Anton Bruckner-die "Tempofrage"

  • Hallo Forumsgemeinde,


    durch Alfreds Schließung des letzten "Marthé-Threads" ist eine Frage von klaus unbeantwortet geblieben.


    Da ich den Themenkomplex in der gestellten Frage und den nachfolgenden Ausführungen sehr interessant und diskutabel finde, erlaube ich mir einen neuen Thread zu eröffnen.


    klaus schrieb:


    Zitat

    Wie steht das Forum zu den Tempi? (der neunten Sinfonie; Anmerkung von Norbert)


    a) Aufhebung des Kopfsatz-Allegros durch Bruckner, Tempovorschrift "Misterioso"
    b) interpretatorisch verlangt dies vielleicht eine (bei aller Verehrung für LvB "Ent-Beethovenisierung" (Zitat Erwin Horn) der Interpretation - Musik, die wie ein gewaltiger gelassener Lavastrom aus sich selbst kommt und in Analogie zu Schubert eigentlich nirgends "hin will" sondern einfach "ist" - für mich durch PJM und durch Giulini und Celibidache verwirklicht
    c) wie schnell soll das Tempo des Scherzos sein, um die Harmonien wahrnehmen zu können? (s.a. Eroica)
    d) wer die Preiser-Homepage besucht hat, hat vielleicht auch die höchst interessante Aufnahme von Sigismund von Hausegger (Uraufführungsinterpret der Urtextfassung) gefunden, die im Tempo wesentlich schneller ist. Meine Frage daher: Musizieren wir heute - in den für mich schlüssigen Tempi (Peter Jan Marthe, Celibidache, Simon Rattle, Thielemann, Giulini, Fabio Luisi, Asashina) - Bruckner zu langsam oder werden wir endlich seinen Intentionen gerecht? Zur Sicherheit möchte ich auf die Briefe Bruckners an Nikisch u.a. Dirigenten verweisen, in denen er vor zu schnellen Tempi warnt. Auch die Lektüre des Finales der VIII. (v.a. Reprise und Coda) ist empfehlenswert.


    e) Sollte jemand daran interressiert sein, in welcher klanglichen Form Bruckner seine Symphonien zu Lebzeiten gehört hat - nämlich oft auf zwei Klavieren im Richard-Wagner-Verein durch seine Schüler und Freunde - so bin ich gerne bereit, eine Aufnahme der IX. (ohne Finale, die hat er natürlich nie gehört) auf zwei Klavieren zu übersenden. Die V. hat er jedoch nur auf 2 Klavieren gehört, da er der orchestralen Uraufführung aus gesundheitlichen Gründen fernbleiben musste. Allerdings könnten die Tempi für manche Forianer beinahe eine Vivisektion sein, für mich jedenfalls sind sie schlüssig.


    Des Weiteren einige Sätze von Christian Thielemann zur 5. Sinfonie: "Um Bruckner wirklich zu verstehen, muß man sich wohl erst einmal auf die Langsamkeit einlassen - seine Musik ist nicht im eigentlichen Sinne feurig. Für den Hörer von heute bedeutet das die Wiederentdeckung der Langsamkeit. Zwangsläufig findet er dann heraus, daß in dieser Langsamkeit sehr wohl ein unglaubliches Feuer ist. Allerdings lodert es unter der Oberfläche".


    Gibt es ein "richtiges Bruckner-Tempo"?
    Ist es langsamer als das, das heute idR gespielt wird?
    Wird man Bruckner eher gerecht, wenn man langsamere Tempi wählt?


    Fragen über Fragen. Die Diskussion ist eröffnet...


    Anmerkung: Es geht mir nicht ausschließlich um die 9. Sinfonie, aber sie darf gerne, angesichts der Tatsache, daß wir uns in letzter Zeit sehr intensiv mit ihr beschäftigten, im Vordergrund stehen.


    Letzte Anmerkung ;) an klaus zu Punkt e): Ich wäre durchaus interessiert...

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler



  • Wie an der obigen Argumentation ersichtlich, wird wieder mal deutlich, wie die (wenigen) überlieferten Metronomisierungen oder die Tempi einer Dirgentengeneration, die recht nahe an Bruckner dran war (wie von Hausegger) anscheinend gegenüber dem "Gefühl" (dass Bruckner gar nicht breit und monumental genug sein kann?) wenig zu zählen scheinen.


    Bei aller Problematik der lückenhaften historischen Belege, sie sprechen alle dafür, dass Bruckner heute weitgehend eher zu langsam gespielt wird
    Auch nur ein anekdotischer Beleg, aber man schaue sich doch mal an, welche Tempi Dirigenten wie Furtwängler oder der späte Klemperer, die uns z.B. bei Beethoven fast immer (zu) breit vorkommen, bei Bruckner wählen: erstaunlich flott!
    Bruckners Musik hat praktisch nie einen wirklich schnellen Puls; obendrein ist sie oft "quadratisch" (aus 4-taktern) aufgebaut. Die heute oft üblichen breiten Tempi übertreiben diesse Eigenschaften mitunter ins Maßlose, daher halte ich sie für zumindest einseitig, teils sogar kontraproduktiv. Ich will jedenfalls keine Sinfonien mit 4 langsamen Sätzen hören.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich glaube, man mißt dem absoluten Tempo nicht nur bei Bruckner eine zu große Bedeutung bei. Meiner Meinung nach ist es wichtig, das Tempo so zu wählen, daß
    1) Mikrostrukturen in einem vernünftigen Verhältnis zu Makrostrukturen stehen
    2) Zusammenhänge innerhalb der Sätze überschaubar bleiben
    3) Steigerungen wahrnehmbar verlaufen können.


    Ad 1)
    Wenn Begleitfloskeln von ihrem Gewicht her wie Hauptthemen erscheinen, weil das Tempo so langsam gewählt ist, daß die Hauptthemen kaum noch wahrnehmbar werden (wie etwa bei Marthé), stimmt etwas nicht.


    Ad 2)
    Es muß möglich sein, daß zumindest der informierte Zuhörer die Architektur eines Satzes in groben Zügen wahrnehmen kann. Wenn jedes Element für sich steht (wie es etwa beim späten Celibidache geschehen kann), stimmt etwas nicht.


    Ad 3)
    Steigerungen müssen so verlaufen, daß sie für den Zuhörer spürbar sind, und zwar spürbar nicht durch zunehmende Lautstärke, sondern durch zunehmende Intensität. Wenn sich die Steigerung nur über die Lautstärke mitteilt, weil eine Verdichtung aufgrund eines zu langsamen Tempos nicht mehr wahrnehmbar ist, stimmt etwas nicht.


    Übrigens hängen Tempi auch von den akustischen Möglichkeiten eines Ortes und den spielerischen Fähigkeiten eines Orchesters ab. Langsame Tempi mit nicht so guten Orchestern sprechen weniger gegen die Orchester als gegen die kapellmeisterlichen Fähigkeiten des Dirigenten.



    Für mich ist dabei interessant, daß der als langsam bekannte Knappertsbusch etwa eine extrem flotte Neunte Bruckner hinlegt - und ich halte sie keineswegs für übel.


    Überhaupt glaube ich, daß etwas falsch läuft, wenn man bei einem Dirigenten das Tempo bemerkt. Ganz schlimm wird's freilich, wenn man nur das Tempo bemerkt...
    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner


    Für mich ist dabei interessant, daß der als langsam bekannte Knappertsbusch etwa eine extrem flotte Neunte Bruckner hinlegt - und ich halte sie keineswegs für übel.:


    Meinst Du, eine extrem schnelle, oder eine extrem kurze? :]


    Kna hat meines Wissens, was die Neunte betrifft, eine von Bruckner nicht authorisierte Fassung (Loewe?) eingespielt, die Kürzungen und andere Eingriffe beinhaltet. Aber schön, daß sie Dir trotzdem gefällt.

  • Hallo Holger,
    Kna hat immer korrumpierte Fassungen gespielt - aber hör' Dir einmal die auf Orfeo an: Rasant, kann ich da nur sagen. Dennoch: Es wirkt nicht hastig, sondern vorwärtsdrängend.
    Ich gäbe was darum, wenn Kna die Originalfassungen aufgeführt hätte...!
    :hello:

    ...

  • Edwins durchdachten Ausführungen habe ich nichts entgegenzusetzen.


    Was soll ich aber dagegen machen: Bei Celi bekomme ich unfassbare körperliche Glücksgefühle, es schaltet meinen Intellekt aus (ich kenne die Partituren sehr gut, aber ich vergesse beim Hören mit Celi alles, mein Hirn, meine Ausbildung - habe unter anderm bei Otmar Suitner und Ervin Acel in Wien studiert) und "es musiziert mich" . Ich weiss , dass das jetzt keine rationale Argumentation ist, aber es passiert nunmal immer mit mir. Drum stehe ich auch in Tempofragen oft hinter PJM.
    Ausserdem macht es mich glücklich, jedes Detail der Partitur erleben zu können, den Bogen oder die Integralität der Themen habe ich dabei noch immer wahrnehmen können.

    "Play, man, play!" (M. Davis)
    "We play energy!" (J. Coltrane)

  • Zitat

    Original von klaus
    Edwins durchdachten Ausführungen habe ich nichts entgegenzusetzen.


    Was soll ich aber dagegen machen: Bei Celi bekomme ich unfassbare körperliche Glücksgefühle...


    Das endgültige Urteil ist immer "Gefält es Dir"? Wenn ja, GENIEßE. :yes:

  • Edwin Baumgartner


    Daher habe ich geschrieben, dass es umso komplizierter wird, je langsamer man das Tempo wählt. Es muss sehr fein ausgearbeitet und in sich differenziert sein. Das finde ich bei Celibidache bei Bruckner IX mit den Wienern. Insofern bestätigen möglicherweise Ausnahmen die vorgenannte Regel.


    Jedoch bestimmt immer das Musikstück selbst relativ das Tempo.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon