Leipzig, Viertel vor Sieben am Morgen
Eine erste trübe Ahnung von Morgenlicht sickert durch die Gassen von Leipzig, als die Kirchgänger am 2. Dezember vor 275 Jahren fröstelnd im Dunklen zum Gottesdienst eilen. Kerzen beleuchten schwach die ungeheizte Kirche. Wir dürfen uns das Wetter nass und kalt vorstellen: 1731 gab es einen frühen, eisigen Winter, berichten Wetterchroniken. Um 7 Uhr beginnt das Amt, so nannten sie in Leipzig den Hauptgottesdienst, und es würde nicht vor 10 Uhr zu Ende sein. Wenn Pastor Deyling wieder über eine Stunde lang predigte, sogar erst um halb Elf. Wenn bloß der Kantor nicht wieder so entsetzlich lange singen lassen würde, wie schon am vorigen Sonntag! „Wachet auf“ hatten die Schüler gerufen, und wirklich waren in den hinteren Bänken einige aus dem Halbdämmer hoch geschreckt, obwohl sie das Lied doch alle kannten: „Wachet auf, ruft uns die Stimme“. Sicher, hübsche Musik, aber eine halbe Stunde hatte es bestimmt gedauert. Ob es wohl diesmal schneller gehen würde?
Heute wissen wir: Nein, es würde nicht schneller gehen. Auch die Kantate „Schwingt freudig euch empor“ dauert ihre 30 Minuten, die erste Hälfte vor der Predigt, die andere beim Abendmahl. Aber sonst wissen wir fast nichts; und natürlich schon gar nicht, wie nah unser kleines Stimmungsbild oben an der Wirklichkeit ist. Wir können nur vermuten.
Gut 30.000 Einwohner hatte Leipzig damals, das ist aus heutiger Sicht nicht viel. Damals jedoch fühlte man sich als Weltstadt. Und die Kirchen waren voll, der Kirchgang eine Selbstverständlichkeit. Schon vor dem dreistündigen Amt gab es, früh um 5.30 Uhr, eine Mette, um 11.30 Uhr folgte die Mittagspredigt, auch einen Gottesdienst am Nachmittag soll es noch gegeben haben. Frömmigkeit prägte das Leben, nicht nur das öffentliche. Sicher wird es auch Leute gegeben haben, die extra zur Kirche gingen, um die neueste Komposition des Kantors Bach zu hören. Aber werden es viele gewesen sein? Wiederum: Wir wissen es nicht. Einerseits: Der Anteil der Menschen, die mit rindsledernen Trommelfellen durchs Leben gehen, dürfte damals kaum geringer gewesen sein als heute. Und außerdem war Kirchenmusik normal, gewöhnlich – es gab ja jede Woche eine neue Kantate. Andererseits: Die Kirchenmusik war eine allwöchentliche Attraktion. Denn das tägliche Leben war, mit heute verglichen, leer von Musik, und die Kirche fast der einzige Ort, wo Instrumente erklangen.
Womit wir allmählich an das Ziel dieser etwas langatmigen Einleitung kommen. Musik hören hieß zu Bachs Zeiten, dass man ein Werk sehr selten, oft sogar nur ein einziges Mal hörte. Unvorstellbar damals, dass man die gleiche Musik wieder und wieder abspielen lassen konnte, in verschiedenen Fassungen, von unterschiedlichen Orchestern. Niemand war damals, an einem trüben Dezembermorgen in Leipzig vor 275 Jahren, in der Lage, ein hoch kompliziertes Kunstwerk so zu verstehen und zu würdigen, wie uns das heute selbstverständlich geworden ist. Bachs Werke, die damals Musik für den Moment waren, sind uns Gegenwärtigen zur Musik für die Ewigkeit geworden.
Und nun, endlich, legen wir die Musikkonserve in den Player und drücken auf Start: Schwingt freudig euch empor, BWV 36.
Besetzung, Entstehungszeit, Text
Besetzung
Soli: S T B, Coro: S A T B, Oboe d'amore solo, Oboe d'amore I/II, Violino solo, Violino I/II, Viola, Continuo
Entstehungszeit
Erste Aufführung 2. Dezember 1731 (1. Adventssonntag) in einer der Leipziger Kirchen.
Text
Umdichtung vielleicht von Christian Friedrich Henrici (Picander); 2,6,8: Martin Luther 1524; 4: Philipp Nicolai 1599.
ZitatAlles anzeigenBWV 36 - Schwingt freudig euch empor
Erster Teil
1. Coro
Oboe d'amore I/II all' unisono, Violino I/II, Viola, Continuo
Schwingt freudig euch empor zu den erhabnen Sternen,
Ihr Zungen, die ihr itzt in Zion fröhlich seid!
Doch haltet ein! Der Schall darf sich nicht weit entfernen,
Es naht sich selbst zu euch der Herr der Herrlichkeit.
2. Choral (Duetto)
S A Oboe d'amore I col Soprano, Oboe d'amore II coll'Alto, Continuo Nun komm, der Heiden Heiland,
Der Jungfrauen Kind erkannt,
Des sich wundert alle Welt,
Gott solch Geburt ihm bestellt.
3. Aria
T Oboe d'amore solo, Continuo
Die Liebe zieht mit sanften Schritten
Sein Treugeliebtes allgemach.
Gleichwie es eine Braut entzücket,
Wenn sie den Bräutigam erblicket,
So folgt ein Herz auch Jesu nach.
4. Choral
Oboe d'amore I, Violino I col Soprano, Oboe d'amore II, Violino II coll'Alto, Viola col Tenore, Continuo
Zwingt die Saiten in Cythara
Und lasst die süße Musica
Ganz freudenreich erschallen,
Dass ich möge mit Jesulein,
Dem wunderschönen Bräutgam mein,
In steter Liebe wallen!
Singet, Springet,
Jubilieret, triumphieret,
dankt dem Herren!
Groß ist der König der Ehren.
Zweiter Teil
5. Aria
B Violino I/II, Viola, Continuo
Willkommen, werter Schatz!
Die Lieb und Glaube machet Platz
Vor dich in meinem Herzen rein,
Zieh bei mir ein!
6. Choral
T Oboe d'amore I/II, Continuo
Der du bist dem Vater gleich,
Führ hinaus den Sieg im Fleisch,
Dass dein ewig Gott's Gewalt
In uns das krank Fleisch enthalt.
7. Aria
S Violino solo con sordino, Continuo
Auch mit gedämpften, schwachen Stimmen
Wird Gottes Majestät verehrt.
Denn schallet nur der Geist darbei,
So ist ihm solches ein Geschrei,
Das er im Himmel selber hört.
8. Choral
Oboe d'amore I e Violino I col Soprano, Oboe d'amore II e Violino II coll'Alto, Viola col Tenore, Continuo
Lob sei Gott, dem Vater, g'ton,
Lob sei Gott, sein'm eingen Sohn,
Lob sei Gott, dem Heilgen Geist,
Immer und in Ewigkeit!
Für die Texte, Besetzungen und weiteren Daten der Kantaten BWV 36a „Steigt freudig in die Luft“, 36 b „Die Freude reget sich“ und 36 c „Schwingt freudig euch empor“ verweise ich auf die Internetseite von Walter F. Bischof (University of Alberta, Canada), von der ich auch den Kantatentext oben genommen habe: http://www.cs.ualberta.ca/~wfb/bach.html