Modest P. Mussorgsky: Boris Godunow

  • Ich will mir eine Aufnahme der Oper zulegen, aber ich habe keine Ahnung, welche Aufnahme denn empfehlenswert ist.


    Bin bei einer kurzen Recherche auf drei gestoßen:



    (Originalfassung?)




    Zu welcher Aufnahme (muß keine der drei sein!) raten mir denn die Experten für russische Opern? :)

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Hab noch eine Aufnahme gefunden:


    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Hallo Felipe,


    Ich habe momentan noch das gleiche Problem, eine ideale Aufnahme zu finden (die man sich zusätzlich noch leisten kann).
    Gergiev hat den großen Vorteil, dass er beide Versionen enthält; die Kritiken sind auch sehr positiv - leider ist er mir momentan zu teuer ;(
    Karajan nahm lediglich die bearbeitete Version auf (Rimsky-Korsakow) und auch mit einem Westorchester.
    Willst Du etwas authentisches haben, dann sollte es die Urversion mit russischen Interpreten sein ;)


    Warte aber erst mal ab, bis der Genosse Edwin wieder aus Austrias Gulag entlassen wurde, bevor Du Dir etwas zulegst...


    :hello:
    Stefan

    Viva la libertà!

  • Eine nicht einfach zu beantwortende Frage. Da ist vor allem das Problem der Fassungen. Es gibt mindestens fünf Varianten: a) der vollständig von Mussorgsky stammende "Ur-Boris" von 1869, b) der ebenfalls vollständig von Mussorgsky stammende "Original-Boris" von 1872, c) verschiedene Mischfassungen aus den Versionen a und b, d) zwei (!) Bearbeitungen und Neuinstrumentationen Rimsky-Korsakows von 1896 und 1908, e) die Neuinstrumentation aller von Mussorgsky komponierten Teile durch Schostakowitsch (1959).


    Die Schostakowitsch-Fassung kenne ich nicht. Die Rimsky-Fassungen sind durchaus interessante Werke Rimskys, haben aber mit Mussorgsky nicht wirklich viel zu tun - Rimsky instrumentiert nicht nur, sondern greift auch stark in die Substanz des Werkes ein. Problem: Bis vor wenigen Jahrzehnten wurde fast ausschließlich die Rimsky Fassung gespielt (und eingespielt), so dass die großen Interpretationsleistungen der Vergangenheit nur in dieser Version zu haben sind. Das betrifft vor allem den wohl größten Boris-Sänger und -Darsteller aller Zeiten, Boris Christoff (zwei Aufnahmen mit ihm hast Du ja abgebildet). Auch Karajans Aufnahme, die ich ungenießbar aufgedonnert und pompös finde, benutzt die Rimsky-Fassung


    Wer aber wirklich Mussorgskys "Boris" kennenlernen will, hat nur die Wahl zwischen a und b (sowie evtl. c). Ich habe nie verstanden, was an Mussorgskys eigener Instrumentation schlecht sein soll - sie ist ungewöhnlich herb und dunkel, aber immer faszinierend. Zu a und b: Der "Original-Boris" (b) ist zumindest auf CD die häufigere Fassung. Der sehr konzentrierte, kürzere "Ur-Boris" (a) taucht aber zumindest in den letzten 10-15 Jahren sehr häufig auf deutschen Bühnen auf. In (b) ist Mussorgsky einige Kompromisse eingegangen, um die Oper "aufführbar" zu machen: so fügt er den sogenannten Polen-Akt mit einer großen Frauenrolle ein (der Ur-Boris hat bis auf Nebenrollen nur Männerstimmen), weiterhin wird eine Szene durch das sog. "Revolutionsbild" ersetzt. (b) geht zwar mehr in Richtung "Große Oper", ist aber keineswegs weniger kühn als (a) - auch weil (b) den Akzent vom individuellen Schicksal des Zaren auf das Schicksal ganz Russlands verschiebt. Summa summarum: Obwohl beide Fassungen über große Strecken weitgehend identisch sind, fällt die Entscheidung für eine Version sehr schwer, weil man immer auf großartige Musik aus der jeweils anderen Fassung verzichten muss. Deshalb gibt es auch die Mischfassungen, philologisch nicht ganz seriös, aber aufführungspraktisch bewährt.



    Gergievs Aufname ist schon deshalb unverzichtbar, weil sie sowohl den Ur- wie den Original-Boris vollständig bietet, ohne sie zu vermischen. Dafür beinhaltet sie auch stolze fünf CDs (beide Fassungen in dieser Einspielung gibt es m.W. auch separat zu kaufen). Die Rolle des Boris ist jeweils mit einem anderen Sänger besetzt, beidemale gut, aber nicht überragend. Ansonsten ausgezeichnete Ensembles und ein überzeugendes Dirigat.




    Eine durchaus überzeugende Mischfassung aus (a) und (b) bietet Abbados Berliner bzw. Salzburger Einspielung. Es mag idiomatischere Aufnahmen geben, aber Abbados teils hochdramatische, teils verinnerlichte Auffassung und die überragenden Berliner Philharmoniker lohnen den Kauf.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Hallo!!


    Ich würde die EMI-Aufnahme unbedingt empfehlen, denn Christoff ist als Boris unglaublich!! Allerdings übernimmt er auch die Rolle des Warlaam und einige andere Bassrollen. Wenn es dich nicht stört, immer nur Christoff zu hören, würde ich die nehmen!


    Oder die:


    Liveaufnahme mit schlechterer Tonqualität aber mit einem tollen Alexander Pirogov, ich besitze beide und will auf keine verzichten!!


    LG Joschi

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  • Zitat

    Original von DonBasilio
    Hallo!!


    Ich würde die EMI-Aufnahme unbedingt empfehlen, denn Christoff ist als Boris unglaublich!!


    Welche der beiden EMI-Aufnahmen meinst Du? :)

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Schön, einen Thread über meine Lieblingsoper zu finden...


    Meine Empfehlungen:
    Original-Boris: Abbado oder Semkow
    Fassung Rimskij-Korssakow: Melik-Pashaev oder Golovanov


    Für Hörer, denen die Tonqualität wichtig ist (wahrscheinlich den meisten,mir nicht) ist die auch interpretatorisch sehr gut gelungene Aufnahme unter Abbado zu empfehlen.
    Ich persönlich ziehe die Bolshoi-Aufnahmen unter Golovanov (1949 mit dem überragenden Alexander Pirogov) und Melik-Pashaev(mit Ivan Petrov, der ausdrucksstark agiert) allen anderen Aufnahmen vor.
    Empfehlenswert ist ein Querschnitt mit GEORGE LONDON unter Schippers.
    Die frühe Aufnahme mit Boris Christoff ist vor allem durch die hervorragende Leistung Nicolai Geddas hörenswert.


    :hello:Heldenbariton

    Wie aus der Ferne längst vergang´ner Zeiten
    GB

  • Es gibt wahrlich leichteres, als eine "Boris"-Aufnahme zu empfehlen. Der grosse Vorteil von Gergiev: er bietet beide Versionen in akzeptabler Wiedergabe - wer das Stück kennenlernen will und auch wissen will, wie die Bearbeitung das Stück verändert hat, ist hier auf der sicheren Seite.


    Wem es um die sängerische und darstellerische Leistung des "Boris"-Titerolleninterpreten geht, kommt meiner Meinung nach um Boris Christoff nicht herum - und zwar in der früheren Aufnahme aus den 50ern. Ebenfalls sehr gut: George London und Nicolai Ghiaurov. Bei letzterem stört der Breitwandsound von Karajan (mich) sehr. Als Interpret ist Ghiaurov allerdings ein Monument.

  • Die aus meiner Sicht großartigsten Aufnahmen der gesamten Partie des Boris gibt es von Christoff, Ghiaurov und George London zu hören. Sowohl stimmlich als auch von der Rollengestaltung Ereignisse.
    Bei Christoff wird oft die frühe Aufnahme unter Dobrowen (1952) höher bewertet als die unter Cluytens und gilt sicher als eine der Referenzaufnahmen (auf die nicht vollkommen überzeugende Tatsache, das Christoff alle 3 Bassrollen singt, wurde ja schon hingewiesen). Ich kenne nur Dobrowen und kann sagen, dass die Aufnahme ihrem Ruf gerecht wirdl, auch mit dem jungen Gedda und Christoff ist unglaublich als singender Schauspieler- darüberhinaus ist die Stimme noch voll im Saft.


    Ghiaurov ist für mich ein gleichwertiger Vertreter, die Vorurteile gegen Karajan teile ich aber in diesem Fall. Ich habe mir deshalb Ghiaurovs Boris nur in Ausschnitten zugelegt.


    London kenne ich auch nur als Querschnitt, aber der ist großartig.


    Bei Abbado bin ich nicht unvoreingenommen, da ich an beiden Tagen dabei war, als das in der Philharmonie konzertant aufgeführt wurde. Eines meiner größten Konzerterlebnisse, man bekommt eine Vorstellung, wie das Ganze auch ohne westlich-romantischen Kitsch klingen kann. Das Sängerensemble ist durch durch die Bank weg gut, nur Kotscherga ist halt doch kein Sänger vom Range eines der anfangs genannten. Für mich eine Aufnahme, die als Ganzes gesehen sehr überzeugt, alles passt und fügt sich schlüssig zusammen, natürlich auch aufgrund der Originalfassung einen Griff wert.


    Insofern votiere ich für Christoff unter Dobrowen, Abbado als Zweitaufnahme. ;)


    Gruß
    Sascha

  • Bei aller Bewunderung für die großartigen Verkörperungen der Titelrolle von Christoff, Ghiaurov, London & Co: Ich wundere mich immer wieder, dass man interpretatorische Leistungen so sehr in den Vordergrund stellen kann, dass das interpretierte Werk dahinter weitgehend verschwindet. Man kennt das ja, wenn Gould wichtiger wird als Bach oder Harnoncourt wichtiger als Mozart. Bei "Boris Godunov" allerdings stellt sich unausweichlich die Gretchenfrage:


    Überwältigende Sängerleistungen in einer Fassung, die für Rimsky-Fans (ich bin keiner) ja sehr interessant sein mag, aber mit Mussorgsky nicht viel zu tun hat: eine Instrumentierung, die Mussorgskys Klangvorstellungen ins Gegenteil verkehrt, zusätzlich Änderungen in der Substanz des Stückes, u.a. Entschärfungen der Harmonik,


    ODER


    gute, aber nicht überwältigende Sängerleistungen in einer der von Mussorgsky vollständig selbst verfassten Versionen, die die ungeheure Kühnheit und Radikalität dieser Oper erst wirklich hervortreten lassen (ganz abgesehen davon, dass bei Rimsky großartige Musik der 1869er Fassung überhaupt nicht vorkommt - im Gegensatz zu Gergiev und teilweise zu Abbado).


    In diesem Sinne kann man doch m.E. die Christoff- und Ghiaurov-Aufnahmen allenfalls als Alternativen zu einer der Einspielungen des Ur- oder Original-Boris empfehlen, aber nicht als erste Wahl.


    Viele Grüße


    Bernd

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  • Hallo Zwielicht,
    es ist doch so,ohne die adäquaten Interpreten bleibt jedes Werk
    erfolglos.Die Interpreten erwecken das Werk zum Leben.Das ist
    in der Geschichte der Oper tausendfach bewiesen.Auch für den
    Boriis Godunow kam der eigendliche Welterfolg durch F. Schaljapin,
    in der "Rimski Korssakow-Fassung".Ich bin der Meinung,man sollte
    die Originalfassung und die Rimski-Fassung friedlich nebeneinander
    bestehen lassen,und als Meisterwerke akzeptieren.


    :hello:Herbert.

    Tutto nel mondo è burla.

  • Hallo Herbert,


    ein "adäquater" Interpret ist z.B. Kotcherga in der Abbado-Aufnahme durchaus, sogar ein sehr guter. Das gilt auch für die beiden Boris-Interpreten in der Gergiev-Aufnahme. Klar war Christoff besser. Man soll ihn sich ja auch auf jeden Fall anhören, das mache ich doch auch gelegentlich.


    Aber Mussorgsky ist nicht auf Christoff angewiesen. Das Werk ist um Dimensionen wichtiger als seine Interpreten. Und die Verdienste der Rimsky-Fassung um die Durchsetzung des Werkes sind zwar unstrittig, aber historisch: Wo wird denn heute noch die Rimsky-Fassung aufgeführt? Fast nie - aus gutem Grund: Die Mussorgsky-Fassungen sind ihr einfach haushoch überlegen.


