• Zitat

    Vielmehr sollte ich folgendes Experiment einmal wagen. Ich begebe mich zurück in jene Unbefangenheit, die wir alle als Kinder einmal gehabt haben: mit weit geöffnetem Mund („mach bitte den Mund zu!“) und weit aufgerissenen Augen etwas Unbekanntes anzustarren.
    [...]
    Jeder kennt es von Euch: sitz einmal auf einem Berggipfel und schau in diese majestätische Bergwelt hinein - nichts passiert, und doch, wie viel „passiert“ dabei in dir.
    [...]
    Beobachtet entspannt und vorurteilsfrei genau die Klanglandschaft, die sich vor euch ausbreitet, wie ein breit vor euch liegendes Feld…..ein lange liegender Ton…..ein anderer Klang hebt sich langsam heraus, hebt sich wellenförmig in die Höhe……hohe Klangfiguren steigen dazu, treten mit anderen in Dialog wie verschiedene Vogelstimmen, die rufen und andere antworten…….jetzt kommt Bewegung in die Geschichte, alles erhitzt sich, strebt hinauf……da öffnen sich gewaltige Flügel………bis sich schließlich eine Macht von unvorstellbarer Größe sich vor dir offenbart…….danach:……NICHTS……Herzklopfen………Luftholen………Atmen………und alles sinkt wieder in den ersten Ton zurück, von dem alles ausgegangen ist!


    Da die Diskussion, aus der dieser Beitrag stammt, geschlossen wurde, ich aber glaube, dass über diesen Aspekt ein problemloses Geplauder möglich ist, wage ich, einen Thread daraus zu machen.


    Habt Ihr einmal als Kind so gehört - wißt Ihr das noch?


    Ich habe mit Begeisterung Tschaikowskys 4. Symphonie gehört, vor allem die wilden Blechstellen im ersten Satz.


    Jetzt würde ich diese Musik sicher ganz anders hören (habe momentan keine Aufnahme davon).


    Ist ein aktives Zurückversetzen in das kindliche Stadium wirklich möglich? Ist es Nostalgie? Oder bringt es wieder ein unmittelbareres Erleben?


    Noch etwas fällt mir dazu ein: Viele Musik der Nachkriegsavantgarde ist analytischem Hören auch weitgehend verschlossen wie "ein Stein, in den etwas eingeritzt ist, was man nicht lesen kann" - oder wie Xenakis das umschreibt. Man ist hier auch in einen quasi-naiven Zustand versetzt und bestaunt die Klangmassen - oder womöglich nur einen lang gehaltenen Ton (Stockhausen oder La Monte Young). Oder man denkt hörend drüber nach.


    Was meint Ihr dazu - hört Ihr manchmal mit offenem Mund und ohne zergliederndes Hirn?

  • Also wenn ich's recht bedenke: ich höre nur mit (metaphorisch) offenem Mund, und das "analytische Hirn" kann ich im Rahmen seiner arg beschränkten Möglichkeiten nur reminiszierend anwenden.


    Ich höre bei Musik eigentlich gar nicht so sehr Töne, sondern lebe sehr stark in den Klängen und meinen dadurch erregten Emotionen - stricto sensu höre ich daher gar nicht Musik, sondern erlebe ihre Reflexe in meinem Inneren, es ist eine Art unbewusstes völliges Aufgehen in der Musik, das gar keine abgesonderte Wahrnehmung der Musik als solcher mehr zulässt.


    Sehr schwarmgeistig ;).


    :hello:
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Unbefangenheit ist gut, wenn Vorurteilsfreiheit und Offenheit gemeint sind. Naivität wird aber IMO sehr überschätzt.
    Ich habe als Anfänger, wie vermutlich viele, nach "schönen Stellen" gehört. Selbst Musik die ich damals schon schätzte, wie bekannte Schlachtrösser von Dvorak, Tschaikowsky, Beethoven hatten für mich seinerzeit lange relativ uninteressante Abschnitte, nämlich die ohne grandiose, mitreißende oder sonstwie schöne Stellen. Sehr viel Musik (zB Bruckner) war weitgehend langweilig wegen Mangel an solchen Stellen.


    Es mag eine Sache der Ungeduld, der unterschiedlichen Konzentrationsfähigkeit usw. sein, aber ich trauere dieser Zeit naiven Hörens auf "das Thema" oder einzelne packende Stellen nicht nach. Durch weniger Überwältigung und mehr Achten auf Strukturen, hat mein Hörvergnügen insgesamt gewiß nur gewonnen. Denn es heißt ja nicht, dass man die grandiosen Stellen nicht mehr hören würde. Aber man muß sich nicht mehr durch lange Durststrecken hangeln.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Habt Ihr einmal als Kind so gehört - wißt Ihr das noch?


    Als Kind? Du bist gut. Was meinst Du, wie froh ich bin, dass es in Opernhäusern in der Regel ziemlich dunkel ist...


    Sicher ist es etwas anderes, wenn ich mir z.B. aus Interesse zehn, zwanzig unbekannte CDs aus der Bibliothek ausleihe, um zu hören, was mir davon gefällt und wovon ich gern mehr hören möchte, aber im Normalfall höre Musik - insbesondere live - eigentlich mit dem ganzen Körper. Musik ist für mich ein Ausgleich zum Alltag, und für mich bedeutet das, dass ich im Konzertsaal oder Opernhaus am liebsten die analytische Hirnhälfte (welche war das nochmal?) ausknipse und mich einmal kräftig von den Klängen durchspülen lasse.


    Nun beschäftige ich mich beruflich allerdings nicht mit Musik und nehme an, dass ich es damit einfacher habe, die Analytikerin auszuschalten. Die meldet sich bei mir eher, wenn ich es mit einem übersetzten Libretto zu tun habe - oder mit Sängern, die Probleme mit der Aussprache haben. Jedem seine déformation professionnelle. :D

  • Zitat

    Original von Grimgerdes Schwester
    die analytische Hirnhälfte (welche war das nochmal?)


    Bei Frauen? Keine von beiden selbstverständlich! :stumm:



    :D


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

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  • Hallo Kurzstueckmeister,

    Zitat

    Ist ein aktives Zurückversetzen in das kindliche Stadium wirklich möglich? Ist es Nostalgie? Oder bringt es wieder ein unmittelbareres Erleben?


    Ich war einmal bei einer Diskussion, in der es um Abrüstung ging (wieso fällt mir das im Zusammenhang mit Marthé ein? :hahahaha: ) - und da sagte eine junge, sehr engagierte und, nebenbei bemerkt, verdammt hübsche Abrüstungsaktivistin: "Alle Atombomben gehören verschrottet und die Konstruktionspläne müssen vernichtet werden."
    Darauf meinte ein alter Herr, ebenfalls Abrüstungsbefürworter: "Das ist der Idealismus der Jugend. Aber Sie begehen einen Denkfehler: Man kann die Bomben verschrotten und die Konstruktionspläne zerstören, aber was im Hirn eines Menschen ist, können Sie nicht wieder herausziehen. Sie können das Vergessen nicht erzwingen. Deshalb kann man auch nicht vergessen machen, wie eine Atombombe gebaut wird."


    Der Satz, auf den es mir im Zusammenhang ankommt, ist: Sie können das Vergessen nicht erzwingen.
    Die Rückkehr in den Zustand einer Naivität kann ein wünschenswertes Ziel sein, sie ist aber real nicht möglich. Selbst, wenn jemand wirklich alle seine Erfahrungen und Erinnerungen ablegen und naiv hören könnte, würde er es nicht wirklich machen, denn die mit Absicht gewählte Naivität ist keine echte Naivität, sondern eine Naivität im Sinn der Mahler'schen "banalen Stellen", die eine bewußt geschriebene Banalität sind, sozusagen Banalität vom Standpunkt des besseren Geschmacks zitiert.


    :hello:

    ...

  • Im Wachzustand geling es mir bisher nicht, Musik unbefangen zu hören. Ich bin immer noch viel zu sehr damit beschäftigt, Strukturen zu erkennen bzw. überhaupt die Musik zu "verstehen".
    Es ist mir ab und zu passiert, daß ich beim Musikhören eingschlafen bin (mit Kopfhörer) --- ja, das passiert, nicht nur bei Celis Pathétique ---, wenn ich dann wieder aufgewacht bin -- bei der pathétique dann meistens beim "Time Code"10:00 :D --- , dann hatte ich schon das Gefühl, daß ich im Schlaf die Musik weitergehört habe, und zwar unbefangen.


    Bekannte von mir können das mit Meditation erreichen, ein spannendes Experiment, wie ich finde.


    Ich würde es gerne können, aber bisher hat sich kein Erfolg eingestellt.

  • Ich kann Holger nur beipflichten. Mit Meditation kann man sich in solch einen Zustand versetzen. :yes:

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon