Auf der Suche nach der inneren Wirklichkeit - Allan Pettersson

  • Hallo,


    an dieser Stelle soll es um die Musik von Allen Pettersson im Allgemeinen gehen. Allerdings möchte ich die neu veröffentlichte Aufnahme seines zweiten Violinkonzertes als Einstieg wählen. Dieses Stück zeigt meines Erachtens die Emotionalität dieses Komponisten und seinen gestalterischen Radius in exemplarischer Weise.


    Das 2. Violinkonzert von Allan Pettersson, als Auftragsarbeit 1977-1978 für das Schwedische Rundfunkorchester verfasst und 1980 mit Ida Haendel und Herbert Blomstedt uraufgeführt, ist eine imaginative Reise vom Dunkel zum Licht.
    Das Stück ist etwa nach den Proportionen des Goldenen Schnitts aufgebaut, wobei der erste Teil das Dunkel verkörpert und in einem sehr frei gehandhabten c-moll ein freitonales, vielstimmig polyphon verschachteltes Gewebe aufbaut.


    Im zweiten Teil des Werkes beruhigt sich die Polyphonie, es kristallisiert sich eine neobarock anmutende Passionmusik heraus, c-moll tritt noch deutlicher in Erscheinung. Diese Episode leitet dann zum lichtvollen Schlussteil über, welcher einen Chorsatz Allan Pettersson in E-Dur zitiert. Es handelt sich um das erste Stück der 1943 - 1945 komponierten Barfotasanger.


    Der Text des Liedes illustriert die Stimmung dieses Abschnittes anschaulich und lautet in der deutschen Übersetzung:

    Gott geht über Wiesen,
    meist nur zwischen Disteln.
    Kümmerblumen auf den Wiesen,
    meist zwischen Disteln:
    Des Herren Kommen und auch sein Gehen,
    meist zwischen Disteln,
    das spüren die Blumen,
    die ihn umstehn.
    Meist zwischen Disteln.


    Gott geht über Wege,
    schmale, breite Wege -
    armer Bruder steht besorgt
    auf dem schmalen Wege.
    "Oh Herr, ein Schäflein, das lief mir fort",
    sagt der gute Hirte.
    Ja, Gott nimmt den Armen, nimmt ihn von dort
    auf die breiten Wege.



    Allan Petterson hat anläßlich der Fernsehübertragung der Uraufführung folgenden Kommentar zum Violinkonzert abgegeben:



    Mich vor eine Fernsehkamera zu setzen ist, als fordere man eine Versicherung des Urhebers. Es ist, als wollte ich versuchen, dem Werk ins Wort zu fallen. Ich weiß aber, dass der Hörer keine Vorauserklärung wünscht, die ihm die Möglichkeit nimmt, selbst einen Weg in das große Abenteuer zu finden, vorausgesetzt, es ist ein Abenteuer.
    Ein Mensch versucht, seine innere Wirklichkeit zu finden, er flieht die äußere Wirklichkeit, die vom Abbil des Menschen gesteuert wird - dem perfekten Roboter-, da wo die Idee des Menschen auf Kosten von Ideologien ausradiert wird, die sich in Menschenmord, Brudermord manifestieren - immer wieder Kain und Abel. In dieser nächtlichen Landschaft, in der Akteur und Betrachter ein und dieselbe Person sind wie in der Unwirklichkeit eines Traumes, wo Worte nicht ausgesprochen werden können, innerhalb dieses menschlichen Schutzgebietes erklingt ein Lied, gespielt von einer Geige mit edlem Ton, das die Fingerabdrücke eines Menschen trägt: eines einsamen Wesens, das vor dem drohenden äußeren Kollektiv Erlösung sucht. Der Zyniker nennt dies Eskapismus, aber der kleine Mensch, der nichts von sich glaubt und die feinen Worte nicht versteht, weiß allein, dass ihm Gefahr droht und dass es dafür keine Worte gibt. Aber die Idee vom Menschen ist nicht seine Idee - und deshalb ist sie unzerstörbar.


    Isabelle van Keulen führte im März 1999 das Werk in der revidierten, instrumentatorisch etwas gelichteten zweiten Version in Stockholm auf, gemeinsam mit dem Schwedischen Radio-Sinfonieorchester und dem Dirigenten Thomas Dausgaard. Dies ist auf folgender Aufnahme zu hören.



    Die alternative Einspielung ist die Uraufführung mit dem gleichen Orchester, Herbert Blomstedt und Ida Haendel




    Diese Aufnahme ist womöglich noch aufwühlender und impulsiver ausgefallen, und es sind auch sechs Lieder aus dem Chorzyklus Barfotasanger mit dabei. Allerdings ist hier das 55 Minuten lange Violinkonzert nicht in Tracks unterteilt, und das erschwert das Hören einzelner Abschnitte der ansonsten vorzüglich gestalteten Aufführung.

  • Na, das ist ja ein Zufall. Seit meinem Beitritt hier habe ich vor, einen Thread über Pettersson zu eröffnen, handelt es sich bei ihm wohl um einen meiner Lieblingssinfoniker. Nur die Befürchtung, dass sich ohnehin niemand hier für seine Musik interessiert, hielt mich davon ab. Schön darum, dass Du auf ihn aufmerksam machst.


    Ich hätte das Thema wahrscheinlich: "Allan Pettersson - Sinfoniker des Leidens - " oder so ähnlich genannt, womit ich andeuten will, wie ich ihn wahrnehme: als schmerzlich leidenden; allerdings nicht unvoreingenommen durch das (allerdings nur fundamentale) Wissen um seine Biographie.


    Vorab: ich liebe seine Sinfonien sehr und höre sie regelmäßig. Sie sprechen mich emotional an, verblüffen mich durch die brutale Offenheit. Und Schönheit. Aber dazu später.


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Hier im Forum gibt es meines Wissens etliche Pettersson-Freunde - jedenfalls genug, um mich sehr neugierig zu machen (als Schostakowitsch-Anhänger sollte er mir liegen) :D


    Seine Symphonien stehen mit oben auf der to-buy-Liste der nächsten Shopping-Anfall-Tranche :pfeif: - danach werde ich auch meinen Senf mit dazugeben :angel:
    Mit Wulf und Edwin solltet ihr eigentlich hier rechnen können, einige andere sollten auch noch in Betracht kommen...


    :hello:
    Stefan

    Viva la libertà!

  • Nachdem cpo den Symphonien-Zyklus vollendet hat, ist dieser jetzt bei jpc auch als Gesamtaufnahme-Box erschienen. Noch mal günstiger als die Einzelaufnahmen. Auch ich liebäugele schon.


    Gruß
    Christian

  • Zitat von Uwe Schoof

    ...Ich hätte das Thema wahrscheinlich: "Allan Pettersson - Sinfoniker des Leidens - " oder so ähnlich genannt, womit ich andeuten will, wie ich ihn wahrnehme: als schmerzlich leidenden; allerdings nicht unvoreingenommen durch das (allerdings nur fundamentale) Wissen um seine Biographie.


    Hallo Uwe,


    möchtest du hier einen Lebenslauf von Allan Pettersson schreiben, oder ist es dir lieber, wenn ich das mache (bis nächstes Wochenende)?

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  • Hallo Kulturvermittler,


    Petterssons Biographie kenne ich wirklich nur grob, könnte davon aus dem Kopf heraus nicht korrekt berichten. Ich denke, das ist bei Dir erheblich besser aufgehoben. Ich würde mich freuen.


    Gruß,


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Kulturvermittler:


    Da du ja scheinbar beide Aufnahmen des 2. Violinkonzertes besitzt: Wo liegen die Unterschiede zwischen der Handel und van Keulen-Version? Bei jpc steht "2. Fassung", ist diese 2. Fassung unterschiedlich zu der Haendel Aufnahme oder hat sie auch schon die 2. Fassung eingespielt?

  • Zitat

    Original von van Rossum
    Wo liegen die Unterschiede zwischen der Handel und van Keulen-Version?


    Mit meinen noch begrenzten Hörerfahrungen sage ich:
    Der Ablauf der Komposition ist gleich. Die Unterschiede liegen vor allem darin, dass bestimmte Sachen in der zweiten Fassung viel leichter durchhörbar sind. In der ersten Fassung ist an einzelnen Stellen diese Durchhörbarkeit gar nicht möglich. Und diese Erstfassung wurde im Januar 1980 von Ida Haendel und dem Orchester tatsächlich gespielt, von Herbert Blomstedt dirigiert und live aufgenommen. Allan Pettersson nahm anscheinend ganz kurze Zeit danach die Umarbeitung für eine revidierte Fassung in Angriff.


    In dieser Zweitfassung, die Isabelle van Keulen spielt, wird das Orchester ökonomischer behandelt, bestimmte Verdopplungen der Stimmen u.ä. scheinen wegzufallen, der Satz wirkt nicht ganz so dicht.
    Das Ergebnis: Die neuere Aufnahme (die Zweitfassung) erinnert im Ganzen an ein sinfonisch gearbeitetes Instrumentalkonzert, wie es im 19. Jh. vorgebildet wurde, etwa bei Brahms. Die ältere Aufnahme von 1980 dagegen vermittelt - bei gleichem Gesamtablauf - oft den Eindruck, dass die Solistin sich gegen eine Flut von Tönen im Orchester behaupten muss und dabei keine Chance hat.
    Die aussichtslose Arbeit des Sisyphos. Im Konzert dürfte die Ausführung der ersten Fassung an die physischen Grenzen von Spieler und Hörer gehen. Dass man die Solistin auf der CD stets hören kann, ist nicht zuletzt der Arbeit der Tonmeister zu verdanken. Wie so etwas live ohne elektronische Verstärkung aufgeführt werden kann ist mir ein Rätsel.


    Diesen Eindruck vermittelt die zweite Fassung nicht so. Dabei spielt natürlich auch die Spielweise und der Interpretation der ausführenden Musiker eine Rolle. 1980 klang die Aufführung ungeheuer engagiert, es schien den Musikern um alles zu gehen, die Hörer damals müssen ungeheuer beeindruckt gewesen sein.


    Welche Aufnahme ich bevorzuge, hängt von meiner jeweiligen Stimmung ab.


    Wenn ich die Aufnahme allerdings verschenken würde, denke ich, mit der neueren Aufnahme auf der sichereren Seite zu sein. Außerdem finde ich die Sache mit der Aufteilung in 10 Tracks bei dieser Aufnahme sehr praktisch.

  • Nachdem hier im Forum in der letzten Zeit viel über Pettersson geredet wurde, hat er natürlich auch mein Interesse geweckt.
    Und da ich noch keine Note von ihm gehört habe, frage ich die Experten, welches Werk sie mir zum Einstieg empfehlen würden.
    Solange meine Bestellung noch nicht raus ist, würde ich gerne noch eine CD raufpacken. Ist es vielleicht sinnvoll, die Sinfonien chronologisch kennenzulernen?



    Gruß, Peter.

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  • Zitat von petemonova

    ... da ich noch keine Note von ihm gehört habe, frage ich die Experten, welches Werk sie mir zum Einstieg empfehlen würden.


    Hallo, Peter!


    Probiere es doch mit dem zweiten Violinkonzert. Im Ganzen ist das wirklich sehr schön. Zu den unterschiedlichen Fassungen habe ich ja gerade einige Worte geschrieben. Wenn du lieber eine Sinfonie hättest: Die Siebte ist in Charakter und Aufbau dem Zweiten Violinkonzert am ähnlichsten, und dabei noch etwas kürzer, etwa 40 Minuten. Göran Bergendal schrieb 1994 in der Ankündigung einer Aufführung dieser Sinfonie in Dortmund:
    Als im Herbst 1968 in Stockholm die 7. Sinfonie uraufgeführt wurde, brach in Schweden eine Art Pettersson-Hysterie aus. Es fehlte nicht viel, und man hätte blau-gelbe Allan-Pettersson-Fähnchen ausgeteilt, um die Scham darüber zu verdrängen, dass es fünfzehn bis zwanzig beharrliche Komponisten-Jahre braucht und vier große Uraufführungen innerhalb eines Jahres... damit ein abweichender, nicht-radikaler, nicht-festlicher Komponist auch von denen ernst genommen werden kann, die dergleichen nicht beruflich tun. Oder wie er es selbst ausdrückt: "Er ist ein mittelalter Mann, der herumgeht und dankbar dafür ist, dass die Leute ihn nicht länger in die Fresse hauen, nachdem man es ein Leben lang auf ihn abgesehen hat." (Festival "Musik von Allan Pettersson", Programmbuch des Sekretariates für Gemeinsame Kulturarbeit in Nordrhein-Westfalen, Wuppertal, 1994)


    Wenn du mehrere Sinfonien kennen lernen möchtest, ist die chronologische Reihenfolge nicht unbedingt ratsam. Pettersson ist nicht Beethoven, die Sechzehnte Sinfonie verhält sich zur ersten nicht so wie die Hammerklaviersonate zur Opus 49.


    Zum Einstieg sind Violinkonzert Nr. 2 und siebte Sinfonie wirklich sehr gut geeignet.


    Auf der anderen Seite ist es natürlich kaufmännisch sehr günstig, alle Sinfonien für einen sehr überschaubaren Preis zu bekommen. Es ist nicht unbedingt notwendig - ich selber kenne keineswegs alle Sinfonien, und das, obwohl 1994 und 1995 das Sekretariat für Gemeinsame Kulturarbeit Wuppertal in Nordrhein-Westfalen eine umfangreiche Pettersson-Retrospektive bot - aber es ist immerhin möglich und garantiert auch sehr spannend. Und die Nr. 12, eine monumentale Chorsinfonie für rund 200 Mitwirkende bietet sogar umfangreiche Texte, in Form von neun Gedichten aus Pablo Nerudas "Canto General.



    Zu guter Letzt noch ein Link, und zwar zur siebten Sinfonie in der Aufnahme mit Leif Segerstam. Die andere Einspielung kenne ich nicht, aber Gerd Albrecht ist auch sehr gut, und die Links zum Violinkonzert Nr. 2 habe ich bereits oben angegeben.

  • Hallo Kulturvermittler und van Rossum,


    vielen Dank für eure Hinweise. Bei Bruckner rät man dem Anfänger auch zur 7. Sinfonie, weil es seine Eingängigste sein soll.
    Mit dem Violinkonzert halte ich mich noch etwas zurück, da warte ich solange, bis es auch für 8 Euro angeboten wird.
    Aber die 7. Sinfonie wird jetzt noch mit auf die Bestellung gepackt. Ich bin sehr gespannt!


    :hello:


    Gruß, Peter.

  • was ist der beste Einstieg bei Pettersson? Ich würde mir gerne etwas von ihm zulegen - dazu brauche ich eure Hilfe und Unterstützung.


    Also: Mit welcher Aufnahme bekommt man einen guten Zugang? Am besten einer der einen sanften Übergang aus meinem romantisch verklärten Musikbild kommt oder aus Prokofievs Ecke - ihr scheint Pettersson sehr zu schätzen von daher bin ich sehr offen für interessante Kaufanregungen.


    Danke für einen Tipp schon im Voraus :angel:


    :hello:

  • Hallo Opus28,


    meiner Meinung nach die 7. Symphonie: Sie enthält alle Stilmerkmale, ist aber nicht ganz so schroff wie die anderen. Es gibt sogar eine Art Melodie-Thema, das wirklich im Ohr bleibt.
    Ob Gerd Albrechts Aufnahme (cpo) wirklich Spitze ist, wage ich indessen zu bezweifeln.
    Es gibt eine hinreißende Aufnahme unter Antal Dorati und eine ebenfalls sehr interessante unter Sergiu Comissiona. Außerdem ist natürlich, wie fast immer bei Skandinavischer und Finnischer Musik des 20. Jahrhunderts, Leif Segerstam (Bis) eine erste Adresse.
    Albrecht erscheint mir zumindest gegenüber Dorati und Segerstam etwas kraftlos - ist aber vielleicht nur eine Sache meines persönlichen Geschmacks.


    :hello:

    ...

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  • Die Segerstam Aufnahme gibt es für ganz kleines Geld bei "www.eclassical.com".


    Das wird jetzt auch mein Einstieg in die "Suche nach der inneren Wirklichkeit" werden. :D

  • Ich habe gerade eben bei Segerstam zugegriffen. Die Aufnahme ist gekoppelt mit der 10. Hoffentlich ist die auch was. Ich kenne Segerstam auch schon von anderen Aufnahmen :yes:. Von daher denke ich ist das Geld gut investiert.


    Viele Dank Edwin!


    :hello:

  • Als Neueinstieg in die Petterssonschen Werke schlage ich vor, gleich in die Vollen zu gehen; damit meine ich die emotionalsten Werke dieses Komponisten. Dies würde ich nicht bezüglich jeden Komponisten so sagen, ganz im Gegenteil. Bei Pettersson sind es jedoch die besten.


    Die 6. Sinfonie (über eine Stunde) ist ein sehr intimes, traurig-schönes Werk, das Pettersson auch selber sehr geschätzt hat. Die Neunte, das ist die mit den endlosen Sekundläufen, geht dagegen richtig ab. Auch die Zwölfte, die einzige mit Chor, ist sehr typisch für Pettersson, sehr kompakt.


    Es sei noch darauf hingewiesen, dass fast alle Werke Petterssons gewaltige, große, auch lange, Kompositionen sind, die sich häufig beim mehrmaligen Hören als Einheit erschließen. Wer mal eben "was nettes" hören möchte, wird den Pettersson nach wenigen Minuten enttäuscht und entnervt abschalten.


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Zitat

    Original von Uwe Schoof
    Als Neueinstieg in die Petterssonschen Werke schlage ich vor, gleich in die Vollen zu gehen; damit meine ich die emotionalsten Werke dieses Komponisten. Dies würde ich nicht bezüglich jeden Komponisten so sagen, ganz im Gegenteil. Bei Pettersson sind es jedoch die besten.


    Die 6. Sinfonie (über eine Stunde) ist ein sehr intimes, traurig-schönes Werk, das Pettersson auch selber sehr geschätzt hat.[...]
    Es sei noch darauf hingewiesen, dass fast alle Werke Petterssons gewaltige, große, auch lange, Kompositionen sind, die sich häufig beim mehrmaligen Hören als Einheit erschließen.[...]


    Hm, ich kenne nur die 6., die mich unmittelbar sehr angesprochen hat und die ich als Einstieg somit durchaus empfehlen kann, weil hier ein sehr eigener kompromissloser und konsequenter Ansatz deutlich wird, der in der 7. nach den Beschreibungen hier wohl nicht so deutlich ist. Die Traurigkeit dieses Werks (vor allem die letzte halbe Stunde) hat mich so unmittelbar ergriffen, wie weniges, ich war tatsächlich den Tränen nahe, übertroffen wird das gerade noch von Nonos "Como una ola" was die Trostlosigkeit betrifft. Das ist denn für mich auch die große Stärke, und ein Werk, das auch noch "schöne Melodien" zusätzlich bietet, lockt mich wenig.


    Im Gegensatz zu Uwe befürchte ich, dass der starke Eindruck bei mehrmaligem Hören eher abnimmt, da diese Trauerkeule schon beim ersten Mal Pendereckilike einschlägt - nun, ich werde berichten.
    :hello:

  • Zitat

    Albrecht erscheint mir zumindest gegenüber Dorati und Segerstam etwas kraftlos - ist aber vielleicht nur eine Sache meines persönlichen Geschmacks.


    Kraftlosigkeit ist auch nach meiner Empfindung zu spüren, aber in einem vermutlich anderen Sinn. Albrecht dirigiert die Aufnahme "kraftvoll" so, dass, besonders in der ersten Hälfte, die inhaltliche Kraftlosigkeit und gar Resignation im Werk spürbar wird. Ich meine hier z.B. das Terzmotiv, das die Orchesterläufe immer wieder unterbricht und zu sagen scheint: "Aber eigentlich hat eh alles keinen Sinn".


    Dorati dirigiert dagegen schneller und sachlicher. Er lässt weniger in den resignativen Momenten verharren, sondern scheint zu sagen: "Die schlimmen Momente des Lebens sind dazu da, dass wir sie bewältigen - und weiter geht´s".


    Beide Aufnahmen sind für mich in ihrer Art der Darstellung konsequent. Ich kann keiner der beiden Aufnahmen den Vorzug geben.


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

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  • ich habe mir diese Aufnahme gerade zu Gemüte geführt:


    Ich bin beeindruckt. Und ich kann die Lobeshymnen verstehen, die in diesem Thread zu lesen sind. Auch bin ich mir bewusst, dass man solche Musik mit sehr feinfühliger Hand dirigieren muss. Ich habe zwar keine Vergleichsaufnahme, aber ich empfinde Segerstams Dirigat als sehr wohltuend und passend, was den Charakter der Musik anbetrifft. Die Feinfühligkeit macht sich besonders im Ausklang - mich würde nicht wundern wenn irgendwo im Notentext ein morendo zu finden ist - der 7. Symphonie deutlich. Eingängige Musik ist Petterssons Werk sicher nicht - die sehr explosive 11. stellt sich irgendwie auch so ganz anders dar. Es ist sicherlich ein interessanter Komponist, der hier ausgegraben wurde und mein Musikwissen - wie auch meine umfangreiche CD-Sammlung - wird sich bereichert fühlen durch Allan Petterssons Werk.
    Falls mir noch irgendwelche interessanten Dinge beim wiederholten Hören ins Ohr treffen sollten, dann werde ich nochmal Stellung beziehen.


    Lieber Edwin, vielen Dank für diese Empfehlung - sie war ein Volltreffer!


    :hello:

  • Liebe Forianer,


    als Ergänzung zu euren Beiträgen über die Sinfonien von Allan Pettersson möchte ich hier und jetzt einen Text zum Lebenslauf des Komponisten veröffentlichen, aber nicht von mir, sondern von dem schwedischen Komponisten Rolf Davidson, weil er das besser konnte und ich da nichts ergänzen möchte.



    Quelle: Rolf Davidson, Ein Sinfoniker aus Schweden, in


    Programmbuch des Festivals "Musik von Allan Pettersson" 1994/1995,
    herausgegeben vom NRW-KULTURsekretariat (Wuppertal) S. 19 - 26


    (nach Rücksprache mit dem Herausgeber)



    Gustaf Allan Pettersson wurde am 19. September 1911 in Västra Ryd,
    einem kleinen Ort nördlich von Stockholm, geboren. Schon im folgenden
    Jahr zog die Familie in die Hauptstadt, wo Allan seine Kindheit in
    einer von Armut und Alkoholsucht geprägten Umgebung zubrachte.
    Lichtblick in dieser Tristesse war für ihn die Mutter, von der er oft
    mit Wärme sprach: »Meine Musik, das ist Mutter. Ihre Stimme ist es,
    die darin spricht; ich wollte ausrufen, was sie nie hat sagen
    können.«


    In den dreissiger Jahren studierte Allan Pettersson am Konservatorium
    in Stockholm Geige und Bratsche, später auch Kontrapunkt. 1939 fand
    er eine Anstellung als Bratscher im Stockholmer Philharmonischen
    Orchester, verbrachte aber - mit Hilfe eines Jenny-Lind-Stipendiums -
    das erste Jahr mit Studien bei einem der berühmtesten Bratschisten
    seiner Zeit, bei Maurice Vieux in Paris. Zu Beginn der vierziger
    Jahre nahm er seine Kompositionsstudien in Schweden wieder auf. Seine
    Lehrer waren Karl-Birger Blomdahl und der Kirchenmusiker Otto Olsson.
    In den dreissiger Jahren entstanden Petterssons erste Kompositionen,
    sechs Lieder für Singstimme und Klavier (1935). Während der vierziger
    Jahre schrieb er seine »Barfusslieder« und andere Gedichte, von denen
    er 24 für Gesang und Klavier vertonte (1943 bis 1945). Diese Gedichte
    sprechen vor allem von seiner Kindheit und Jugend, von der Beziehung
    zu Vater und Mutter, von der Jämmerlichkeit des kleinen Menschen in
    einer unerbittlichen Gesellschaft. In Text und Musik schlagen die
    Barfußlieder einen ganz eigentümlichen, schlicht-naiven Tonfall an,
    der in der schwedischen Gesangslyrik nicht seinesgleichen hat. Die
    Barfußlieder gehören, auch in Arrangements für Chor bzw. für
    Solostimme mit Orchester, zu Petterssons meistaufgeführten Werken.


    Gegen Ende des Jahrzehnts (1949) entstand das Konzert Nr. 1
    für Violine und Streichquartett (wahlweise Streichorchester).
    1951 gab Pettersson seinen Dienst in der Philharmonie auf und
    widmete sich fortan ganz dem Komponieren. Zusammen mit
    seiner Frau Gudrun, die er 1943 geheiratet hatte, ging er zum
    zweiten Mal nach Paris, um (als Vierzigjähriger!) weiter zu stu-
    dieren. Diesmal waren seine Lehrer Arthur Honegger und René
    Leibowitz (Zwölftontechnik). Jetzt entstanden die zweite Sinfonie
    (1953, ein Auftragswerk des Schwedischen Rundfunks) sowie die dritte
    und vierte (1955 bzw. 1959), ferner das zweite und dritte
    Streicherkonzert (1956 bzw. 1957). Die zweite Sinfonie wurde 1954
    uraufgeführt. Mit einer Spielzeit von reichlich 40 Minuten bildet sie
    in Form und Struktur das Modell vor allem für die Sinfonien der
    sechziger Jahre (Nr. 5 bis 9). 1961 wurde die Sinfonie zusammen mit
    dem »Mesto«, dem ausgedehnten mittleren Satz aus dem dritten
    Streicherkonzert, vom Sinfonieorchester des Schwedischen Rundfunks
    eingespielt. Es waren Petterssons erste grosse Werke, die von der
    Schallplatte dokumentiert wurden.


    In den sechziger Jahren entstanden die Sinfonien Nr. 5 bis 9.
    Innerhalb des sinfonischen Schaffens (insgesamt 17 Sinfonien, von
    denen die erste und letzte Fragment geblieben sind) bilden diese fünf
    Werke eine strukturell einheitliche Gruppe; an ihnen lassen sich die
    Eigenheiten Petterssonschen Komponierens besonders gut darstellen.
    Die Sinfonien dauern zwischen 40 und 80 Minuten, ihre Entfaltung in
    einem einzigen, ununterbrochenen Satz und der riesige
    Orchesterapparat verleihen ihnen einen Zug ins Monumentale.
    Dazu kommen große Entwicklungslinien mit gewaltigen Crescendo und
    Diminuendi und ausgedehnten Ostinato-Strecken. Dichte
    Intervallstrukturen, oft Sekunden, steigern die Intensität des
    Orchesterklangs.


    Die Mehrzahl der Sinfonien ist gekennzeichnet durch äusserst
    ökonomischen Umgang mit dem motivischen Ausgangsmaterial. In dieser
    Hinsicht lässt sich Pettersson mit Beethoven vergleichen. Er geht
    häufig von einem kurzen Motiv aus, einer chromatischen Tonfolge oder
    einer charakteristischen Intervallstruktur, die er dann konsequent
    und fast mit der Akribie serieller Musik entwickelt. Solche
    »Keimzellen« können für Motive mit ganz unterschiedlichen Konturen
    verwendet werden. Gelegentlich erscheinen sie als eine Art Leitmotiv
    mit je nach dem musikalischen Zusammenhang unterschiedlicher
    Funktion. Oft ist diese motivische Detailarbeit für den Hörer
    freilich nicht unmittelbar wahrnehmbar, erschliesst sie sich erst der
    näheren analytischen Betrachtung.


    Pettersson hat eine Vorliebe für Dissonanzspannungen, gewaltige
    Ausbrüche, für die Häufung scharfer Dissonanzen, ein wütendes
    Sich-Hineinbohren in Klangmassen und für komplizierte rhythmische
    Muster bei den Schlaginstrumenten. Diese Klangblöcke sind unstabil
    und vermitteln den Eindruck einer wilden Heterophonie. Dem gegenüber
    stehen Abschnitte mit langen Melodielinien und fester Verankerung in
    tonalen Zentren, auch wenn es sich selten um traditionelle
    Tonartmuster handelt.


    Als Zusammenhang stiftendes Element wirken in vielen Passagen
    melodische, klangliche oder rhythmische Ostinatokonstruktionen. Sie
    sind überaus zahlreich und führen bisweilen, so in der 9. Sinfonie,
    zu gewaltigen Steigerungen.


    Als Kontrast zu scharfen Dissonanzen verwendet Pettersson gern
    Dreiklangsharmonik, doch gibt es selten längere Abschnitte, in denen
    sich eine Tonart manifestiert, häufiger ist der rasche Wechsel
    zwischen tonalen Zentren. Dissonanzen im Sinne klassischer Tonalität
    bleiben oft unaufgelöst stehen. Beispiele dafür sind der lange
    Einleitungsteil der 8. Sinfonie oder die Streicherpassage unmittelbar
    vor der Coda in der 7. Sinfonie.


    Die Sinfonien Nr. 5 bis 9 enden alle mit ausgedehnten Coda-Partien,
    die in langgezogenem Diminuendo verebben - als bliebe nach ungeheuren
    Ausbrüchen nur Resignation.


    Mit den Sinfonien der sechziger Jahre fand Pettersson immer mehr
    Beachtung als Komponist. Besonders erfolgreich wurde die 7. Sinfonie.
    Ihre Uraufführung durch das Philharmonische Orchester Stockholm unter
    der Leitung von Antal Doräti am 13. Oktober 1968 in einem
    Jugendkonzert markiert Petterssons Durchbruch. Das Publikum feierte
    ihn, und die Kritik sprach gar von einem Wendepunkt in der
    schwedischen Gegenwartsmusik. Die siebte ist die für den Hörer am
    leichtesten zugängliche von allen Sinfonien Petterssons, und sie
    blieb seine meistgespielte bis heute. Der Komponist wurde mit
    mehreren Preisen geehrt und 1970 in die Königliche Musikakademie
    gewählt.


    In diesem künstlerisch so erfolgreichen Jahrzehnt erkrankte
    Pettersson an schwerem Gelenkrheumatismus, der ihn schliesslich bis
    zur Bewegungsunfähigkeit verkrüppelte. Unter grossen Anstrengungen
    schrieb er eine Partitur nach der anderen. 1970 musste er mit einer
    lebensbedrohlichen Nierenentzündung für neun Monate ins Krankenhaus.
    Hier schrieb er, »im Tunnel des Todes«, die zehnte Sinfonie und
    begann die elfte. Trotz der Krankheit waren die siebziger Jahre eine
    ertragreiche Schaffensperiode: Es entstanden die Sinfonie Nr. 12 und
    »Vox humana«, beides mit Chor, ferner die Sinfonien Nr. 13 bis 16 und
    das Violinkonzert, geschrieben für die Geigerin Ida Haendel.


    Die zwölfte Sinfonie wurde 1973 im Auftrag des schwedischen
    Dirigenten Carl Rune Larsson geschrieben, des damaligen
    Universitätsmusikdirektors in Uppsala. Er wünschte sich zur
    500-Jahr-Feier der Universität ein grösseres Pettersson-Werk »mit
    Zeitaktualität in tieferem Sinne«. Zu jener Zeit kam Pettersson in
    Berührung mit dem »Canto general« des chilenischen Dichters und
    Nobelpreisträgers Pablo Neruda und entschied sich für den
    Gedichtzyklus »Die Toten auf dem Marktplatz«. Diese Gedichte sind wie
    ein Mahnmal für die unbewaffneten Demonstranten, die bei der
    Demonstration in Santiago de Chile am 28. Januar 1946
    niedergemetzelt wurden. Hier fand Pettersson einen Text mit Zeitbezug
    und in tiefem Einklang mit seinem sozialen Pathos, seinem Mitgefühl
    mit dem einsamen, schwachen Menschen, der von brutalen Kräften
    niedergeschlagen und vernichtet wird. Erstmals seit den
    »Barfussliedern« kommt Pettersson auf die menschliche Stimme als
    Ausdrucksmittel zurück. Wie damals ist der einsame und ausgestossene
    Mensch sein Thema. Doch sind die Mittel, die er jetzt einsetzt, von
    ganz anderer Dimension: grosser Chor und grosses Orchester.


    Unmittelbar nach der zwölften Sinfonie vertonte Pettersson noch
    einmal lateinamerikanische Dichtung: 14 Lieder von Arbeiterdichtern,
    alt-indianische Poesie und abermals einen Text von Pablo Neruda. In
    diesem neuen Werk, »Vox humana«, setzt er Solisten, Chor und
    Orchester ein.


    1975 geriet Allan Pettersson in einen schweren Konflikt mit den
    Stockholmer Philharmonikern, ausgelöst dadurch, dass das Orchester
    die 7. Sinfonie vom Programm einer USA-Tournee absetzte. Das führte
    zu einer aufreibenden Kommentar- und Leserbriefkampagne in den
    Zeitungen. Allan Pettersson fühlte sich von seinen ehemaligen
    Kollegen verraten und im Stich gelassen, er legte seine
    Ehrenmitgliedschaft im Orchester nieder und verbot den
    Philharmonikern, seine Werke je wieder zu spielen. Der Streit wurde
    zwar beigelegt, doch Pettersson war so verletzt, dass sein Verhältnis
    zum Musikleben fortan getrübt
    blieb.


    Allan Pettersson starb am 20. Juni 1980.


  • Kurz und knapp: Mein erster, sicher aber nicht mein letzter Petterson. Ungemein emotionale Musik, vom Bau her sicher auch nicht alltäglich als einsätziges, 45minütiges Werk. Werde demnächst mutmaßlich das zweite Violinkonzert und die 6. Sinfonie erwerben.


    Gruß
    Sascha

  • Ich habe nun auch endlich den Einstieg in die Welt der Musik Allan Petterssons gefunden: mit den drei Streicherkonzerten, die zwischen Ende der 40er und Mitter der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts entstanden sind.
    Obwohl diese Musik alles andere als leicht zugänglich ist, hat sie mich von Anfang an stark fasziniert. Auch findet der Komponist zwischen allen Schroffheiten immer wieder Oasen der Ruhe und der Schönheit, wie im fantastischen, halbstündigen Mittelsatz der 3. Konzertes.
    Die Doppel-CD von cpo ist für einen Spottpreis zu haben und markiert für mich den Einstieg in einen musikalischen Kosmos, von dem ich sicher noch mehr erfahren möchte.



    Gruß
    Christian

  • Ich möchte hier kurz über mein erstes Pettersson Erlebnis schreiben:
    Es war in der Kölner Philharmonie; 8. Sinfonie Leitung G. Albrecht.
    Ich habe nach dem letzten Takt dieses Werkes etwas erlebt, was ich bis dahin und auch seither nicht mehr erlebt habe: Das Publikum schwieg für Sekunden - es war beeindruckend. Wo sonst selbst nach Mahlers 6. Sinfonie meist direkt nach dem Schlussakkord tosender Aplaus beginnt, war die Erschütterung durch diese Musik so groß (auch bei mir!), dass man zunächst einige Zeit brauchte, um sich wieder zu sammeln.
    Für mich der Beginn meiner Pettersson-Leidenschaft. :
    :jubel:

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  • Hallo Andreas,


    vielen Dank für die Schilderung Deines eindringlichen Pettersson-Erlebnisses. :jubel:
    Genau solche intensiven Konzert-Erfahrungen sind auch für mich die faszinierendsten, an die ich mich - auch nach etlichen Jahren - immer wieder gerne und mit großer Begeisterung zurückerinnere. :]
    Deine Zeilen haben mich nun animiert, mich eingehender mit Petterssons Symphonien zu beschäftigen. :yes: Vielen Dank!


    Herzliche Grüße
    Johannes

  • Angeregt von Andreas eindrücklicher Schilderung seiner Begegnung mit Petterssons 8. Symphonie, möchte ich ganz kurz auch meinen Eindruck vom Symphoniker Pettersson zu Besten geben, wobei ich weit davon entfernt bin, ein Petterson-Experte zu sein; ich kenne überhaupt nur die Symphonien 6, 8, 10 und 11.


    Und die 8. (UA 1972) ist tatsächlich ein Werk, das an Suggestionskraft, Trauer und Verzweiflung kaum zu überbieten ist. Unter den vier Pettersson-Symphonien ist es diejenige, die den tiefsten Eindruck bei mir hinterlassen hat - und es ist die einzige, die ich regelmäßig in den Player schiebe. Sie ist großdimensioniert (meine Einspieleng dauert knapp 52 Minuten), schroff und herb, fordert den Hörer, ja greift ihn förmlich an. Dabei ist die Klangsprache dennoch immer ansprechend, nie hermetisch oder explizit abweisend. Strukturell folgt die Symphonie keineswegs einem klassischen mehrsätzigen Schema sondern ist zweiteilig angelegt, wobei beide Teile auf demselben motivischen Material basieren. Interessanterweise hat Andreas die Symphonie unter der Leitung von Gerd Albrecht gehört, der auch die Einspielung leitet, die ich besitze:



    Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Gerd Albrecht (Orfeo)


    :jubel: :jubel: :jubel:


    Wenn schon die 8. Symphonie dem Hörer einiges abverlangt, so geht die 6. (UA 1967) IMO noch deutlich über die Anforderungen der 8. hinaus: ein einsätziger Koloss von über 60 Minuten, bedrohlich die Grundstimmung, die Klangsprache zerklüftet, disparat, das thematisch-motivische Material wird - so mein Eindruck - eigentlich nicht verarbeitet, sondern bis zur Unkenntlichkeit zerarbeitet. Man sitzt gebannt und bestürzt da, Klangmassen ausgesetzt, die sich nie zu einem Ganzen fügen lassen wollen. Am Ende der Symphonie ist auch der Hörer sprichwörtlich am Ende. Die 6. ist - positiv formuliert - eine Prüfung für den Zuhörer; negativ ausgedrückt: eine Zumutung. Aber ganz gleich, wie man dieses Werk einschätzt: es läßt einen nicht kalt und es hinterläßt Eindrücke, die man sicherlich nicht leicht vergessen wird.
    Von der 6. habe ich die bei CPO-gelabelte Aufnahme mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin unter Manfred Trojahn.


    Verglichen mit den Symphonien 6 und 8 sind die Nummern 10 (1970/72) und 11 (1973) rein äußerlich geradezu Leichtgewichte (hier habe die CPO Aufnahme mit der Radio-Philharmonie Hannover unter Alun Francis): beide dauern knapp unter einer halben Stunde. In ihrer Ausdrucksintensität stehen sie den beiden größeren hier angesprochenen Symphonien aber nicht unbedingt nach, wobei dennoch die Haltung der beiden Werke unterschiedlich ist: die 10. ist schroff, aggressiv, unerbittlich - ähnlich zerfahren wie die 6., allerdings konzentrierter. Die 11. ist nun keineswegs eine Kuschelsymphonie, doch wirkt sie IMO geschlossener, formal homogener und ist insgesamt deutlich zugänglicher. Insgesamt haben diese beiden Symphonien bei mir keinen so tiefen Eindruck hinterlassen wie die unglaublich ergreifende 8. und die verstörende 6.


    Petterssons Musik fordert - aber ich denke es lohnt, sich von dieser Musik fordern zu lassen...


    Herzlichst,
    Medard

  • Liebe Forianer,


    Allan Pettersson ist ein Komponist, dessen Werke mich jetzt schon seit Jahren faszinieren; ein einziges Mal, vor ca. 4 Jahren, konnte ich eine seiner Symphonien im Konzertsaal erleben: die Siebte mit Peter Ruzicka und, ich glaube, dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart.


    Wenn von ihm mal die Rede ist, wird gern das Bekenntnis des Komponisten zitiert, sein Werk sei " mein eigenes Leben, das gesegnete, das verfluchte".


    Ich finde es lohnenswert, den gesamten Text, in dem dies geäußert ist, in diesem Forum vorzustellen. Der Stil verrät m. E. etwas über den seiner Musik:



    Allan Pettersson: Identifikation mit dem Unansehnlichen


    Bruder,


    in aller Eile dieser Brief, vielleicht ein kleiner Unfall im Kulturgeschehen. Als ich Anfang der fünfziger Jahre in Paris saß und mich mit religiöser Leidenschaft in Anton Weberns Musik vertiefte, ahnte ich noch nicht, daß es bald von Webernschen Chromosomen nur so wimmeln würde. Es dürfte nun reichen mit Anton und dem grenzenlosen Schönbergschen Läusekönig. Es reicht nun auch mit Arnold. Und dann die Auflösung des Krawallgesetzes, ja, der Pornowall wurde gesprengt. Ein nacktes, Cello spielendes Frauenzimmer in einer Plastiktüte in Malmö. (Warum nicht ohne Plastiktüte?) Und das, während sich die halbe Erdbevölkerung windet zwischen Hunger und Elend.


    Die Entwicklung verläuft nicht in den für heilig erklärten, opportunen Festivals der IGNM [Internationale Gesellschaft für Neue Musik], sie geht durch die Volksseele. Die Reaktion des gewöhnlichen, anonymen Menschen gegen Snobismus und Fachidiotentum ist gesund und berechtigt. Die Radikalität der Gegenwart ist keine wirkliche, weil sie sich aus einer verarmten, sterilen Situation herleitet. Sie ist einzig und allein kompromittierend, und das, was sie kompromittiert, ist die verzweifelte Gebärde des müden Liebhabers – eine boshafte Grimasse.


    Die Elektronik kann nur ein Ersatz für eine normale Entwicklung sein, die sich in einer Problemstellung befindet. Aber dieses Problem wird nicht dadurch gelöst, daß Snobs und Fachidioten erkämpfte Mittel für bankrott erklären. Es ist der Snob, der von den Menschen und der Musik unserer Zeit spricht. Der Mensch unserer Zeit ist ein kleines Kind, das irgendwo auf dieser Welt verhungert, gerade jetzt, und die Musik unserer Zeit ist das Weinen des Kindes in einer Messe für Aasgeier. Dahin hat es der erwachsene, der verwachsene Mensch aus Fleisch und Blut kommen lassen. Man achtet zu sehr auf Äußerlichkeiten, die sogenannte Kulturdebatte, anstatt sich im Innern, der sogenannten Seele, zu vervollkommnen. Dies ist vielleicht eine Frage auf Leben und Tod – für jeden. Das Gewissen meldet eine Wahrnehmung darüber, daß ein Engel den Menschen gestreift hat. Aber an Engeln fummelt man nicht herum. Es bedarf im Kulturkörper einer erneuten geistigen Fortentwicklung. Es beginnt zu stinken. Der Mensch verfault. Er hat keinen Glauben. Was ist es? Wenn Du mit der Hand einen Vogel fängst und ihm die Flügel herausreißt, so liegt eine kleine Kreatur in Deiner Hand. Das ist dann eine Tatsache. Spürst Du aber den Herzschlag des kleinen Vogels und läßt ihn fliegen, damit er sein ewig unveränderliches, aber ständig neues Lied singt, so schenkt Dir das einen Glauben. Den Glauben des Kindes, des Irren, der nicht zählt. Die künstlerische Identifikation ist ein Selbstopfer. Die Identifikation mit dem Kleinen, Unansehnli-chen, Anonymen, mit dem ewig Unveränderlichen aber ständig Neuen, Frischen. Darin wird das Leben für den Menschen bewahrt.


    Die Urne mit der Asche ist nicht nur Sache des Menschen. Kolophonium vom Bogen eines musizierenden Gottes.


    Das Werk, an dem ich arbeite, ist mein eigenes Leben, das gesegnete, das verfluchte: Um den Gesang wiederzufinden, den die Seele einst gesungen hat. [Hervorhebung von mir] Er entstand bei den kleinen Menschen, die nicht an sich glaubten, die wie Hunde behandelt wurden, Weiße wie Schwarze, für die das Leben nur eine verfluchte Verpflichtung zum Tod war. Trotzdem aber hatten sie Mitgefühl mit den anderen, eine Kraft des Verlangens erfüllte sie mit einem Glauben – und da brach der Gesang heraus, inbrünstig, flehend ... bis die Welt sie bat, die Schnauze zu halten.


    Der Gesang wurde von dem verwachsenen Snob gestohlen, schwoll an ins Banale, entlud sich in krächzenden Salti mortali – ein Schrei, eine Speerspitze im Ohr ... und das Pokerface der Gegenwart starrt dich an in Haß.


    Wann kommt der Engel, der der Seele den Gesang zurückgibt, so einfach und klar, daß ein Kind aufhört zu weinen?


    Aus: Nutida musik 12 (1968/69), Nr. 2, S. 55-56, Übersetzung von Anne Mendelin, Allan-Pettersson-Jahrbuch 1990, S. 14-15

  • Hm,


    also, ich kann nur sagen: Die 7. Sinfonie von Petterson war für mich persönlich die bisher größte Entdeckung hinsichtlich "Komponisten, deren Namen ich vorher noch nicht mal kannte".
    Ich vermute mal, würde sich jemand Einflussreiches aus der aktuellen Dirigentengeneration für seine Werke stark machen, hätte Petterson gute Chancen auf einen Stammplatz im Repertoire. Ich werde sicher bald einige weitere Werke dieses faszinierenden Komponisten im Regal haben.




    :hello:
    Sascha

  • Gesagt, getan.


    Heute hörte ich erstmals die 6. Sinfonie von Pettersson, nachdem ich mein Schlüsselerlebnis mit der 7. Sinfonie hatte. (Siehe oben).



    Unreflektierter Ersteindruck, gerade vor 10 Minuten ging das 60minütige Werk zu Ende:
    Mich etwas ratlos stimmender Anfang. Das schon aus der nachfolgenden Sinfonie so gut bekannte, latente Bedrohungsgefühl ist stark, ohne allerdings den klaren thematischen Bezugspunkt zu bieten, wie das fast ein Motiv zu nennende, zweitönige Blechbläsergebilde aus der Siebten.
    Wie immer gewaltige Steigerungen, dann nach ca. 25 Minuten, von schrillem Streicher- und Bläsertremolo eingeleitet, ein hymnisches Thema in den Trompeten. Ab da für mich nun fassbarer, beginnt eigentlich schon das Ende der Sinfonie. Eine endlos lang gezogene, melancholische Melodie breitet sich aus (laut Beiheft eines der Barfußlieder Petterssons zitierend).
    Zum Ende hin, einen unglaublichen Höhepunkt bildend, das Ringen dieser melancholischen Ruhe mit einem extrem rhythmisch scharf akzentuierten Fortissimo-Thema. Die Stelle hat mich echt umgehauen, großartig!
    Dann die letzten Minuten, Ruhe breitet sich aus. Kurz klingt das tatsächlich etwas versönlich, zum Schluß hin aber höre ich wieder nur Trostlosigkeit und Resignation. Morendo-Schluß auf einem tiefen Ton, Kontrafagott.


    Erster Gedanke: Geplättet und Wow, was für ein Werk: :jubel: :jubel: :jubel:


    Dann etwas Ratlosigkleit: Warum ist dieser großartige Sinfoniker im Konzertsaal so wenig präsent ? Fällt er in eine Lücke, weil die Dirigenten die unglaublich emotionale Direktheit seiner Werke schon in Mahler und Schostakowitsch ausreichend repräsentiert sehen, und andererseits radikalmoderneren Komponisten den Vorzug geben, statt den sich auf dem Boden gedehnter Tonalität bewegenden Schweden Platz zu bieten ?


    Schade. Hört und spielt mehr Pettersson!


    Gruß
    Sascha

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