Die Bachkantate (001): BWV140: Wachet auf, ruft uns die Stimme

  • BWV 140 Wachet auf, ruft uns die Stimme
    Kantate für den Siebenundzwanzigsten Sonntag nach Trinitatis
    (vokale) Besetzung: Sopran + Tenor + Baß und vierstimmiger Chor
    Sieben Sätze, ca. 30 Minuten


    Die Kantate bezieht sich auf folgende Lesungen:
    Epistel: 1. Thess. 5,1-11 (Bereitschaft für den jüngsten Tag)
    Evangelium: Matthäus 25,1-13 (Gleichnis von den fünf klugen und fünf törichten Jungfrauen)




    Die Kantate entstand wohl zum 25. November 1731.
    Es ist eine jener "Choralkantaten", die die Strophen eines Chorals als Textgrundlage haben (und meistenteils wird der entsprechende Choral auch als musikalische Grundlage benutzt). Allerdings hat der Choral Wachet auf (Philipp Nicolai, 1599) nur drei Strophen (in der Kantate die Sätze eins, vier und sieben) und so wurden noch frei gedichtete Binnensätze zwischen den Strophen hinzugefügt. Und zwar jeweils als Rezitativ-Duett-Paar. Die "Rollenverteilung" in der Kantate ist durchgängig: Der Tenor ist "Erzähler" und Jesus (Baß) steht im Dialog mit der Seele (Sopran).
    Der vierte Satz fand Wiederverwendung als Orgeltranskription in den sechs "Schübler-Chorälen" BWV 645 und fehlt in kaum einem Adventskonzert ;)




    So, da die Zeit drängt, stelle ich den Thread mal online, damit jeder von seinen Hörerlebnissen berichten kann. Ich präzisiere den Einführungstext noch nachträglich!

  • Hallo,


    das Tamino-Projekt bewegt natürlich auch mich, mir die Kantaten besser einzuverleiben.
    Und es ging gleich ganz gut los. "Wachet auf" ist einer meiner Lieblingschoräle und dann ist es natürlich hochinteressant zu hören, was Bach draus macht.


    Ich habe mir dann Gardiner besorgt:



    Gefällt mir auch sehr gut. Für die Choräle bin ich natürlich auch gleich zu haben gewesen. Nummer 4 kannte ich von der Orgel her und Nummer 7 singen wir sogar mitunter mit unserem kleinen Chor.
    Noch nicht ganz warm geworden bin ich mit den Duetten und Rezitativen, aber das hängt ganz sicher von meinen Hörgewohnheiten ab.


    Ich kenne übrigens die letzte Strophe am Schluss nur ohne Latein:
    "...solche Freude. Drum preisen wir und singen dir
    das Halleluja für und für."


    Hört sich auch ein bisschen seltsam an, mit dem "io, io"... :rolleyes:
    Naja, ich höre mich weiter ein, bin ja noch ziemlich kantatenunbeleckt.



    Gruß, Peter.

  • „Da Freude die Fülle, da Wonne wird sein.“


    Nein, ich bin nicht, von zwölf Glockenschlägen geweckt, um Mitternacht aufgestanden, um diese Kantate zu hören. Obwohl das wirklich eine angemessene Reverenz gewesen wäre. Zwölf punktierte Noten in den ersten vier Takten des Chorals „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ klopfen deutlich die Uhrzeit. Horch: es ist Mitternacht. Jerusalem schläft, und mit der Stadt schlafen die Jungfrauen, die törichten wie die klugen, die auf ihren Bräutigam warten. Und es schläft, des Wartens müde, die Christenheit, die doch so lange bereits der Wiederkunft Christi, des himmlischen Jerusalems harrt.


    „Wachet auf!“ ruft Johann Sebastian Bach uns zu. Wacht auf und hört eines der großen Meisterwerke der Kantatenkunst. Geschrieben für den selten im Kirchenjahr vorkommenden 27. Sonntag nach Trinitatis – einen Sonntag, den es nur in Jahren gibt, in denen Ostern zwischen dem 22. und 26. März liegt. Am 25. November 1731 war einer dieser Sonntage. Anlass für Johann Sebastian Bach, mit dem heute noch beliebten Kirchenlied „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ (Nr. 121 im Evangelischen Kirchengesangbuch) seinen Zyklus von Choral-Kantaten zu komplettieren.


    Das 1599 von Philipp Nicolai geschriebene „Geistlich Brautlied“ hat nur drei Strophen – aus dieser Not machte Bach eine Tugend, schob zwischen die Strophen jeweils ein Rezitativ und eine Duett-Arie und schuf so ein in sich geschlossenes, klar gegliedertes Werk aus sieben Sätzen. Der Librettist der vier ergänzten Sätze ist unbekannt. Es könnte auch gut Bach selber gewesen sein.


    Was aber macht dieses Werk so beliebt, dass es mit rund 40 Aufnahmen (nur die Solo-Kantaten 51 und 82 wurden öfter aufgenommen) zu den drei am häufigsten eingespielten Bachkantaten gehört? Der meisterlich stringente Aufbau? Sicher. Die Entwicklung der musikalischen Themen aus der Choralmelodie? Zweifellos. Aber vor allem wohl doch die Tatsache, dass gleich drei der eingängigsten, schönsten, zu Herzen gehendsten Stücke Bachs in dieser Kantate versammelt sind: zwei Liebesduette, die ihresgleichen suchen, und ein wunderbar melodischer Choralsatz, den Bach nicht ohne Grund später an die Spitze der Schübler-Choräle (BWV 645) stellte.



    Himmlische und irdische Liebe


    Das größte Wunder in dieser Kantate ist für mich aber, wie Bach es hier schafft, auf den Spuren des Choraltextes wandelnd mit dem vom Evangelium des Tages und der Epistel vorgegebenen Thema, diesem „Seid bereit für den jüngsten Tag“, die Feier der irdischen Liebe auch musikalisch zu amalgieren. Bruchlos wechseln in der Kantate himmlische und irdische Liebe, wie selbstverständlich mischen sich die erotischen Andeutungen des Hohenlieds mit dem Gleichnis von den törichten und den klugen Jungfrauen. Wie sich hier zehn Damen in eine einzelne „liebliche Seele“ verwandeln – phantastisch.


    Das führt zugleich zu den möglichen Ursprüngen des Nicolai-Choral zurück, zum mittelalterlichen Topos des Wächterliedes, das geheime Liebesabenteuer zum Thema hatte. Ob Bach bewusst die verborgenen Quellen dieses Chorals nutzte (und ob es diese Quellen überhaupt gab) will ich dahin gestellt sein lassen; beim Ersteren meine ich: Nein (das zweite halte ich für gut möglich).


    Gerne wird in den Beiheften von Bach-CDs darauf hingewiesen, dass die Idee der Jesusminne (das Bild der menschlichen Seele als Braut Jesu) im Zeitalter des Barock eine allgewöhnliche gewesen sei. Bachs Publikum habe in diesen „überraschend erotischen“ Passagen „nur eine eindrucksvolle Darstellung der mystischen Vereinigung“ gesehen, schreibt zum Beispiel Ruth Tatlow im Beiheft der Gardiner-Aufnahme. Selbst wenn es so wäre (ich habe da leise Zweifel), erklärt das nicht die Textauswahl für jene vier Sätze der Kantate, die von Bach zwischen die Choralstrophen gefügt wurden. Der unbekannte Verfasser – Klammer auf: vielleicht Bach selber, Klammer zu – hat Zitate und Satzfetzen überwiegend aus dem Hohenlied Salomos montiert, nicht immer sinnvoll.


    So ist die rätselhafte Zeile im 2. Satz „sein Ausgang eilet aus der Höhe“ ein sinnentstelltes Zitat aus Lukas 1,48. Und bei „Auf meiner Linken sollst du ruhn, und meine Rechte soll dich küssen“, einem ebenso verwirrenden wie fehlerhaften Zitat aus dem Hohenlied 8 Vers 3, bin ich sogar geneigt, einen freudschen Verschreiber anzunehmen. Selbst in der Lutherbibel von 1545 ist da nicht von „küssen“, sondern von „herzen“ die Rede, das Wort küssen findet sich aber in Vers 1, nur wenige Zeilen darüber. Ziemlich sinnlos ist es auch, die Zeile „Mein Freund ist mein und ich bin sein“ wörtlich aus dem Hohenlied zu übernehmen, diese Zeile dann aber zwei Leuten in den Mund zu legen – Sopran: „Mein Freund ist mein“ / Bass: „Und ich bin sein“ – als wäre von einem unbekannten Dritten die Rede. Jakob Stämpfli (Einspielung Richter 1970) und Stephen Varcoe (Gardiner 1990) singen dann auch logischerweise „Und ich bin dein“. Ich bin ihnen dankbar dafür.


    Das Ergebnis der Collage aus dem Gleichnis von den fünf klugen und fünf törichten Jungfrauen, aus der Wächter-Symbolik und den Hohelied-Fetzen ist jedoch ein absolutes Meisterwerk. Wäre nicht mancher Opernkomponist froh gewesen, auch nur ein solches Liebesduett zu schreiben, wie wir hier gleich zwei finden? Romantisch-sehnsuchtsvoll das erste (Satz 3): „Wenn kömmst du?“ „Ich komme!“ „Mein Heil!“ „Dein Teil!“, innig-zärtlich und jubelnd zugleich das zweite Duett (Satz 6), tanzend im Takt einer Bourée: „Mein Freund ist mein und ich bin sein, die Liebe soll nichts scheiden“. Und dazwischen eine der großartigsten Eingebungen Bachs, die Streichermelodie zum Choral „Zion hört die Wächter singen“. Welch ein Werk! (Und, nebenbei erwähnt, ebenfalls eine Bourée, wenn man dies auch in manchen Interpretationen – Richter! – kaum erkennen kann).


    Die Interpretationen


    Von den rund 40 Einspielungen der Kantate habe ich mir neun angehört. Neun oft sehr unterschiedliche. Vier davon sind zur HIP zu rechnen (HIP ist, laut Internet-Enzyclopädie Wikipedia, die Abkürzung für „Historisch informierte Aufführungspraxis“ bzw. für „Heißisostatisches Pressen“ – auf die möglichen Unterschiede will ich jetzt mal nicht eingehen :) ).


    Allein die Länge der Aufnahmen sagt schon viel über Werkauffassung und interpretatorische Absicht der Dirigenten aus. Der Durchschnitt liegt bei 28 bis 29 Minuten. Die Extrempositionen nehmen Karl Richter (34.03 Minuten) und Helmuth Rilling (24.12 Minuten) ein – erstaunliche zehn Minuten Differenz. Wenn ich hier auf jede von mir gehörte Einspielung kurz eingehe, werde ich jeweils an den Schluss zur Information die Zeiten (auch der einzelnen Sätze) und die Namen der Solisten schreiben.


    Ach, und: Die folgenden Beschreibungen sind selbstverständlich subjektiv und geben vor allem meine Eindrücke beim Hören wieder. Ich gehe davon aus, dass jeder Musikfreund diese und alle anderen Bachkantaten auf seine eigene Art hört und versteht.



    Werner I
    Fritz Werner hat die Kantate BWV 140 mit seinem Heinrich-Schütz-Chor Heilbronn und dem Pforzheimer Kammerorchester zweimal eingespielt: im Oktober 1959 mit Ingeborg Reichelt (Sopran), Helmut Krebs (Tenor), und Franz Kelch (Bass), gut zehn Jahre später, im Februar 1970, dann mit der Sopranistin Hedy Graf, dem Tenor Kurt Huber und als Bass Jakob Stämpfli. Zwei Interpretationen vom gleichen Dirigenten – natürlich ist man da neugierig. Gibt es einen grundsätzlichen Wandel? Andere Ansätze, das Werk zu verstehen? Gar neue, revolutionäre Auffassungen? Drei Fragen, drei Antworten: Nein. Nein. Nein. Die spätere Aufnahme ist nicht grundsätzlich anders. Aber sie ist besser.


    Ohne dass die erste schlecht wäre. Werner hat die Aufführung 1959 konventionell angelegt: satter Chorklang, ausreichend Platz für die Gesangssolisten, die Instrumente eher dienend als solistisch konzertierend. Aber nichts wirkt fett, nichts wird übertüncht. Mit knapp 31 Minuten Gesamtlänge gehört diese Aufnahme in die Kategorie „gemächlich“, ohne langatmig zu wirken. Zwar kommt der einleitende Choral eher gravitätisch daher. Aber das Duett Dr. 6 ist wunderbar tänzerisch. Das Auffallendste scheint mir zu sein, dass bei einer guten Gesamtleistung nichts wirklich Herausragendes zu hören ist. Und wenn es dann im mächtigen Schlusschoral ein wenig an der Aufnahmetechnik hapert, sehe ich das nur als eine Erinnerung daran, wie solide diese Kantate insgesamt eingespielt worden ist. Nicht selbstverständlich für die 50er Jahre.


    Fritz Werner Okt. 1959
    Heinrich-Schütz-Chor Heilbronn, Pforzheimer Kammerorchester
    Ingeborg Reichelt Sopran, Helmut Krebs Tenor, Franz Kelch Bass
    Länge 30.58 Minuten (8.44 / 1.04 / 5.47 / 5.10 / 1.36 / 6.11 / 2.26)



    Mauersberger
    „Schlafmützig“ sei der Leipziger Thomanerchor in dieser Aufnahme, die Thomaskantor Erhard Mauersberger 1966 mit dem Gewandhausorchester einspielte, hieß es vor einigen Jahren in einer Internet-Diskussion. Nun, sagen wir einmal: der Chor wirkt verhalten, manchmal gar unsicher. Es klingt keine Begeisterung heraus, kein jubelndes „Halleluja“. Auch das Orchester spielt im 1. Satz merkwürdig matt, der Satz schleppt sich dahin, wirkt länger, als er tatsächlich (7.30 Minuten) ist. Das setzt sich im ersten Duett fort. Wenn die Aufnahme Werner I gemächlich ist, ohne langatmig zu wirken, dann wirkt diese hier langatmig, ohne wirklich gemächlich zu sein. Agnes Giebel und Theo Adam klingen in ihren Duetten nicht gerade romantisch und verliebt, sondern eher triumphierend, aber auch das hat seinen Reiz. Dass Mauersberger im letzten Satz den Text der Bach-Version in die heutige Kirchenlied-Fassung abändert, wird ihm nur ein Kritikaster vorwerfen wollen; aber erwähnen will ich es schon.


    Was diese Kantatenaufnahme zu etwas Besonderem macht, ist der Gesang von Peter Schreier. Dazu muss ich ein wenig weiter ausholen.


    Ein Dirigent, der BWV 140 aufführen will, muss sich beim 4. Satz, dem Choral „Zion hört die Wächter singen“ entscheiden: Sollen die Zuhörer wirklich „die Wächter“ hören? Oder nur einen? Singen alle Tenöre der Chores oder nur der Solist? In den modernen HIP-Aufnahmen entscheidet man sich meist für den Solisten, nur (meines Wissens) Gardiner und Koopman nehmen die Chor-Variante. Bei den traditionellen Interpretationen hieß die Antwort jedoch fast immer „der Chor“. Mit gutem Grund. Denn um gegen die mächtige Melodie zu bestehen, braucht es entweder einen Sänger mit der Stimmgewalt einer Schiffssirene, oder das Orchester muss sich so weit zurück nehmen, dass aus dem strömenden Fluss der Choralmelodien ein plätscherndes Bächlein wird. Lediglich zwei Dirigenten der alten Schule entschlossen sich, den Tenor im 4. Satz solo zu besetzen: Mauersberger und elf Jahre später Karl Richter. Beide engagierten Peter Schreier.


    Im ersten Fall bei Mauersberger ging das gut. Dieser Choral ist ein Glanzstück, und Schreier singt es grandios. Als ich ihn das erste Mal in dieser Aufnahme hörte, liefen mir Schauer über den Rücken.


    Erhard Mauersberger Okt. 1966 Thomaskirche Leipzig
    Thomanerchor Leipzig, Gewandhausorchester Leipzig
    Sopran Agnes Giebel, Tenor Peter Schreier, Bass Theo Adam
    Länge 28.38 Minuten (7.30 / 1.01 / 6.16 / 4.05 / 1.39 / 6.16 / 1.51)



    Werner II
    Andachtsvoll und freudig zugleich, ernsthaft mahnend zum Beginn, jubelnd im Abschluss und voller Sehnsucht und Heiterkeit in den Duetten – viel, sehr viel von dem, was an Möglichkeiten in Text und Musik dieser Bachkantate angelegt ist, setzt Fritz Werner 1970 in seiner zweiten Aufnahme um. Mit einem fast makellosen Hochleistungschor, mit sicheren Musikern und überragenden Solisten: Tenor Kurt Huber in seiner Wächter-Rolle, ganz der beflissen-stolz ankündigende Herold! Liebend und sorgend zugleich Jakob Stämpfli in seinem Bass-Rezitativ – nur Dietrich Fischer-Dieskau hat das in den mir bekannten Aufnahmen besser gesungen. Und dann Hedy Graf mit ihrer silbern glänzenden Stimme! Phantastisch.


    Höhepunkte sind die beiden Duette. Wunderbar romantisch leitet die Solo-Violine das sehnsuchtsvoll-drängende erste Duett ein – Hedy Graf und Jakob Stämpfli scheinen sich blind zu verstehen – tanzend, flirrend geht es in das zweite Duett, die Oboe sanft und lockend voran – strahlendes Glück im Sopran – Zärtlichkeit und Vertrauen im Bass – immer inniger verschmelzen die Stimmen – „da Freude die Fülle, da Wonne wird sein“ – gleich, gleich nehmen sie sich in den Arm – „die Liebe soll nichts scheiden“. – – – Ach, ist das wunderbar.


    Wenn man die Augen wieder öffnet, sind nicht Stunden, sondern nur sechseinhalb Minuten vergangen. Aber auch das ist schon erstaunlich – dass diese so tänzerisch-schwungvolle Fassung der zweiten Duettarie zugleich die langsamste unter den von mir gehörten neun Fassungen ist. Manche andere wirkt lahmer und ist schneller vorbei.


    Natürlich ist auch diese zweite Einspielung der Kantate „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ durch Fritz Werner nicht perfekt. Aber es ist meine Lieblingsinterpretation, und deshalb verrate ich jetzt mal nichts. Soll doch jeder die kleinen Macken, so er sie denn finden will, bitte selber suchen.


    Fritz Werner Februar 1970
    Heinrich-Schütz-Chor Heilbronn, Pforzheimer Kammerorchester
    Hedy Graf Sopran, Kurt Huber Tenor, Jakob Stämpfli Bass
    Länge 30.40 Minuten (8.14 / 1.20 / 5.33 / 5.07 / 1.38 / 6.34 / 2.14)



    Richter II
    Schon 1955 hat Karl Richter die Kantate BWV 140 aufgenommen, die bekanntere ist jedoch die zweite Aufnahme mit Edith Mathis, Peter Schreier und Dietrich Fischer-Dieskau, die 1977/78 entstand. Ich will hier kurz begründen, warum ich sie erstens entsetzlich und zweitens hörenswert finde.


    Oft werden Bachkantaten in einem, so finde ich, geradezu rasenden Tempo gespielt. Viel zu schnell. „Bachs Musik braucht vor allem Ruhe, Geduld, langsame Tempi“ versichert Maarten t’Hart („Bach und ich“), und da folge ich ihm gern. Bei Richter allerdings habe ich den Eindruck, er quält diese Kantate 34 Minuten lang zu Tode. Fast zehn Minuten dauert der erste Satz. Sicher, das extrem langsame Tempo macht Einzelheiten der Musik hörbar, die sonst kaum zu entdecken sind. Aber es verfälscht den Charakter, die Stimmung des Werkes. Statt freudiger Erwartung gibt es steif-ernsthafte Feierlichkeit, statt eines jauchzenden „Hosianna!“ im 4. Satz, dem Tenor-Choral, einen Trauermarsch. Heißt es nicht im Text von der Braut, „sie wachet und steht eilends auf“? Die Musik spielt dazu, als würde sie zu Grabe getragen. Das kann auch Peter Schreier nicht retten, der sich redlich Mühe gibt.


    Das größte Manko der Aufnahme jedoch ist für meine Ohren Edith Mathis. Sie geht den Sopran-Part hochdramatisch an, wie um zu beweisen, was sie alles drauf hat. Wenn das eine Braut Christi sein soll, dann eine sehr schrille Braut. Mir ist ihre Stimme hier fast unerträglich.


    Zwei Gründe gibt es, die mir diese Einspielung dennoch wichtig machen. Zum einen der 5. Satz, das Bass-Rezitativ. Dietrich Fischer-Dieskau singt das kleine Stück so perfekt, so zu Herzen gehend... Hätte er doch nur in den beiden Duetten eine andere Partnerin gehabt!


    Das andere ist das Oboenspiel von Manfred Clement im 6. Satz, dem Duett „Mein Freund ist mein“. Von Oboenspieltechnik habe ich keine Ahnung, ich weiß nicht, was der Mann da macht und wie er es macht. Aber es ist zum Niederknien.


    Karl Richter 1978/79
    Münchener Bach-Chor, Münchener Bach-Orchester
    Edith Mathis Sopran, Peter Schreier Tenor, Dietrich Fischer-Dieskau Bass
    Länge 34.03 Minuten (9.39 / 1.20 / 6.55 / 5.58 / 1.59 / 6.23 / 1.49)



    Rilling
    In 24.12 Minuten rast Helmuth Rilling mit seinen Gächingern durch das Werk. Die fünf Minuten, die Karl Richter zu langsam ist, ist er zu schnell. Aber ich kann jeden verstehen, der diese Aufnahme hoch schätzt. Rilling macht Vieles richtig. Er betont den tänzerischen Charakter des Werkes. Nicht nur in den Sätzen 4 und 6, auch im Eingangschoral ist ein hinreißender Drive, hört man die jubelnde Freude auf das Kommende: „Macht euch bereit zu der Hochzeit!“


    Als Basso Continuo setzt Rilling Cello, Kontrabass und Cembalo statt der Orgel ein. Cembalistin Martha Schuster greift dabei im 2. Satz, dem Tenor-Rezitativ, beherzt in die Tasten und liefert eine Art konzertierender Cembalo-Begleitung. Ich fand das nach dem ersten verblüfften Hinhören witzig. Das hübsche Geklimper tröstet über die fatalen Bemühungen des Sängers hinweg.


    Während Arleen Augér und Philipp Huttenlocher im ersten Duett noch uninspiriert wirken, ist ihr zweites Duett geradezu freudesprühend. Sehr ansprechend – leider viel zu schnell. „In Himmels Rosen weiden“ sollen die beiden, so steht es im Libretto. Weiden! Nicht galoppieren!


    Helmuth Rilling 1983/84
    Gächinger Kantorei Stuttgart, Württembergisches Kammerorchester Heilbronn
    Arleen Augér Sopran, Aldo Barin Tenor, Philippe Huttenlocher Bass
    Länge 24.12 Minuten (6.08 / 1.09 / 5.08 / 3.51 / 1.30 / 4.52 / 1.34)



    Harnoncourt
    Gar nicht so einfach, so alte Instrumente zu spielen, was? 1971 hat Nicolaus Graf de la Fontaine und d'Harnoncourt-Unverzagt begonnen, mit seinem Ensemble Concentus musicus (und im Wechsel mit Gustav Leonhardt) Bachkantaten auf alten Instrumenten und nach seinen Grundsätzen der „Musik als Klangrede“ aufzunehmen. Über 20 Jahre hinweg entstanden wegweisende und gelegentlich großartige Einspielungen. Diese hier, 1984 aufgenommen, gehört für mich nicht dazu.


    Musiker, Chor und Solisten – so jedenfalls mein Eindruck – finden in dieser Aufnahme nie wirklich zueinander. Der Tölzer Knabenchor erscheint mir nervös, unausgewogen, in den tieferen Lagen überfordert.


    Das soll nicht heißen, dass diese Einspielung ohne Schönheiten wäre. Im 1. Satz zum Beispiel, der ansonsten seltsam schwunglos gesungen wird, gibt es die Stelle, wo der Chor zum ersten Mal „Alleluja“ singt – fragend, leise, fast ungläubig, um sich dann im Jubel zu steigern. Das ist sehr gut. Oder auch die wunderbar romantische Violinbegleitung des ersten Duetts, gespielt von – nehme ich an – Alice Harnoncourt. Herrlich. Kurt Equiluz schließlich, auch wenn er sich gegen Ende des mittleren Chorals sehr anstrengen muss, singt ausdrucksstark.


    Ein Solist des Tölzer Chores, Alan Bergius, singt den Sopranpart. Bei den ersten Tönen des Duetts „Wenn kömmst du mein Heil?“ dachte ich: „Donnerwetter! Der kann es tatsächlich!“ Denn der Jungensopran fängt stark an. Leider kann er das aber nicht durchhalten. Bei den hohen Tönen („Eröffne den Saal“) wird er schrill, bei einigen tiefen bleibt ihm fast die Stimme weg. Von der Anstrengung wird seine Stimme rau und zittrig. Und der Bass Thomas Hampson ist nicht die Hilfe, die Bergius nötig gehabt hätte. Am Ende ist es dann nicht mehr der Gesang zweier Liebender, sondern nur noch der tapfere Versuch zweier Sänger, einigermaßen unverletzt aus dem Irrgarten der Partitur zu entkommen.


    Nikolaus Harnoncourt 1984
    Tölzer Knabenchor, Concentus musicus Wien
    Alan Bergius Sopran, Kurt Equiluz Tenor, Thomas Hampson Bass
    Länge 28.29 Minuten (7.10 / 0.58 / 6.33 / 3.59 / 1.37 / 6.23 / 1.49)



    Rifkin
    Dies ist eine OVPP-Aufnahme. Die Abkürzung steht für „One Voice per Part“. Ein Sänger pro Stimmlage. Und der Chor? Wo bleibt der Chor? Da ist kein Chor, nirgends. Die vier Solisten sind der Chor. Kann das gut gehen?


    Ja, es geht gut. Mehr oder weniger. Ich war jedenfalls selber erstaunt, als beim Aufstellen meiner eigenen kleinen privaten Rangliste diese Aufnahme sehr weit oben landete.


    Hervorragende Musiker, diszipliniertes Spiel, straffe Leitung: es ist eine Freude, dem Ensemble zu lauschen. Die Interpretation stimmt – diese Mischung aus Erwartung, Zärtlichkeit und jubelnder Freude. Im Eröffnungschoral lassen sich musikalische Zusammenhänge hören, die sich mir bei fetteren Besetzungen nicht so leicht erschließen. Fast alles stimmt, bis auf das durchweg zu flotte Tempo, vor allem in den Rezitativen. Im abschließenden Choral „Gloria sei dir gesungen“ fehlt natürlich die Wucht, das lässt sich nicht durch Aufnahmetechnik ausgleichen. Immerhin: Das „io, io“ kommt fröhlicher, begeisterter als in mancher Einspielung mit großem Chor und Orgel.


    Es ist schwer, eine solche fast kammermusikalische Aufführung einer Bachkantate mit einem Großereignis traditioneller Aufführungspraxis à la Scherchen oder Richter zu vergleichen. Ein wenig ist es so, als habe man einige der besten Solisten solcher Groß-Einspielungen zu einem Konzert privatissime ins Wohnzimmer eingeladen. Der Nachteil bei solcher OVPP-Praxis: Fehler und schwache Interpreten fallen natürlich doppelt unangenehm auf.


    Der Tenor zum Beispiel, Jeffrey Thomas. Dessen amerikanischer Akzent ist schon sehr störend. Und er verschluckt Silben. Wenn einer singt „den Bräutgam zu empfahgn“ ist der Zauber der Szene zerstört – mir jedenfalls geht das so.


    Zum Ausgleich ist das zweite Duett „Mein Freund ist mein“ in dieser Aufnahme himmlisch schön – so voller Freude und zärtlicher Ausgelassenheit...


    Joshua Rifkin 1986
    The Bach Ensemble
    Sopran Julianne Baird, Countertenor Drew Minter, Tenor Jeffrey Thomas, Bass Jan Opalach
    Länge 25.01 Minuten (6.13 / 0.53 / 5.19 / 3.47 / 1.19 / 5.29 / 2.00)



    Gardiner
    Eine Aufnahme aus Gardiners Rush-Hour-Phase. Motto: Wir eilen mit schwachen doch emsigen Stimmen...


    Nein, das war jetzt zu boshaft und auch ungerecht. Immer wieder bewundernswert ist gerade bei John Eliot Gardiner eine perfekte Balance zwischen Stimmen und Instrumenten – wenn sie dann einmal wie hier nicht immer optimal ist, etwa gegen Ende des 4. Satzes, wo selbst alle vier Tenöre des Chores nicht gegen die Instrumente ankommen, dann sollte das kein Grund sein, sich zu beschweren. Und außerdem: es ist wie stets bei Gardiner eine Live-Aufnahme.


    Ärgerlich ist mir auch in dieser Einspielung nur die entsetzliche Hast. Eine Bachkantate ist doch kein Minutenwalzer! Die Sätze rauschen bei ihm nur so vorbei...


    Dies von der Gesamtsumme abgezogen bleibt nur Lob übrig. Lob und Bewunderung. Gardiner bietet eine durchdachte und kristallklare Aufnahme, mit einem Weltklassechor, großartigen Musikern. „Hosianna“ heißt in dieser Einspielung das Schlüsselwort. Die Kantate kommt schwungvoll daher, tänzerisch, mitreißend, beim Hören fühle ich mich in einen Strudel hochzeitlicher Freude hineingezogen.


    Überragend: Ruth Holton in den beiden Liebesduetten. Ja, ich kenne die Einwände Musik kritisierender Fachleute, die Holton betreffend. Ihre Stimme sei nicht wandlungsfähig genug. Der Stimmumfang zu gering, tiefere Töne problematisch. Alles zugegeben. Und dennoch schmelze ich weg, wenn sie Bachkantaten singt. So wie in diesen beiden Duetten. Dieser Wandel von gespielter kindlicher Unschuld zu liebendem Vertrauen – das ist hinreißend gesungen.


    Ohnehin sind die letzten beiden Sätze der Kantate meisterhaft interpretiert. Nr. 6, das zweite Duett, kommt keck und tänzerisch, fast neckisch daher, wunderbar von der Oboe akzentuiert. Zu dieser Auffassung passt sogar das rasante Tempo.


    Und dann, ein bewusster Bruch, das abschließende „Gloria sei dir gesungen“! Erschreckend wuchtig, mächtig, jubelnd, inbrünstig, ohne Scheu vor massivem Einsatz der Instrumente. So großartig habe ich es in keiner anderen Einspielung gehört.


    John Eliot Gardiner März 1990 Shaftesbury, Großbritannien
    Monteverdi Choir, English Baroque Soloists
    Ruth Holton Sopran, Anthony Rolfe Johnson Tenor, Stephen Varcoe Bass
    Länge 24.35 Minuten (6.17 / 0.52 / 5.32 / 3.49 / 1.27 / 5.03 / 1.35)



    Leusink
    Vernichtende Kritiken habe ich schon über diese Einspielung von Pieter Jan Leusink gehört. Sie sei „die Karikatur einer der größten Kantaten Bachs“, die 1. Oboe erinnere „an die schlimmsten Stellen der Harnoncourt-Aufnahmen“, einige Chor-Soprane seien „schwach bis nicht vorhanden“. Und so munter weiter.


    Nun, ganz so schlimm ist es nicht. Aber so richtig gut ist es leider auch nicht. Zu viele der an dieser Aufnahme Beteiligten wirken schlichtweg indisponiert.


    Dabei: Leusink ist nicht ohne Konzept! Er betont das Geheimnisvolle des nächtlichen Geschehens, die Erwartung, die in den Jubel der Erfüllung übergeht. „Mitternacht heißt diese Stunde“, und in seinem 1. Satz ist es wirklich eine mitternächtliche Stimmung, geheimnisvoll und freudig zugleich, das finde ich schön gemacht.


    Wenn da nicht diese Schwächen wären. Warum nur hat Leusink sich entschlossen, die Tenorpartie im 4. Satz solo zu besetzen? Auch andere Tenöre als Nico van der Meel wären da überfordert. Aber van der Meel hat noch nicht einmal die Mittel, das zu kaschieren. Um im zweiten Teil des Chorals bei den tiefen Tönen mithalten zu können, bräuchte er einen Blasebalg als Lunge; anhören tut es sich eher nach Luftpumpe.


    Indisponiert ist in dieser Aufnahme vor allem die Sopranistin Ruth Holton. 1990 hat sie die gleiche Kantate bereits mit Gardiner aufgenommen, da war sie grandios. Dass ihre Stimme zehn Jahre später nicht schlechter klingt, beweist sie in manchen anderen Kantaten. Aber in ausgerechnet dieser singt sie, als habe sie sich nach einer schweren Erkältung zu früh wieder gesund schreiben lassen. Besonders im 3. Satz, dem Duett „Wenn kömmst du?“ gibt es Stellen, da fragt man sich: Singt sie das jetzt sotto voce oder bleibt ihr gleich die Stimme weg? Unwillkürlich drückt man ihr beim Zuhören die Daumen, und es geht dann auch gerade noch gut.


    Im zweiten Duett ist es besser. Und wenn dann der Chor zum Ende singt „Kein Ohr hat je gehört solche Freude“, kann ich getrost widersprechen: doch, ein wenig habe ich schon davon gehört, da will ich mich gar nicht beklagen.


    Pieter Jan Leusink, Jan./Feb. 2000
    Holland Boys Choir, Netherlands Bach Collegium
    Ruth Holton Sopran, Nico van der Meel Tenor, Bas Ramselaar Bass
    Länge 27.38 Minuten (7.15 / 1.03 / 6.04 / 4.18 / 1.24 / 5.55 / 1.39)



    Fazit


    Meine Lieblingsinterpretationen, in dieser Reihenfolge: Werner II, Gardiner, Rifkin.


    Außergewöhnliche Sätze in anderen Aufnahmen: Peter Schreier im 4. Satz bei Mauersberger, Dietrich Fischer-Dieskau im 5. Satz und Manfred Clement im 6. Satz bei Richter II, die Sätze 1 und 2 bei Rilling.



    Alfons

  • Hallo alfons,


    danke für den grandiosen Beitrag! :jubel: :jubel: :jubel: Er legt die Meßlatte für folgende Beiträge gleich zu Beginn unseres Projektes sehr hoch an.


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    Ich habe nur die beiden Aufnahmen von Leusink und Richter II. Bei beiden komme ich zu sehr ahnlichen Einschätzungen wie alfons.


    Richter II ist einfach nur breitgewalzt. Umso höher ist Schreiers Leistung im Choral Zion hört die Wächter singen zu bewerten. Die meisten Tenöre würden bei dem Tempo wahrscheinlich verrecken. Was mich außerdem sehr in dieser Aufnahme stört, ist die geradezu vulgäre Artikulation im Chor (z.B. Miiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiitääääääääääääääääärnaaaaaaaaaaaaaacht), das äußerst uninspieriert spielende Continuo (was bei dem Tempo allerdings auch kaum besser zu machen ist). Man merkt der Interpretation auch den eigentlichen Beruf Richters als Organist an, nämlich an den endlos gehaltenen Schlußakkorden der einzelnen Sätze. :D


    Leusink ist dann das komplette Gegenteil, dünn, zaghaft, oft zu schnell. Was alfons schon dazu schrieb, empfinde ich genauso, möchte aber noch weitere Punkte anführen, die diese Aufnahme für mich als lausig erscheinen läßt. Da wäre z.B. die Soloinstrument im ersten Duett, ein Violoncello piccolo. Das klingt in dieser Aufnahme erstens wie eine Kindergeige und zweitens ist die Partie auch noch sehr unsauber gespielt. Weiters ist da der Chor-Alt, bei dem in der höheren Lage die Altisten unangenehm herausstechen. Zudem ist vom Chor generell zu vermerken, dass die Artikulation mangelhaft ist. Einziger Lichtblick ist für mich die schön timbrierte Stimme des Baßsolisten, der aber für die Duette keine gleichwertigen Partnerin hat. Beim ersten Hören meinte ich, dass da ein Knabensolist sänge...



    Fazit für mich: es wird Zeit, eine vernünftige Aufnahme dieser Kantate zu kaufen. alfons' Beitrag wird mir dabei eine große Hilfe sein.



    herzliche Grüße,
    Thomas

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

  • hallo,


    @ alfons: superber beitrag!


    auch ich habe von dieser kantate die beiden von thomas genannten aufnahmen (richter II und leusink), dazu noch rilling.
    meine einschätzung deckt sich weitgehend mit der meiner vorredner.


    richter ist für mich der loser. viel zu breite tempi, dazu ein übermaß an pathos - das klingt irgendwie wie filmmusik für einen schmachtfetzen. :no: edith mathis finde ich wie alfons viel zu dramatisch, und fi-di ist für mich sowieso schwer auszuhalten - obwohl er hier eigentlich weitgehend ohne sein berüchtigtes bellen auskommt. einzig peter schreier ist der lichtblick in dieser imo sonst relativ überflüssigen aufnahme.


    leusink ist besser, aber leider nicht sehr viel. das ganze werk plätschert hier seltsam teilnahmslos dahin - man hat das gefühl, es wird einfach runter gespielt. "das Geheimnisvolle des nächtlichen Geschehens, die Erwartung, die in den Jubel der Erfüllung übergeht", wie alfons es beschrieb, kann ich jedenfalls hier nicht erkennen. sehr gut finde ich, wie fast bei allen kantaten unter leusink, den bassisten bas ramselaar, leider bleibt seine partnerin in den duetten, ruth holten, hier recht blass. durchaus gefallen kann mir auch der tenor nico van der meel, dessen stimme ich sympathisch finde.


    and the winner is: hellmuth rilling!
    nach diesen 2 mehr oder weniger großen "einfahrern" zeigt dann rilling endlich, wie man's machen muß. mit biss und drive, hoher musikalität und hervorragenden spielern und solisten (bis auf den tenor aldo baldin). die schnellere geschwindigkeit stört mich überhaupt nicht, im gegenteil, da ist richtig pfeffer dahinter. und das ganze passt ja auch irgendwie zum positiven text. neben der superben gächinger kantorei ist besonders das inspirierte spiel der begleitenden musiker zu erwähnen. dies ist imo eine von rillings gelungensten kantaten-aufnahmen.


    greetings, uhlmann

  • Salut zusammen !


    Daß ich ein (wenn auch gewiß nicht unkritischer) Fan Karl Richters bin, habe ich hier ja bereits durch mehrere Beiträge publik gemacht:


    Daher scheinen mir auch einige Anmerkungen zu Richters später Einspielung obiger Kantate angebracht:


    Richters innere Berufung zum Bach-Interpreten begann nach dem erstmaligen Hören dieses Werks als etwa Zwölfjähriger - und mit Beginn seiner Münchener Zeit ist es niemals mehr von den Programmzetteln seiner Livekonzerte verschwunden.


    Was nun den Auftakt bzw. das Tempo des Anfangschorus anlangt, so hat er seinen recht langsamen Atem einmal mit der betreffenden Bibelstelle einleuchtend begründet:
    Dort schlafen sowohl die klugen als auch die törichten Jungfrauen ein; der Bräutigam kommt, worauf sie erst dann aufwachen - und wenn man aus tiefem Schlaf erwacht, kommt man nicht sofort in ein schnelles Tempo, man muß es langsam angehen...


    Dieses paraphrasierte Zitat - übrigens eines der wenigen Statements Karl Richters zu seiner Interpretationsauffassung Bachs - illustriert die geistige Durchdringung der Bach'schen Musik, wie sie wahrscheinlich nur einem protestantischen Pfarrerssohn wirklich gelingen kann.


    Dazu: Manfred Clements Oboenspiel halte ich ebenso für genialisch !


    Beste Grüße,


    Gerd

    2 Mal editiert, zuletzt von Gerd ()

  • Zitat

    Original von alfons
    Und bei „Auf meiner Linken sollst du ruhn, und meine Rechte soll dich küssen“, einem ebenso verwirrenden wie fehlerhaften Zitat aus dem Hohenlied 8 Vers 3, bin ich sogar geneigt, einen freudschen Verschreiber anzunehmen. Selbst in der Lutherbibel von 1545 ist da nicht von „küssen“, sondern von „herzen“ die Rede, das Wort küssen findet sich aber in Vers 1, nur wenige Zeilen darüber.


    Nein, das ist um des Reimes willen ("müssen - küssen"; an der entsprechenden Stelle im Hohelied Salomonis geht es zur Sache, egal ob da nun herzen oder küssen steht ;))


    Zitat


    Harnoncourt
    Musiker, Chor und Solisten – so jedenfalls mein Eindruck – finden in dieser Aufnahme nie wirklich zueinander. Der Tölzer Knabenchor erscheint mir nervös, unausgewogen, in den tieferen Lagen überfordert.


    Der Chor ist in der Tat nicht mit einem Spitzenchor wie dem Gardiners zu vergleichen; ich schätze dennoch die Knabenstimmen und nähme auch die klaren Unzulänglichkeiten des Solisten in Kauf, wenn nicht wie Du sagst, Hampson, auch nicht viel besser wäre (das ist m. E der überschätzteste Sänger der letzten 20 Jahre; in der Opern mag es gehen, weil er groß ist und fesch ausschaut, aber bei Bach ist er eine totale Fehlbesetzung).
    Ein paar Sachen hat NH mit dem Schönberg-Chor für DVD erneut aufgenommen, ich fürchte aber BWV 140 ist nicht dabei. Equiluz hat seinen Zenith leider auch ein wenig überschritten; aber er ist immer noch hervorragend besser, klarer und ausdruckstärker als Rolfe Johnson bei Gardiner. Den orchestralen Beitrag finde ich bei Haroncourt eigentlich sehr gut, den Knabenchor akzeptabel, nur eben die Duette suboptimal (wobei das zweite o.k. ist)


    Zitat


    Gardiner
    Ärgerlich ist mir auch in dieser Einspielung nur die entsetzliche Hast. Eine Bachkantate ist doch kein Minutenwalzer! Die Sätze rauschen bei ihm nur so vorbei...


    Also der einzige Satz, der etwas zu schnell ist, ist das erste Duett. Alle anderen finde ich verglichen (kenne nur die beiden!) mit Harnoncourt unproblematisch (obwohl Gardiner überall etwas schneller ist).


    Zitat


    Überragend: Ruth Holton in den beiden Liebesduetten. Ja, ich kenne die Einwände Musik kritisierender Fachleute, die Holton betreffend. Ihre Stimme sei nicht wandlungsfähig genug. Der Stimmumfang zu gering, tiefere Töne problematisch. Alles zugegeben. Und dennoch schmelze ich weg, wenn sie Bachkantaten singt. So wie in diesen beiden Duetten. Dieser Wandel von gespielter kindlicher Unschuld zu liebendem Vertrauen – das ist hinreißend gesungen.


    Sagen wir mal so: sie ist ein fast idealer Knaben-Ersatz; mitunter klingt die Stimme einer Knabenstimme zum Verwechseln ähnlich, nur eben präziser und kräftiger.
    Ich habe bei Gardiner ein gewisses Problem mit dem Klang; man muß sehr laut aufdrehen und es bleibt immer noch distant. Insgesamt finde ich Haronccourts Orchester klangschöner und wärmer.


    Zitat


    Und dann, ein bewusster Bruch, das abschließende „Gloria sei dir gesungen“! Erschreckend wuchtig, mächtig, jubelnd, inbrünstig, ohne Scheu vor massivem Einsatz der Instrumente. So großartig habe ich es in keiner anderen Einspielung gehört.


    Der Schlußchor ist mir ehrlich gesagt fast etwas zu bombastisch bei Gardiner, aber gewiß beeindruckend.
    Ich muß mal schauen, ob ich Rilling einzeln finde; Auger sollte fast ideal für die Duette sein und auhc der Rest der Beschreibung hat mein Interesse geweckt.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Für mich ist es natürlich angenehm, wenn ich auf einführende Worte aufgrund der guten Vorarbeit einiger Vorredner verzichten kann.
    Somit möchte ich einige Stellen herausgreifen, anhand deren ich einige Gedanken zur Interpretation formulieren möchte.
    Meiner Ansicht nach gelangt man dann zu einer schlüssigen und überzeugenden Interpretation, wenn man versucht, die Bedeutung des Notentextes hinsichtlich möglichst vieler Aspekte zu verstehen. Die Werkanalyse, die vor allem auch die affektbezogene Gestik der barocken- oder hier besser gesagt- der Bachschen Klangrede miteinbezieht, ist für mich der vielversprechendste Weg, den ein Interpret gehen kann.
    Dieser analytische Prozess muss und sollte keineswegs bedeuten, dass das spätere klingende Resultat sachlich kalt und analytisch klingt, ganz im Gegenteil.
    Häufig empfinde ich gerade die Interpretationen als langweilig, bei denen man hört, dass sich der Interpret nicht besonders viele Gedanken gemacht hat. Wenn er dann durch schnelle Tempi die Bedeutungsleere übertüncht, gibt es zwar viele Bachfreunde, die das nicht stört, weil es ihnen nicht auffällt.
    Spätestens bei genauerem Hinhören und Hinsehen ( Partitur!) sollten solche Defizite aber hörbar werden.


    Grundsätzlich bevorzuge ich Bach-Interpretationen, die möglichst authentisch sind und bei denen gleichzeitig ein hörbarer Respekt vor dem Notentext und der historischen Aufführungspraxis der Entstehungszeit vorhanden ist. Mit "möglichst authentisch" meine ich nun nicht, dass jemand den irrwitzigen Versuch unternimmt, es genau so klingen zu lassen, wie es am 25.11.1731 unter Bachs Leitung erklang.
    Ein Bachinterpret kann immer nur gegenüber sich selbst authentisch sein.
    Wenn man einen Dirigenten also nach wenigen Tönen zweifelsfrei erkennt, dann ist das für mich grundsätzlich erst einmal positiv. Ob das, woran man ihn erkennen kann, etwas Positives ist, stellt sich dann bei einer genaueren Betrachtung heraus.


    Nun einige Bemerkungen zu den einzelnen Sätzen


    Satz 1: Choral "Wachet auf ruft uns die Stimme"


    Auffallend sind bereits in Takt 1-2 die punktierten Achtel, die ich in der Tat als 12 Glockenschläge (Mitternacht!) ansehe.
    Man muss m.E. schon musikalisch blind sein, hierin nicht das "Bahmm - balamm, balamm, balamm" eines Glockengeläuts wiederzuerkennen. So direkt und einfach kann manchmal Klangrede sein :)
    Wie sollte man solche Figuren nun interpretieren?
    Zunächst sollte man ein dynamisches Grundbetonungsmodell der Zählzeiten des 3/4-Taktes in seine Überlegungen miteinbeziehen, das gemäss der hist. Aufführungspraxis m.E: so aussehen sollte: 1 2 3
    Die 3 ist also schon etwas als hebender Auftakt zur nächsten 1 zu sehen.
    Genau dies sollte man aber eher in der Achtelbegleitung des Continuos heraushören, nicht aber in den Glockenfiguren der Streicher und der Oboen.
    Diese sollten vor allem die 1 dynamisch und auch durch artikulatorische Verbreiterungen betonen: ""Bahmm - balamm, balamm, balamm"
    ES IST SOWEIT, DIE STUNDE IST DA!
    Durch die Verbreiterung der jeweils ersten Noten dieser Figur bekommt diese einen - wie ich finde- ernsthaften und gewichtigen Charakter, was auch einem der Affekte des Eingangschors entspricht.


    Wie sehen diese Affekte nun aus?
    Der Choraltext und das zugrundeliegende Gleichniss von den 5 klugen und den 5 törichten Jungfrauen beinhaltet für mich einen durchaus gemischten Affekt:
    Einerseits die erwartungsvolle Freude der Brautgemeinde, die dem Bräutigam entgegengehen darf, andererseits aber auch der heilige und tiefe Ernst, der aus dem Zwang resultiert, für diesen grossen Augenblick auch bereit zu sein. " Macht euch bereit! Ihr müsset Ihm entgegengehen"
    Die Zeit bis zu diesem Augenblick, bei dem der Bräutigam Jesus die Klugen als seine Brautgemeinde aufnehmen und die törichten, unvorbereiteten Jungfrauen von sich weisen wird, schreitet unerbittlich fort.
    Diese Unerbittlichkeit kommt für mich sehr schön durch die zunächst im Continuo und später auch in anderen Stimmen fortgeführte 1 2 3 - Figur ( Achtelnoten, die genau auf den Zählzeiten des 3/4-Taktes liegen) zum Ausdruck.
    Figuren und Affekte hängen bei Bach also sehr eng zusammen.
    Eigentlich sind es mindestens drei Affekte, die sich anhand der Figuren erkennen lassen:
    1. heiliger Ernst -> Glockengeläut der punktierten Achtel
    2. Unerbittlichkeit der fortschreitenden Zeit -> durchgehende Achtel auf den Viertel-Zählzeiten.
    3. sich aufmachen, Aufstehen: z.B. die synkopisch unterbrochenen Sechszehntel-Gesten der ersten Violinen Takt 5-6, die von den Oboen ab Takt 6 imitiert werden. Das Aufwachen der Jungfrauen muss hier gemeint sein, denn es handelt sich ja schliesslich auch um eine figurative Umspielung der ersten Noten des Chorals. Zunächst ist es nur ein sich "Aufrappeln" ab Takt 8 mündet die Figur in eine punktierte Halbe.
    Hier hat die Jungfrau sich aus der Dunkelheit der Mitternacht aufgemacht und gelangt ins
    4. strahlende Licht der Herrlichkeit, dass vor allem in den Oboen ab Takt 9. hier besonders Takt 10 , Halbe auf der zweiten Zählzeit, deutlich hörbar wird.
    Während die Oboen die Herrlichkeits-Halben spielen, hört man von den ersten Violinen ab Takt 9 eine nach oben aufsteigende Figur, die vielleicht an die
    5. Entrückung der Brautgemeinde denken lassen soll.
    6. Höhe, "sehr hoch", und auch "hell"
    Zum ersten Mal lässt sich dieser Affekt überdeutlich in Takt 30ff. durch eine gestisch nach oben zeigende Figur im Chor erkennen.
    Bach war diese Stelle so wichtig dass er völlig überraschend die unerbittlichen Achtel auf den Viertelzählzeiten weglässt. Erst in Takt 38 setzen diese wieder ein.
    Wenn man das Bild "Hell = Herrlichkeit = oben" gelten lässt, dann passt diese Deutung auch zur Parallelstelle, bei der vom Chor die Worte "sie rufen uns mit hellem Munde" gesungen werden.
    7. Grosse Freude, die von oben her kommt, Herrlichkeitsfreude
    Diese wird durch die Violinfiguren ausgedrückt, die in Takt 42 in den ersten Violinen beginnen ( gleich mit beglückten kleinen Septimen!) und ab Takt 43 auch von der ersten Oboe mitaufgenommen werden.
    Ich erinnere zur Untermauerung spontan nur an die ähnlichen Figuren des Orchesters beim letzten Satz von BWV 58 ( "..hier ist Angst, dort Herrlichkeit")
    8. Majestätisch und schreitend
    Dies kommt für mich durch die in punktierten Halben zitierte Choralmelodie des Chorsoprans sowie durch die unerbittlichen Achtel auf den Viertelzählzeiten zum Ausdruck.


    Hauptsächlich dominieren für mich die scheinbar widersprüchlichen Affektpaare Heiliger Ernst, majestätisch, unerbittlich auf der einen Seite und Aufstehen, Herrlichkeitsglanz und Herrlichkeitsfreude auf der anderen Seite.
    Der Interpret muss nun hier die richtige Ausgewogenheit finden und darf nicht einseitig interpretieren.
    Das Tempo z.B. ergibt sich - wie eigentlich immer- aus dem Grundaffekt des Stückes und den Nebenaffekten der Figuren.
    So verfehlt m.E. Gardiner den Sinn der punktierten Glockenachtel allein schon durch sein zu schnelles Tempo.
    Die Punktierungen erinnern mich eher an das Geräusch galoppierender Pferde und weniger an die gemeinten Mitternachtsglocken.
    Auch Richters sehr langsamer, pastoser Legatoansatz entstellt für mich hier den Sinn der Figur.
    Weitaus am überzeugendsten ist für mich bei Satz 1 die Interpretation Nikolaus Harnoncourts. Ich höre hier übrigens nicht im Geringsten irgendwelche Schwierigkeiten in der Beherrschung der alten Instrumente, wie man aus einem vorhergehenden Beitrag alfons missverständlich entnehmen könnte.
    In dieser Phase hatte Harnoncourts Concentus musicus Wien solche Startschwierigkeiten schon seit Jahrzehnten hinter sich gelassen.
    Es handelt sich hier in der Tat um eine der grossartigen und virtuosen Bach-Einspielungen Harnoncourts.
    Das Tempo passt genau, nicht zäh-schleppend wie bei Richter und auch nicht sportlich über die Inhalte leichtfertig hinweghuschend wie vielleicht bei Gardiner.
    Wichtig für das Tempo ist für mich, dass vor den Figuren immer eingeatmet werden kann. Wenn man die Tempofrage aus den Figuren heraus versteht, ergibt sie sich m.E. ziemlich bald von selbst.
    Harnoncourt ist dies hier gelungen.


    Charakteristisch für das Spiel des Concentus sind auch Ergänzungen der Artikulation, die nicht in den Noten enthalten sind.
    Einige Bachinterpreten ( wie z.B. Goebel) der HIP-Bewegung halten bzw. hielten diese bei Bach für tendenziell falsch. Die kuriose Gefahr, sich im Ergebnis wenigstens manchmal dem Sechzehntelgeratter früherer Zeiten anzunähern ( der sogenannte Non-Legato "Bachstrich") kann aus meiner Sicht jedoch nicht völlig von der Hand gewiesen werden.
    Beispiele: Erste Violinen Takt 7, die letzten 3 Sechzehntel werden bei Harnoncourt unter einem Bogen gespielt und weisen dadurch wunderbar auf das erstrahlende Herrlichkeits-Es von Takt 8 hin ( Parallele: Oboen Takt 9 auf 10)
    Anderes Beispiel: Erste Violinen Takte 12 und 13, jeweils die letzten 4 Sechzehntel.
    Für mich sind das ganz klar Figuren, bei denen die ersten drei Sechzehntel gebunden unter einen Bogen gehören und das letzte Sechszehntel abgesetz wie die skalenmässig aufsteigenden Noten zuvor gespielt werden müsste. Ähnliche Stellen gibt es viele, wie z.B. Takt 41, 3tes - 5tes Achtel des Continuos. Die Figur "drei Noten in Sekundschritten gebunden, die letzte Note mit einem grösseren Intervall abgesetzt" hat für mich eine Bedeutung, wie z.B. das Wort "Freude". Aus meiner Sicht sollte man diese Details also beachten. Durch die Bogensetzung bekommt die Musik auch auf einem leichten Takteil einen Akzent, was m.E. im Sinne der barocken Vielfalt und des gestischen Ausdrucks der Klangrede wünschenswert ist.
    Solche Dinge möchte ich also gerne hören, weil ich sie für wichtig und richtig halte. In dieser Form höre ich sie nun einmal nur beim Concentus musicus Wien.


    Ähnliches gilt für die Interpretation von konkludierenden Schlussphrasen die Triller enthalten und in Sekunden melodisch absteigend sind.
    Hier spielen eigentlich alle Interpreten, ob HIP oder nicht den Schlusstriller neu ansetzend, abgetrennt vom vorhergehenden Ton.
    Beim Concentus wird der Ton vor dem Triller als Vorhalt, sozusagen als erster Ton des Trillers angesehen. Demzufolge beginnen sie den Triller auf dieser Note nicht noch einmal mit dem darüberliegenden Ton, sondern binden den ersten Trillerton legato an den vorhergehenden Vorhaltston an.
    Verstanden??
    Siehe Takt 16, erste Violinen und erste Oboe, zweites und drittes Viertel.
    Das g2 der Violinen ist bereits der Vorhaltston für den mit f2 beginnenden Triller auf dem letzen Viertel.
    So klingt es für mich spannender ( weil auch die 1 - 2 - 3 Grundbetonung eine reizvolle Störung auf der 2 bekommt) und auch melodischer.
    Auch so etwas höre ich an solchen Stellen eigentlich nur vom Concentus.


    Wie alfons schon richtig angemerkt hat, ist der Anfang des "Alleluja" interpretatorisch besonders gut gelungen.
    Nach dem bei Harnoncourt stark deklamatorisch hochreissenden Weckruf "Steht auf" durch den Chor ( abgesehen von der CF-Stimme des Soprans) kann man gut hören, wie Bach das Orchester auf die Glockenpunktierungen und die unerbittlich fortschreitenden Begleittön reduziert.
    Die Harmonik wandert über G7 mit D im Bass zur parallelen Molltonart c-moll und wandert zu a halbvermindert ( bzw. c-moll6 mit a im Bass).
    Irgendwie scheint eine Nachdenklichkeit einzusetzen in die zunächst geradezu zaghaft bis zärtlich das mit dem Chorsopran beginnende fugierte "Alleluja" vorsichtig einsetzt. Hier scheint mir die verhauchende Glockenton - Dynamik Harnoncourts besonders angebracht und überzeugende zu sein.
    Zwar werden hierin auch die "Aufstehfiguren" etwas mitverarbeitet, doch es kommt mir so vor, als ob das Alleluja für sich alleine steht und keine grossen, zeigenden Richtungen hat. Die Sechszehntel-Melismen kreisen eher in verhaltener Freude um sich selbst herum, während die synkopierten Achtel - Allelujas sich durchaus emphatisch gegen das unerbittliche Viertel-Metrum durchsetzen wollen.
    Die inhaltliche Auslegung könnte sein, dass der Text an dieser Stelle verharrt, um später die gedachte Szenerie des Weckrufes an die Jungfrauen mit den Worten "Macht euch bereit" wieder neu aufzunehmen.
    Auf jeden Fall steigert sich bei Harnoncourt das anfänglich zarte zu einem kräftigen Halleluja, was mich überzeugt.


    Noch eine Detailstelle, die für mich ein Pro-Harnoncourt Argument ist:
    Takt 5, erste Violinen dritte (synkopierte) Note G und das synkopierte B:
    Hier spielen die Violinen ein schönes, ausdrucksvolles Vibrato ( angeführt durch Alice Harnoncourt, was der Kenner sofort heraushören wird) und bei der Parallelstelle in Takt 7 lassen sie es aus Gründen der Abwechslung weg. Nach dem Motto: Man sollte einen Witz nicht zu oft erzählen.
    Das sind kammermusikalische Feinheiten, die mir wichtig sind.


    Es passiert hier in der Partitur unglaublich viel, und man hört Harnoncourts akribische, auf Werkanalyse und HIP- basierende Vorarbeit.
    Im Moment des Musizierens wird dies jedoch alles als zur selbstverständlichen Voraussetzung; und es wird mit grossem musikantischen Temperament, Feuer und instrumentaler Perfektion und Wärme gespielt.


    Auch zum Knabenchor sollte ich vielleicht noch etwas sagen:
    Es ist richtig, dass z.B. die Chöre Koopmans oder Herreweghes über eine grössere Klangkultur und bessere Ausdrucksmöglichkeiten verfügen.
    Auch beim hervorragenden Wiener Arnold Schönberg Chor, mit dem Harnoncourt heute zusammenarbeitet, ist dies gegenüber dem Tölzer Knabenchor der Fall. Diese Meinungsäusserung beziehe ich übrigens nicht nur auf die eigentlichen "Knaben" sondern auch auf die Tenöre und Bässe.
    Trotzdem kann ich ähnlich wie Johannes Roehl über diese Dinge hinweghören, weil sie durch die grossartige Orchesterbegleitung des Concentus und das Dirigat Harnoncourts m.E. mehr als wettgemacht werden. Gegenüber früheren Aufnahmen Harnoncourts mit den Tölzern ( z.B. BWV 63 "Christen ätzet diesen Tag") schlagen sich die Tölzer m.E. hier für ihre Verhältnisse ziemlich wacker. Es gibt z.B. keine forcierten Schlagdrauf-Betonungen auf der Takteins, sondern es wird - vor allem im Sopran - schön gesangliches und Legato gesungen, sogar im "grossen Bogen".


    Einen Ausschnitt aus Ton Koopmans Aufnahme kann man übrigens hier hören:
    http://www.tonkoopman.nl/vol21cd2nr01.mp3


    Hier sind die chorischen Vorteile gegenüber Harnoncourts Aufnahme sicherlich hörbar.
    Gegenüber dem Spiel des Concentus fehlen mir beim Orchester Koopmans allerdings folgende Dinge, die u.a. schon weiter oben beschrieben wurden:
    -Breiteres Spiel der ersten Note der Glockenpunktierungen
    -Artikulationsergänzungen bei den Sechzehnteln, z.B. Takt 7 die letzten drei Noten der ersten Violinen werden nicht gebunden
    -nach oben hinzeigende "Entrückungsfiguren" wie z.B. Takt 9 ff erste Violinen, werden ohne hinweisende Crescendi gespielt.
    Worauf sollten sie hinweisen?
    Auf dem dritten Viertel sollte es ein "Wort" der Klangrede geben, das aus drei gebundenen und einem abgesetzen Sechszehntel besteht.
    Dies wird bei Koopman so nicht artikuliert, und er verzichtet auch auf das hinweisende Crescendo der aufsteigenden Skalenfiguren - aus meiner Sicht leider.
    In Takt 10 erblühen die Oboen nicht zum oben beschriebenen Herrlichkeitsglanz auf, sondern gehen dynamisch zurück.
    Insgesamt ist mir das Tempo noch angenehm, nur ein kleines bisschen zu schnell.
    Der erste Eindruck des Orchesterspiels ist für mich typisch Koopman.
    Irgendwie frisch und lebendig, im Detail aber merkwürdig weich, etwas zu wenig ausgearbeitet und nicht so zupackend - sprechend, wie ich es vom Concentus her kenne.
    Schade finde ich auch, dass beim Amsterdamer Barockorchester die Streicher und die Oboen sich nicht -wie beim Concentus- gegenübersitzen. Dadurch würde der dialogische Charakter der Komposition deutlicher herauskommen, gleich in den ersten Takten.


    Grundsätzlich möchte ich allerdings sagen, dass mir Koopmans Interpretation dieses ersten Satzes von BWV 140 noch wesentlich besser gefällt, als die Deutungen aller anderer Interpreten ausser Harnoncourt.
    Mit Gardiners durchs schnelle Tempo bedingten Galopp-Punktierungen kann ich mich nicht anfreunden, weil ich sie in der Tat als Fehlinterpretation ansehe. Auch die durchaus schöne Detaildynamik des Orchesters kann sich bei Gardiners Tempo einfach nicht entfalten; es kann so nicht atmen.
    Schneller bedeutet ab einem gewissen Punkt jedenfalls nicht mehr, dass es lebendiger wird.


    Noch weniger kann ich mit den auf Solosänger beschränkten Versionen Rifkins anfangen. Neben der Tatsache, dass mir dieser doch irgendwie schon gewaltige Chorsatz in dieser Form einfach zu sehr in die Parameter der privaten Hausmusik reduziert erscheint, fehlen mir vielen instrumentale Aspekte, die ich von der "Predigt in Tönen" her als wichtig erachte.
    Die Verwendung historischer Instrumente reicht mir hier nicht.


    Auf "nicht HIP-Einspielungen" gehe ich u.a. aus Platzgründen nicht weiter ein.


    Wie ich sehe, ist mein Beitrag recht umfangreich geworden... :D
    Daher beschränke ich mich hier zunächst auf den Eingangschor und finde im Lauf der Woche hoffentlich noch Zeit, mich zu den vermutlich nicht ganz so ausladenden anderen Kantatensätzen von BWV 140 zu äussern.


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Dann werde ich es also mit den weiteren Sätzen von BWV 140 versuchen.


    Zunächst :
    Satz 2: Recitativ Tenor: Er kommt, er kommt...


    Hier höre ich eine Form der Klangrede, die mich in ihrer Direktheit etwas an Heinrich Schütz erinnert.
    Beispiele: „...sein Ausgang eilet aus der Höhe“ hier scheinen die Noten eine in die Höhe zeigende Bewegung nachzuzeichnen.
    Wer es nachvollziehen will, der kann gerne einmal diese Passage nachsingen und im Singen mit dem Arm bei „aus der Höhe“ nach oben zeigen.
    Wie falsch wäre es gewesen , wenn Bach hier die Linie nach unten hätte gehen lassen...
    Das in aufsteigender Quinte komponierte „Wacht auf“ nimmt ähnliche Aufweckfiguren des Chores aus Satz 1 auf ( Steht auf, steht auf....)
    Mit einer verminderten Harmonik auf „Bräut`gam“ wird die Ausdruckstiefe des Wortes gesteigert. Es ist nicht irgendwer, der hier kommt, sondern der (demütige ->verminderte Harmonik) Bräutigam. Vielleicht will Bach durch den Hinweis auf die Demut Jesu auf den vorher geschehenden zwar triumphalen aber doch vom „Fahrzeug“ und der inneren Haltung her sehr demütigen Einzug Christi in Jerusalem quer-verweisen ( er ritt hier nicht auf einem Schlachtross, sondern auf einer jungen Eselin!)


    Das „Dort“ steht für sich alleine und übernimmt damit auch eine zeigende Funktion, ebenso das „sehet“.
    Dadurch, dass der Continuobass sich ab dem vorletzten Takt mit den Noten Es und As zu bewegen anfängt, gelingt es mir, vor dem geistigen Auge wirklich jemanden ruhig schreiten zu sehen – eine geniale Komposition, auch wenn es „nur“ ein kleines Rezitativ ist.


    An Kurt Equiluz seinem Gesang gibt es hier für mich nichts auszusetzen.
    Die Art, wie Harnoncourt hier die Bassnoten des Continuos entsprechend den Regeln der damaligen Zeit kürzt, überzeugt mich.
    Er spielt nicht nur einfach jeden Ton als kurze Viertel an, sondern berücksichtigt bei seinem Spiel auch harmonische Zusammenhänge wie z.B. auch Leittönigkeit und rhetorische Zusammenhänge , siehe Takte 7- 9 die ohne Kürzungen zusammenhängend gespielt werden.
    Auf der Eins von Takt 10 kann dann wieder kurz gespielt werden.


    Harnoncourts Besetzung mit einer Truhenorgel und einem Barockcello halte ich für die Rezitative aus Bachs Kantaten für ideal.
    Daher möchte ich die Gelegenheit ergreifen und einige grundsätzliche Bemerkungen zur Continuobesetzung anschliessen.


    Dafür, dass Bach eine ständig mitgehende Theorbe oder Laute gewünscht hätte, sind mir keine historischen Hinweise bekannt. Vom meinem Geschmack her lenken mich solche Continuoklänge auch eher ab; sie scheinen mir hier nicht passend zu sein.
    Noch unpassender empfinde ich jedoch die Verwendung eines Cembalos, dass in meinen Ohren für ein geistliches Werk nicht optimal, weil zu weltlich klingt.
    Auch das Mitgehen eines Violons oder eines Kontrabassinstrumentes empfinde ich zu sehr als ausdrucksmässige Behinderung des Cellisten ( wäre bei diesem Rezitativ jedoch nicht so tragisch)


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Satz 3 Arie (Duett) „Wann kömmst Du mein Heil“


    Diese Arie ist mit „Adagio“ überschrieben, was auf das Tempo Auswirkungen haben sollte.
    Hier finde ich es besonders schade, dass es bei Gardiner schon fast zum quasi-Andante werden musste, denn die Sänger und der/die Violinspieler/in machen eigentlich sehr schöne Musik, die sich aber expressiv nicht in der Tiefe entfalten kann, die hier m.E. enthalten und nötig gewesen wäre.
    Doch zunächst zur Komposition.
    Hier gibt es wieder verschiedene Affekte, wobei der Grundaffekt für mich eine ziehende, gegenseitige Sehnsucht ist, ein auf Erfüllung sehnendes Warten.
    Das sehnsüchtige Warten und das Fragen „wie lange noch?“ kommt durch die an die bekannte „Ich habe genung“ erinnernde Figur der Piccolo-Violine zum Ausdruck und wird beim Sopraneinsatz übernommen.
    In BWV 82 hat Simon sein ganzes Leben warten müssen, bis er den Erlöser als kleines Baby in den Armen halten durfte.
    Hier kommt ein ähnlicher sehnsuchtsvoll-wartender Affekt mit einer ähnlichen Figur zum Tragen ( auch das begleitende Drei-Achtel-Bogenvibrato des Continuos erinnert an manchen Stellen an Begleitfiguren von BWV 82 Satz 1)
    Die Braut, die aus klugen Jungfrauen besteht, sehnt hier den Tag herbei, in der sie mit dem Bräutigam Jesus im himmlischen Saal zusammensein darf, und sie fragt: „ wann kömmst Du mein Heil?“
    Die Violine malt in gebundenen 32-tel-Figuren den glitzernden Brautschmuck der Braut Christi nach. Diese Braut ist zur Hochzeit also bereit.
    Dadurch, dass der (Jesus)-Bass die Motivik der (Sopran)Braut aufnimmt, zeigt er, dass auch er sich nach dieser Hochzeit sehnt.
    Interessant ist vielleicht auch, dass Bach dem Sopran in Takt 9 ff. einfachere Noten als dem Bass im anschliessenden Dialog zugewiesen hat. Der aus dem Himmel „sprechende“ Jesus ist in der Lage, ausdrucksvoller und vollendeter zu singen ( Ähnliches lässt sich in der Hirtensinfonia des Weihnachtsoratoriums BWV 248 zwischen Engeln ( Streichern) und Hirten ( Holzbläsern) beobachten)


    Mir fällt an Harnoncourts Version positiv auf, dass Alice und Nikolaus Harnoncourt hier sehr ausdruckstark und innig spielen.
    Hier kann man eine solche Fülle von kammermusikalischen Feinheiten hören, dass man nur sehr oberflächlich streifend darauf eingehen kann.
    So bekommt z.B. bei der Violine in Takt 2 das letzte Achtel einen glockentonartigen Akzent mit Vibrato, weil mit diesem Ton bereits die glitzernde 32-tel-Melismatik eingeleitet wird.
    Der vorhergehende Ton Es2 ist der verklingende Schlusston der sehnsüchtigen Fragefigur und darf nicht an das o.g. D2 angebunden werden.
    Die Schlusswendung von Takt 8 wird bei A.H. ab dem zweiten Achtel in paarweise gebundener Artikulation der Sechzehntel gespielt, was ich angesichts des Tempos für richtig halte.
    Der letzte Ton ist hier Non-Vibrato und setzt sich vom teilweise vorhergehenden großzügigen Vibratoeinsatz ab.
    In Takt 20 wird das hohe A auf der Takteins der Violine emphatisch und stark verklingend gespielt. Es hat durch die vorhergehenden 32-tel einen auftaktigen Schwung bekommen und verklingt nun im Zusammenhang mit den nachfolgenden Noten Fis und g. So sollte solche Stellen m.E. gespielt werden.
    NH spielt ebenfalls sehr expressives Continuo, doch kann ich aus Platzgründen nicht auf alles eingehen.
    Das aus Violoncello und Orgel bestehende Continuo lässt den Solisten jedenfalls Luft für Expressivität und schmiert die Begleitung nicht durch zu starkes Legato-Spiel zu.


    Die Sänger können zwar überzeugen, doch könnte ich mir hier durchaus noch bessere Resultate vorstellen.
    Ich möchte keinen Hehl daraus machen, dass mir Gardiners Sopransängerin hier mehr zusagt, auch der Bass.
    Von der Interpretation her finde ich schon, dass der Knabensopran und Thomas Hampson hier die richtigen Dinge tun, wenn es um die Verdeutlichung der Klangrede geht.
    Beispiel: Takt 23 ff. Sopran. Dass die langen Noten die Länge des Wartens andeuten, dürfte mit wenig Phantasie zu verstehen sein.
    Takt 37 Bass ff. deutet mi den langen Noten und dem Doppelschlag das Öffnen ( Doppelschlag) und die Weite des Freudensaals an.
    Obwohl man diese Dinge schön bei Harnoncourts Sängern hören kann, glaube ich, dass es heute mit anderen Sängern vielleicht doch überzeugender gelänge. Ich meine das jetzt im Hinblick auf Klanglichkeit und polyphone Durchhörbarkeit.
    Rein instrumental kann ich es mir kaum besser gespielt vorstellen.


    Andere HIP-Versionen dieser Arie als die besprochenen sind mir z.Zt. nicht so genau bekannt.


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

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  • Hallo zusammen,


    mir fehlt momentan mal wieder die Zeit zum Schreiben langer Beiträge, dennoch möchte ich Euch für Eure fundierten und dennoch persönlichen Rezensionen danken!


    Gehört habe ich in unserem Projekt an diesem Wochenende allerdings dennoch: BWV 140 in den Fassungen Richter II, Leusink und Gardiner - es folgt noch Rilling.Als Kurzfazit kann ich sagen, daß trotz meiner Wertschätzung für Richter mich DIESE Aufnahme nicht erreicht. Die Chöre haben nicht meditative Ruhe sondern sind einfach zäh und statisch -dies prägt massiv den Gesamteindruck, das lob für die Solisten teile ich aber, insbesondere FiDi und Manfred Clement!


    Leusinks Aufnahme hat bei allen genannten Schwächen, die ich auch höre, Atmosphäre - dies macht sie durchaus hörbar!


    Momentan bin ich mit Gardiner am Glücklichsten ( auch wegen Ruth Holton und dem " Gloria"- Schlußchor!), halte diese Aufnahme allerdings nicht für eine absolute Sternstunde der Pilgrimage- Veröffentlichungen.Ein bißchen weniger Hast wäre mehr gewesen!


    Mal sehen, wie sich Rilling noch schlägt!


    Gruß
    Stefan

    Psalmen sprechen und Tee trinken kann niemals schaden!

  • Zitat

    Original von Oolong
    Momentan bin ich mit Gardiner am Glücklichsten ( auch wegen Ruth Holton und dem " Gloria"- Schlußchor!), halte diese Aufnahme allerdings nicht für eine absolute Sternstunde der Pilgrimage- Veröffentlichungen.Ein bißchen weniger Hast wäre mehr gewesen!


    Die 2000er "Pilgrimage"-Aufführung der kantate ist ja auch noch nicht veröffentlicht, oder? Die bei der DG veröffentlichte Aufnahme stammt aus dem Jahr 1990.



    Auch ich tu mich schwer mit einer Besprechung - ich habe nur Richter II und Leusink zur Verfügung. Daher will mir nicht recht einleuchten, daß die beiden Duette zu den "schönsten Liebesduetten der Weltliteratur" (A. Dürr) gehören... ich melde mich hier nochmal mit einer Besprechung im Laufe der Woche.

  • Hallo,


    ich mache weiter mit
    Satz 4 Choral „Zion hört die Wächter singen“


    Die Choralmelodie wird hier vom Tenor vorgetragen, während er vom Orchester, bestehend aus den unisono geführten Streichern Violine1/2 und Viola im freudig bewegten Tonfall einer Bourreé begleitet wird.


    Motivisch scheinen mir die Geigen hierbei den Affekt des freudigen Erwachens, des eiligen Aufstehens und des vor Freude springenden Herzens auszudrücken.
    Die ersten drei Noten von Takt 1 erinnern auch an die Aufwachgeste der ersten Violinen aus Satz 1 Takt 5. Durch die vorgeschriebene Artikulation
    ( paarweise 2er-Bindungen der Achtel ) entsteht von Takt 1 bis 4 eine tänzerisch wiegende Bewegung. Die Braut geht dem Bräutigam entgegen.
    Takt 5 mit Auftakt erscheint mir als eine emphatisch begeisterte Empfangsgeste zu sein ( mit geöffneten Armen wird die Braut freudig begrüßt). Wenn man den Auftakt quasi Legato auf die erste Note von Takt 5 drängen lässt, wird dies für mich deutlicher als bei einem kurz gespielten Auftakt.
    Dafür, dass man hierin einen instrumental angedeuteten Dialog zwischen der Braut und dem Bräutigam erkennen könnte, spricht aus meiner Sicht, dass im zweiten Teil der Sechzehntel-Melisma (Takt 6 mit Auftakt) eine anspruchsvollere, ausgeschmückte Version der Figuren von Takt 1 zu hören ist. Wie schon beim vorherigen Liebesduett spricht der Bräutigam in musikalisch größerer Vollendung als die Braut. Diese scheint in Takt 7-8 (mit Auftakt) zu reagieren, z.B. so: „die Stimme des Bräutigams“ und dann noch einmal durch rhetorische Wiederholung auf höherer Tonebene verstärkt: „Ja tatsächlich! Die Stimme des Bräutigams!“
    Der Bräutigam scheint in Takt 9 mit Auftakt zu antworten: „Ja, ich mache mich auch auf, ich komme vom Himmel herunter und hole Dich!“ Hierfür könnte sprechen, dass die Eingangsfigur aus Takt 1 umgekehrt gespielt wird. Außerdem deuten die nach unten gerichteten Sechzehntel vielleicht ein Herabkommen ( vom Himmel) an.
    Takt10: ..“und da du mir freudig entgegengehst ( Sechzehntel auf den ersten zwei Vierteln) werden wir einen himmlischen Reigen erleben, miteinander essen und feiern ( „und halten Abendmahl“) ( gebundene "drehende" Sechzehntel ab dem dritten Viertel)
    Takt11: ...“und miteinander Tanzen und Springen ( springende Intervalle bei den Violinen, der Bass verlässt seine ruhige Viertelbegleitung und fängt auch an, in Achteln zu tanzen)
    Takt12: Fazit, Schlussfigur des Ritornells “...gut, dass es nun endlich soweit ist!“


    Ich habe hier versucht, der abstrakt gestischen Klangrede konkrete Worte zu geben.
    Natürlich kann ich nicht mit Gewissheit behaupten, dass Bach genau diese konkreten Inhalte beim Komponieren im Sinn hatte.
    Aus meiner Sicht ist dieses Ritornell aber mehr als nur irgendeine eingängige Bourreé-Melodie, mehr also nur eine mehr oder weniger zufällige Folge von Notenköpfen.


    Die instrumentale Umsetzung dieser hier angedeuteten klangsprachlichen Dinge (hinsichtlich Dynamik, Artikulation und Agogik) höre ich am schönsten und deutlichsten beim Wiener Concentus musicus, aber danach durchaus auch bei Gardiners Aufnahme von 1990. Auch hier spielt das Orchester für mich sehr schön und überzeugend.
    Harnoncourt lässt hier den Choral vom Solotenor Kurt Equiluz singen, während bei Gardiner alle Chortenöre zum Einsatz kommen.
    Was Bach nun eigentlich beabsichtigt hat, kann ich als Nicht-Bachforscher nicht seriös beurteilen.
    Möglicherweise wären beide Versionen in Bachs Augen legitim.
    Vom persönlichen Geschmack her kann ich beiden Möglichkeiten etwas abgewinnen.
    Dass dieses Bachsche „Arrangement“ der Choralmelodie sehr bekannt und populär geworden ist, kann ich gut nachvollziehen. Es ist ein wirklich schönes und eingängiges Stück Musik!
    In Bachs Schaffen taucht es ja noch einmal unter BWV 645 in Orgelfassung auf ( „Schübler-Choräle“)
    In ziemlich überzeugender Interpretation ist diese Orgelfassung m.E. übrigens auf einer 1986 bei Novalis eingespielten Aufnahme zu hören. Der Organist ist hier Ton Koopman.


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Hallo zusammen!


    Ich freue mich, dass das Hörprojekt mit BWV 140 so gut angefangen hat. Beim Lesen der bisherigen Beiträge habe ich viel gelernt und versuche, beim Hören der mir vorliegenden beiden Aufnahmen Rilling Februar 1984 und Gardiner März 1990 einiges nachzuvollziehen. Man merkt den Beiträgen an, dass viele von Euch als Musikwissenschaftler - und Praktiker sprechen und ich ziehe den Hut davor.


    In meinem Hören kann und will ich gar nicht alle Nuancen so auf die Reihe bringen. Aber gerade deshalb verfolge ich alle eure neuen Beiträge, die ich erst heute (sog.Pfarrsonntag) und im Lauf der Woche gerne an hand meiner beiden Aufnahmen vergleiche. Als ich heute im Morgengrauen also den Eröffnungschor bis zu dem 1. Liebesduett bei Rilling hörte, empfand ich das gleich als 'Nachtmusik' mit den 12 punktierten Achteln als Glockentöne, dachte aber auch das Herz-Pochen der Jung-Damen zu hören.


    A propos Damen: Immer wird alles christliche und gesellschaftliches Engagement und das Warten darauf auf die Frauen abgewälzt! Als ich am Sonntag das Evangelium Math 25 der Gemeinde vorlas, verbessserte ich Matthäus spontan mit 'junge Leute', wohl wissend, das ich ja dann mit dem erwarteten Bräutigam in Konflikt komme.


    Zur Cembalo oder Orgelbegleitung des Chorals: Der Choral ist ja als geprägtes gut lutherisches Kirchenlied ziemlich dominierend und bringt sehr viel Kirchenatmosphäre in die CD-Aufnahme. Daher finde ich es einfach spritziger und nicht so 'fromm', das weltlichere Cembalo zu nehmen. 'Wachen und Aufbrechen' werden so gerne in den kirchlichen Bereich abgedrängt, sind aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Natürlich komme ich da wieder mit dem Bräutigam in Konlikt, der ja Jesus ist und kein Homosexueller ist (will man aber auch Jesus andichten!). Der heutige CD-Klassik Hörer soll aber nicht unterschwellig in der Engführung Kirche gefangen werden. Bach-Kantaten greifen viel weiter ins allgemein ethische. Also für mich ein Plus für die Rilling-Aufnahme.


    Bei Gardiner wunderbar kraftvoll die Solisten Satz 2-3 (dagegen Rilling: Aldo Baldin lächerlich1)


    Nach der mystisch anklingenden Nr.4 Choral (sehr schön bei Gardiner die geheimnisvolle Stimmung in den Streichern und die Entscheidung auf Chor-Tenor),
    drängte es mich, zu meiner gute alte Rilling-Aufnahme zurückzuhören. Herrlich, der frische und satte Klang. Zweites Plus für Rilling.


    Melde mich weiter





    Gruß


    Wolfgang

    Magnificat anima mea

  • Zitat

    Original von ThomasBernhard
    [quote]Original von Oolong
    ...ich habe nur Richter II und Leusink zur Verfügung. Daher will mir nicht recht einleuchten, daß die beiden Duette zu den "schönsten Liebesduetten der Weltliteratur" (A. Dürr) gehören...


    Diese Dimension der Duette ist auch nicht bei alle Aufnahmen zu hören. So bin ich von Koopmans Einspielung (in Vol. 21 seiner Gesamtaufnahme) ziemlich enttäuscht - die beiden singen hier aneinander vorbei und gehen nicht aufeinander ein. Koopmans zumeist motorischer Ansatz geht hier völlig an der Musik vorbei.


    Was Dürr damit gemeint haben dürfte - eine Art überirdisches Liebesspiel, das sich einer sehr irdischen Anziehungskraft zweier Gestalten bedient - ist ganz hervorragend in einer Aufnahme von H. Scherchen mit Magda Lászlò hören:



    Unbedingt hörenswert! Nicht nur wegen der Duette!


    Bg,
    Christian

  • Zitat

    Original von Gerd
    Was nun den Auftakt bzw. das Tempo des Anfangschorus anlangt, so hat er seinen recht langsamen Atem einmal mit der betreffenden Bibelstelle einleuchtend begründet:
    Dort schlafen sowohl die klugen als auch die törichten Jungfrauen ein; der Bräutigam kommt, worauf sie erst dann aufwachen - und wenn man aus tiefem Schlaf erwacht, kommt man nicht sofort in ein schnelles Tempo, man muß es langsam angehen...


    Dieses paraphrasierte Zitat - übrigens eines der wenigen Statements Karl Richters zu seiner Interpretationsauffassung Bachs - illustriert die geistige Durchdringung der Bach'schen Musik, wie sie wahrscheinlich nur einem protestantischen Pfarrerssohn wirklich gelingen kann.



    Hallo Gerd,


    man kann für jeglichen Interpetationsansatz sich irgendwas zur Begründung ausdenken. Richters von dir wiedergegebene Rechtfertigung ist meines Erachtens ziemlich weit an den Haaren herbeigezogen. Man würde doch eher ein wüstes Durcheinander erwarten, wenn die Nachricht der Ankunft des Bräutigams eintrifft. Damit beginnt die Kantate schließlich: mit dem Signal zur Ankunft des Bräutigams. Und nicht mit der Vorgeschichte, wie die wartenden Junfern einschlafen, die klugen mit Ersatzöl, die Törichten ohne... Zudem ist die Ankunft doch so elektrisierend, dass der gerade noch genossene Schlummer sofort wie weggeblasen ist.


    Abgesehen davon geht die Kantate bei Richter so latschert weiter wie sie begonnen hat. Es ist nichts zu spüren von der Aufregung der bevorstehenden Hochzeit.


    Ich bezweifle gar nicht Richter tiefe Verwurzelung im Glauben und der damit verbundenen Auffassung der Bach´schen Musik. Gerade diese Aufnahme dafür ins Feld zu führen, halte ich allerdings für kontraproduktiv, weil Richter so gar nicht dem Inhalt des Werkes gerecht wird. Das müßtest selbst du als "gewiß nicht unkritischer Fan" von Johann Sebas... ääääh Karl Richter sehen. ;) Ich bin außerdem sicher, dass er bei etlichen anderen Kantaten im Laufe unseres Projektes deutlich besser wegkommen wird als bei BWV 140.



    herzliche Grüße,
    Thomas

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -



  • Hallo TB,


    es ist schon klar - die veröffentlichte 140er von Gardiner wurde 1990 aufgenommen, aber unter dem Label der Cantata Pilgrimage von der DG verkauft. Deshalb weiß ich nicht, ob Gardiner die dort schon veröffentlichen Kantaten als Einspielung der " echten" Pilgrimage des Jahres 2000 noch bei SDG veröffentlichen wird. Aber Volker weiß vielleicht Rat ! ?


    Gruß
    Stefan

    Psalmen sprechen und Tee trinken kann niemals schaden!

  • Zitat

    Original von Glockenton
    An Kurt Equiluz seinem Gesang gibt es hier für mich nichts auszusetzen.


    wohl aber für uns an deinem genitivmord :baeh01:


    muss man sich übrigens für seinen alten gönnenwein schenieren?


  • Zitat

    Original von observator


    muss man sich übrigens für seinen alten gönnenwein schenieren?




    Hast doch selber Ohren um zu hören. :stumm:

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

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  • Hallo,


    auch von mir Respekt an die fachkundigen Kritiker, die wohl für ihre Vergleiche viel Zeit investiert haben müssen. Wenn das so weitergeht, kann die Nachwelt 8) (wie das klingt!) auf tolle Analysen eines der größten Schätze der Menschheit freuen.


    :jubel:



    Ich kann nur ganz subjektiv etwas zur BWV 140 sagen: Mir hat sie zumindest in der Leusink-
    Aufnahme nicht gut gefallen. Dem ersten Satz konnte ich noch etwas abgewinnen, da er
    ja auch irgendwie textlich sehr gut zum Beginn unseres Projektes passt. 8) Rezitative können mich
    grundsätzlich kaum begeistern, in diesem Fall ist es auch so. Aus den Arien kann man
    sicherlich mehr rausholen als es Leusink geschafft hat; trotzdem gehören sie IMO nicht zu den schönsten
    Liebesduetten der Weltliteratur. BWV 21 ziehe ich da z.B. auf jeden Fall vor.


    Mal sehen, ob mich die oben genannten Einspielungen mehr begeistern können oder ob ich feststellen
    muss, dass die Kantate im Vergleich zu anderen eher abfällt.


    :hello:

    "Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten" Gustav Mahler

  • Satz 5: Recitativ Bass: "So geh`herein zu mir..."


    Hier haben wir es mit einem sehr spannungsvollen Rezitativ das Basses zu tun, dass mit liegenden Streicherakkorden harmonisch hochexpressiv begleitet wird.
    Die harmonische Progression von Takt 7 bis 9 versetzt mich immer wieder neu in Erstaunen. Jene Begleitung bei "betrübtes Aug" kommt mir so vor, als ob jemanden Gliedmassen oder Eingeweide regelrecht verdreht werden.
    Man hört hier förmlich, durch was für furchtbare Dinge die Braut während ihres Erdendaseins gehen musste, die zum "betrübten Aug`" führten.
    Ob sich wohl die Augenbraue eines Leipziger Ratsherrn an dieser Stelle kritisch nach oben bewegte?
    Von B-moll mit B im Bass wird über einen verminderten D-Akkord und einen Cm mit grosser Sept (!) über Es nach Fes-Dominantsept moduliert!
    Die Auflösung, die einer harmonischen Erlösung gleich kommt und für mich wie ein Aufatmen klingt, geschieht konventionell über Es-Dominantsept nach As-Dur... !
    Jemand wie Edwin Baumgartner könnte wohl die Frage genauer beantworten, wieviel Jahrhunderte Bach mit dieser harmonisch kühnen Stelle übersprang...
    Im vorletzten Takt bei (und meine) "Rechte soll dich küssen" lösen sich die Streicher vom Akkordteppich und spielen weich getupfte Achtel auf den Vierteltaktteilen. Eine Rechte (Hand) kann ja eigentlich nicht küssen. Gemeint ist hier wohl eher die Andeutung einer streichelnden Bewegung, die man bei entsprechendem Spiel eines guten Orchesters auch als Hörer gut nachvollziehen kann.
    Dass Bach ausgerechnet den Streichern das Streicheln anvertraut hat, dürfte wohl niemanden schon angesichts der Wortverwandtschaft verwundern...


    Die erwähnten Aspekte höre ich sehr gut anhand der mir vorliegenden Harnoncourt-Aufnahme.
    Die Streicher spielen hier mystisch und voller Hochspannung.
    Hampson passt sich interpretatorisch nach bestem Vermögen den Vorgaben des Dirigenten an und erzeugt hier wie das Orchester die erforderliche Spannung.


    Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, wäre es hier nicht eine andere musikalische Interpretation, sondern vielleicht ein anderes stimmliches Timbre.
    Vielleicht das von Harry van der Kamp?
    Mit dem vorhandenen Resultat kann ich jedoch auch gut leben.
    Wie schon früher erwähnt, ist für mich zunächst die Gesamtinterpretation des Dirigenten ausschlaggebend, womit ich nicht sage, dass mir die sängerrischen Leistungen unwichtig wären.
    Wenn ich so eine Kantate höre, dann ist es für mich zunächst nur "der Bass" bzw. hier "der Bräutigam".
    Die Person des Sängers tritt demgegenüber etwas in den Hintergrund, solange er nicht Dinge tut, die wirklich stören, was hier in meinen Augen keineswegs der Fall ist.


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Zitat


    Original von Observator
    ...wohl aber für uns an deinem genitivmord :baeh01:


    8o :O


    Dazu kann ich wirklich nur sagen: :O :O :O



    Gruss :D :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Auch ich zähle zu jenen, die der Kantate BWV 140 anfangs eher wenig abgewinnen konnten - allerdings habe ich nicht wählerisch sein können - es gab im zeitlichen Rahmen lediglich EINE Aufnahme, jene unter Karl Richter.
    Obwohl ich Richter sonst durchaus schätze - das Ergebns hat mich nicht überzeugt, was aber durchaus an mir liegen kann.
    Das weiter oben im Thread angeführte Argument, am Anfang schlafe eben die ganze Stadt, DESHALB sei der Beginn so langsam halte ich nicht für schlüssig
    Ich stelle mir überhaupt die Frage welche Eigenschaften zum Genuss solch einer Kantate nötig sind, kann jemand der Agnostiker ist von der textlichen Seiter her überhaupt Zugang zu solch einem Werk finden ?


    Dennoch bemerke ich, wie ich mit dieser Kantate allmählich vertrauter werde, desto öfter ich sie höre - und speziell in Hinsicht auf die "Deutungen " der einzelnen Forianer...


    Es gibt übrigens eine Motette gleichen Namens von Johann Christoph Friedrich BACH (1732-1795)


    mfg
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Danke,


    schreibe auch ich. Vor wenigen Tagen noch wollte ich mir den Dürr kaufen, da ich dachte, das wäre vonnöten. Allmählich sehe ich: Ist es nicht!


    Ich besitze zurzeit nur die Leusink-Aufnahme (bestellt sind Rifkin und Scherchen). Diese habe ich jetzt fünf, sechs Mal gehört und muss sagen: Sie bringt mir mehr und mehr Spaß.


    Ja, die Aufnahme ist nicht ohne Mängel. Diese sind ja auch bereits benannt worden. Für mich schlagen in erster Linie die undeutliche Aussprache des Chores und die schlechte Tagesform der Sopranistin negativ zu Buche. Nicht recht nachvollziehen kann ich allerdings die kritischen Ausführungen von salisburgensis („möchte aber noch weitere Punkte anführen, die diese Aufnahme für mich als lausig erscheinen läßt. Da wäre z.B. die Soloinstrument im ersten Duett, ein Violoncello piccolo. Das klingt in dieser Aufnahme erstens wie eine Kindergeige und zweitens ist die Partie auch noch sehr unsauber gespielt.“) Liegt der Eindruck, dass es wie eine „Kindergeige“ klinge, vielleicht daran, dass das Soloinstrument kein Violoncello piccolo ist, wie es salisburgensis schreibt, sondern eine Violino piccolo, dass salisburgensis also eine falsche Hörerwartung hat? Wer weiß, vielleicht handelt es sich auch nur um einen Schreibfehler.


    Für mich überwiegen die Pluspunkte der Aufnahme deutlich. Der Bassist singt hervorragend, die Stimme des Tenors behagt mir – ja, er ist im vierten Satz überfordert, aber er bricht nicht ein, wenn ihm auch bei den Wörtern „Kron“ und „Sohn“ die Luft fehlt –, die Oboe gefällt mir ebenfalls und die Tempi empfinde ich wie das Dirigat insgesamt als sehr stimmig. Die Aufnahme hat Atmosphäre, hat Oolong geschrieben. Ja, so sehe ich es auch.


    Also lehne ich mich zufrieden zurück und höre die Aufnahme noch mindestens ein weiteres Mal, um nachzuvollziehen, was Glockenton und die anderen so schön erklären. Dann, so hoffe ich, klingelt der Postbote, bringt mir das ersehnte Paket, und das Vergleichshören kann beginnen.


    Im Übrigen, denke ich, sollte die Abwesenheit von Vergleichsaufnahmen nicht zur Meinungsscheu führen. Die meisten von uns dürften von Werken wie BWV 140 nur eine Aufnahme besitzen. Ich bin gleichwohl an ihren Einschätzungen interessiert, zumal, wenn es sich um hier noch nicht genannte Aufnahmen handelt.


    Gruß, Thomas

  • Zitat

    Original von ThomasNorderstedt


    Im Übrigen, denke ich, sollte die Abwesenheit von Vergleichsaufnahmen nicht zur Meinungsscheu führen. Die meisten von uns dürften von Werken wie BWV 140 nur eine Aufnahme besitzen. Ich bin gleichwohl an ihren Einschätzungen interessiert, zumal, wenn es sich um hier noch nicht genannte Aufnahmen handelt.


    Unbedingte Zustimmung! :yes::yes:


    Zwar besitze ich von jeder Kantate mindestens 2, meist 3 oder 4 Einspielungen, aber ich möchte auf keinen Fall auf die Eindrücke verzichten, die jemand hat, der nur eine Aufnahme besitzt und vielleicht sogar glücklich mit ihr ist! Der Interpretationsvergleich sollte nur eine Facette des Austausches sein, gerade bei den unbekannteren Kantaten finde ich es sehr interessant zu erfahren, was das Werk an sich Euch sagt.


    Und wir sollten uns keinen Illusionen hingeben - die Mühen der Ebene kommen für unser Kantatenprojekt mit Sicherheit! Haben wir erst 30 Sonntage in den Knochen oder kommen staubtrockene Kantaten- ja die gibts zumindest für mich- wird die Posting- Frequenz manchmal sehr dünn werden.


    AAAAABER gemeinsam sind wir stark! ;)
    Und die Perlen werden werden überwiegen, wenn es uns gelingt, sie zum Funkeln zu bringen!


    Gruß
    Stefan

    Psalmen sprechen und Tee trinken kann niemals schaden!

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    (...)
    Ich stelle mir überhaupt die Frage welche Eigenschaften zum Genuss solch einer Kantate nötig sind, kann jemand der Agnostiker ist von der textlichen Seiter her überhaupt Zugang zu solch einem Werk finden ?
    (...)



    Ja.

  • Lieber Alfred!
    Zitat:
    Ich stelle mir überhaupt die Frage welche Eigenschaften zum Genuss solch einer Kantate nötig sind, kann jemand der Agnostiker ist von der textlichen Seiter her überhaupt Zugang zu solch einem Werk finden ?



    Das Königsweg zu vielen Bachkantaten läuft über die mit musikalischen Mitteln nachgestellten Naturbilder. Sie erläutern oft den Text, der dem Agnostiker, dem Nicht-Sprachforscher und dem Undogmatischem-, eben dem Unverbildetem Hörer weit offen steht.


    Ein gutes Beispiel ist gerade unsere BWV 140 (hier sind es aber mehr Menschenwelt-Bilder):


    Das Aufwachen, das Rufen des Wächters, die Ankunft, die Erfüllung (=Schlußchor)


    und in vielen anderen Kantaten: Rauschen des Wassers, Blitz und Donner, wankende Schritte, Wellen, Schiffahrt, Fliegen und vieles mehr.


    Bilder, die so leicht auch vom musikalisch Ungebildeten und Agnostikern entdeckt werden können.


    Gruß


    Wolfgang


    (Zähle mich zwar nicht zu den Agnostikern, versuche aber Agnostikern einen Zugang zur Welt der Bibel zu öffnen.)

    Magnificat anima mea

  • Was mich als Laie an dieser Kantate sehr rührt, ist das "Zion hört die Wächter singen". Ich habe die Harnoncourtaufnahme gedreht, und da kann Equiluz, wie immer könnte ich sagen, mich irgendwie mitnehmen.
    Und weiter noch das Duett "Mein Feund ist mein" sowie das Chor in "Gloria sei dir gesungen".


    LG, Paul

  • der overkill


    bwv140
    vor einem jahr noch hätt' ich frechfröhlich meinen senf dazugedrückt, jetzt will ich die schön angerichtete platte nicht damit besudeln.
    ich hab auch meinen dürr zuhause und benütze ihn gern, aber ich diskutiere nicht mit ihm.


    kann einem das naive hören verdorben werden? durch zu viel wissen?
    wohl nicht durch zu viel wissen (als alter anhänger der aufklärung werd ich mich hüten...), wohl aber durch zu viel nicht verstandenes und verarbeitbares wissen.


    von bwv140 besitze ich seit 20 jahren die gönnenweinaufnahme und liebe damit die kantate. jetzt, dank glockenton (danke glockenton übrigens, bitte versteh mich nicht falsch) habe ich eine differenzierte anleitung -und kanns aber nicht anwenden.und wie soll man einer derart differenzierten analyse gerecht werden, als nichtmusiker, nichtwissenschafter, nichtaltemusikspezi, als nur.... am besten durch lesen, staunen und schweigen.


    vom actus tragicus habe ich so 10 interpretationen und da weiß ich auch, welche mir besser gefällt (manchmal sogar warum, wenn ich es auch kaum so gut formulieren und schon gar nicht formal herleiten kann)


    selbst atheisten lieben bach

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