BWV 62: Nun komm, der Heiden Heiland
Kantate zum ersten Advenssonntag (1724 - Leipzig)
Lesungen:
Epistel: Röm. 13,11-14 (Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber herbei gekommen)
Evangelium: Matt. 21,1-9 (Jesu Einzug in Jerusalem)
sechs Sätze, Dauer: ca. 22 Minuten
(vokale) Besetung: Sopran, Alt, Tenor, Baß + vierstimmiger Chor
Libretto:
Librettist der Umdichtungen (Satz 2-5) unbekannt
ansonsten frei nach Martin Luther / Original Luther (1524): Satz 1+6
ZitatAlles anzeigenDas Libretto:
1. (Coro)
Corno col Soprano, Oboe I/II, Violino I/II, Viola, Continuo
Nun komm, der Heiden Heiland,
Der Jungfrauen Kind erkannt,
Des sich wundert alle Welt,
Gott solch Geburt ihm bestellt.
2. Aria T
Oboe I/II, Violino I/II, Viola, Continuo
Bewundert, o Menschen, dies große Geheimnis:
Der höchste Beherrscher erscheinet der Welt.
Hier werden die Schätze des Himmels entdecket,
Hier wird uns ein göttliches Manna bestellt,
O Wunder! die Keuschheit wird gar nicht beflecket.
3. Recitativo B
Continuo
So geht aus Gottes Herrlichkeit und Thron
Sein eingeborner Sohn.
Der Held aus Juda bricht herein,
Den Weg mit Freudigkeit zu laufen
Und uns Gefallne zu erkaufen.
O heller Glanz, o wunderbarer Segensschein!
4. Aria B
Violino I/II, Viola all' unisono, Continuo
Streite, siege, starker Held!
Sei vor uns im Fleische kräftig!
Sei geschäftig,
Das Vermögen in uns Schwachen
Stark zu machen!
5. Recitativo (Duetto) S A
Violino I/II, Viola, Continuo
Wir ehren diese Herrlichkeit
Und nahen nun zu deiner Krippen
Und preisen mit erfreuten Lippen,
Was du uns zubereit';
Die Dunkelheit verstört' uns nicht
Und sahen dein unendlich Licht.
6. Choral
Corno e Oboe I/II e Violino I col Soprano, Violino II coll'Alto, Viola col Tenore, Continuo
Lob sei Gott, dem Vater, g'ton,
Lob sei Gott, sein'm eingen Sohn,
Lob sei Gott, dem Heilgen Geist,
Immer und in Ewigkeit!
Bachs zweite Kantate mit dem Titel "Nun komm, der Heiden Heiland" entstand 1724, also in Bachs zweitem Leipziger Kantatenjahrgang, der auch als "Choralkantatenjahrgang" bezeichnet wird. Diesen Jahrgang beginnt Bach mit Kantaten, die als musikalische und textliche Grundlage einen Choral, also ein evangeliches kirchenlied zur grundlage haben. Zu Ostern bricht er dieses Choralkantatenprojekt jedoch ab und fährt mit normalen Kantaten fort, die sich auf den enstsprechenden Analss beziehen. Warum Bach sich einer Reihe von Chorälen als Kantatengrundlage zu- und dann wieder abwandete ist ungewiss. Dürr bietet folgende Erklärung für das Phänomen (Alfred Dürr: J.S.Bach: Die Kantaten. Seite 49-56): Durch den "Perikopenzwang" waren die Pfarrer genötigt, jedes Jahr über das gleiche Evangelium zu predigen. Um dennoch Abwechslung zu schaffen, legten sich die Prediger ein Thema zu Grunde, das sie das ganze jahr durchexerzierten. Jedes Evangelium, über das zu predigen war, wurde also auf das Thema "abgeklopft", mit dem sich der Pfarrer in einem Jahr auseinandersetzen wollte.
Alternativ dazu hatte schon 1690 ein Pastor der Thomaskirche zum Ende der Predigt sich noch wöchentlich einen lutherischen Choral vorgenommen, den er erklärte. Es besteht also die Möglichkeit, daß auch Bachs Chorlakantaten in einem derartigen Projektzusammenhang in Zusammenarbeit mit dem Pastor entstanden: der Pastor predigte über ein lutherisches Lied und Bach lieferte in seiner Kantate dann den musikalisch "aufgemotzen" Choral. Ob diese Erkärung richtig ist und warum das Choralkantatenprojekt beendet wurde, entzieht sich letztlich unseren Wissens.
BWV 62 ist als "Choralkantate" geringfügig ordentlicher als BWV 61. Während in BWV 61 nur die erste Choralstrophe im Original wiedergegeben wurde, so erklingt im Falle von BWV 62 doch wenigstens die erste und letzte Strophe im Originaltext. Die Binnensätze sind freie Umdichtungen von unbekannter Hand. (Exkurs: Es gibt natürlich Choralkantaten Bachs, die sich noch wesentlich intensiver am Originaltext orientieren, in denen gar jede Strophe vom Originalchoral stammt)
Statt jetzt jeden Satz einzeln zu besprechen (der prächtige Eingangssatz und die darauffolgende Tenor-Arie wären es auf jeden Fall wert!) will ich nur kurz auf das verblüffende, kurze Rezitativ (Satz 5) verweisen, in dem der Sopran und Alt-Solist im Duett singt! Es ist nicht nur von beglückender Schönheit (ich werde diesbezüglich später vor allem Harnoncourt preisen) sondern dürfte auch eine ziemlich singuläre Erscheinung in Bachs Kantatenschaffen sein (?!)
So, nu aber ran an die Einspielungen, mit BWV 61&62 bin ich recht gut ausgestattet.