie ist feierlich und birgt trotzdem die gesamte Anmut dessen, was in den Rezitativen gesagt wird, in sich.


    :jubel:


    Hinsichtlich der Gardineraufnahmen ist hinzuzufügen, dass diese Kantate die allerletzte der Pilgerreise war. Im verschneiten New York. Man hat ein sehr intensives Jahr hinter sich (davon kann man ausgehen, wenn man alle Kantaten aufgenommen und aufgeführt hat) und bietet diese Kantate dar. Und es ist großartig gelungen.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon