Nein, bei diesem Komponisten handelt es sich keinesfalls um den jüngeren Bruder des belgischen Gruselbarden Helmut Lotti, der seine ersten Schritte auf dem Klassik-Parkett gehen will, sondern um den großen venezianischen Komponisten Antonio Lotti
(1667-1740) der, darin gewisserweise Giovanni Gabrieli vergleichbar, im Ausland größeren Ruhm genoss als in seiner italienischen Heimat.
Daß dieser Ruhm gänzlich verblasste, hat nun keinesfalls etwas mit Lottis Kompositionen zu tun, die wirklich allerhöchsten Ansprüchen gerecht werden, sondern mit seiner Stellung, die ihn als einen Komponisten, der quasi "zwischen den Zeiten steht", kennzeichnen.
Der als Musikersohn im Januar 1667 in Venedig Geborene wurde von Giovanni Legrenzi, seines Zeichens Kapellmeister an San Marco (und damit einer der Nachfolger des legendären Monteverde), unterrichtet.
Der Junge zeichete sich ausserdem durch eine schöne Stimme aus, was ihm später beim Komponieren seiner groß angelegten Vokalwerke von einigem Nutzen sein sollte. 1692 wurde er zum 2. Organisten an San Marco ernannt, und seit 1693 sind Opernaufträge nachweisbar, die seinen Namen schnell über die Grenzen der Lagunenstadt hinaus bekannt machten.
1717 folgte er einem Ruf nach Dresden, wo er 2 Jahre als Hofkapellmeister tätig war. Leider zwang das sächsische Klima den
Meister, der seitlebens lungenkrank und von schwacher Gesundheit war, zur baldigen Rückkehr in seine Heimat.
Während der Zeit in Deutschland traf er möglicherweise mit Bach zusammen, was für beide tiefgreifende Folgen hatte. Bach bewahrte lebenslang eine Abschrift von Lottis "Crucifixus", einer Komposition, die der Meister explizit für Dresden verfasst hatte, in seinen Notenbeständen auf. Lotti dagegen vertiefte sich in Deutschland in die Werke der "klassischen" Vokal-Polyphonie eines Schütz und Praetorius, die für sein weiteres Schaffen wegweisend wurden.
Erstaunlicherweise komponierte Lotti nach seiner Rückkehr in die Heimat keine Opern mehr. Der für Dresden geschriebene "Teofane" blieb seine letzte Bühnenarbeit, danach entstand nur noch geistliche Musik. Nachdem er sich vorher schon einmal vergeblich um das Amt des Kapellmeisters an San Marco beworben und wegen zu schwacher Gesundheit abgelehnt wurde, wurde ihm mit fast 70 Jahren diese Ehre doch noch zuteil. Am 5. Januar 1740 starb er an den Folgen einer Bronchitis in seiner Geburtsstadt und wurde in der Kirche San Geminiano beigesetzt. Kirche und Grablege sind nicht erhalten. Sie fielen einer großangelegten "Aufräumaktion" Napoleons im Jahr 1815 zum Opfer.
Lotti, der es ausgezeichnet verstand, die Errungenschaften der Vergangenheit mit den veränderten Anforderungen eines allmählich "empfindsamer" werdenden Zeitalters zu verknüpfen, gehört bestimmt zu den am häufigsten unterschätzten Meistern seiner Epoche. Berühmt wurde er als "letzter Madrigalist" von Rang, einer Kunstgattung, die schon seit langem nicht mehr im Mittelpunkt des musikalischen Interesses stand. Seine Bühnenwerke bedürfen dringend einer ausführlichen Sichtung und Edierung. Am bedeutendsten war Lotti gewiss als Komponist von Kirchenwerken. Sein 10stimmiges "Crucifixus", geprägt von langen Vorhalten und aufwühlender Chromatik gehört ohne Zweifel zu den unsterblichen Zeugnissen abendländischer Vokal-Polyphonie.
In Deutschland war es Thomas Hengelbrock, dem es gelang, zwei beachtliche Einspielungen mit Werken Lottis
vorzulegen. Lotti hat auf Meister wie Händel, Telemann, Bach und Hasse in vielfacher Weise befruchtend gewirkt. Seine genialen "Vesperpsalmen" sind von deutscher Satztechnik geprägt und dennoch voller Italianità.