    "Die Interpreten erwecken das Werk zum Leben"? Ja, auf jeden Fall. Als ich zum erstenmal nicht die Rimsky-Fassung, sondern die 1872er Originalfassung gehört habe, geschah dies in einem mittelgroßen Opernhaus. Und es war eine wackere Aufführung, nicht mehr. Trotzdem wurde mir sofort klar, dass hier der Rubikon überschritten war: Hinter diesen Erkenntnisstand darf man nicht mehr zurück. Auf alles andere trifft m.E. Mahlers Satz von der Tradition und Schlamperei zu.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Wo wird denn heute noch die Rimsky-Fassung aufgeführt? Fast nie - aus gutem Grund: Die Mussorgsky-Fassungen sind ihr einfach haushoch überlegen.


    Ach nein. Wenn du nach Moskau fährst und ins Bolshoi gehst, was glaubst du, dass du zu hören bekommst? Du ahnst es schon - noch immer eine Rimskij-Korsakov-Fassung! Die Russen sehen die Problematik offenbar wesentlich entspannter als die Puristen hierzulande. ;)

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Klar, das Bolshoi-Theater präsentiert sich ja auch als Gralshüter eben der Tradition, die andere Schlamperei nennen... (obwohl es in letzter Zeit Lockerungsübungen gibt). Aber unter "die Russen" scheinen sich doch auch Puristen verirrt zu haben, wenn man an Gergiev und seine im Vergleich zum Bolshoi recht erfolgreiche Kirov-Oper denkt... ;)


    Man stelle sich vor, jemand erhöbe hier im Forum die Forderung, die Schalk/Löwe-Fassungen von Bruckners Symphonien müssten in der heutigen Interpretationspraxis gleichberechtigt neben den Originalversionen stehen. Der heilige Zorn der Puristen würde ihn hinwegfegen... :D


    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Klar, das Bolshoi-Theater präsentiert sich ja auch als Gralshüter eben der Tradition, die andere Schlamperei nennen...


    Ich habe drei Bolshoi-Inszenierungen in Natura gesehen, da kannst du Schlamperei getrost aus deinem Wortschatz streichen. Aufwändigst ausgestattetes, prachtvolles Operntheater (fast hätte ich Spektakel geschrieben ;) ), für das Alfred seine Seele verkaufen würde, könnte er sowas regelmäßig sehen. Lediglich die Spitzensänger können auch dort nicht mehr aus dem Ärmel geschüttelt werden, für ziemlich hohe Qualität ist aber auch stimmlich immer noch gesorgt.

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


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  • Die Vokabel "Schlamperei" bezog sich im Sinne von Mahler (der sie immerhin auf die Wiener Philharmoniker anwendete) nicht auf die musikalische Kompetenz der Aufführenden oder das für Bühnenbild und Kostüme zur Verfügung stehende Budget, sondern auf die bequeme und bedenkenlose Fortführung von liebgewonnenen, aber fragwürdigen Traditionen u.a. philologischer Art. Was Du über "aufwändigst ausgestattetes, prachtvolles Operntheater" schreibst, passt als visuelle Entsprechung zum Rimskyschen Klangluxus ganz in dieses Bild.


    Im übrigen ist ja gegen gelegentliche Aufführungen der Rimsky-Fassung nichts einzuwenden. Als Beleg für Rimskys Instrumentationskunst und als Dokument der Rezeptionsgeschichte von "Boris Godunov" hat sie durchaus ihren Wert. Nur zum Kennenlernen von Mussorgskys "Boris" ist sie denkbar ungeeignet. Und ob sie sich - von Einzelfällen abgesehen - langfristig auf der Bühne und bei Neueinspielungen halten wird, bleibt doch mehr als fragwürdig.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Was Du über "aufwändigst ausgestattetes, prachtvolles Operntheater" schreibst, passt als visuelle Entsprechung zum Rimskyschen Klangluxus ganz in dieses Bild.


    Richtig. Aber es gilt ja nicht nur für den Boris. Wenn du z.B. die Bolshoi-Version des Goldenen Hahns siehst, garantiere ich dir, dass du das dein Leben lang nicht vergisst. Es ist einfach unbeschreiblich, und mir nebenbei schleierhaft, warum man das nicht schon längst auf DVD verewigt hat. Die einzige sinnvolle Erklärung wäre, dass man ihn zur Zeit nicht adäquat besetzen kann, aber es war für mich schlichtweg das ultimative Opernerlebnis (Verzauberung wäre das richtige Wort!).


    Ich bin mir der Problematik durchaus bewusst und weiß, dass ein derartiger Opernbetrieb eigentlich bereits anachronistisch ist. Aber wenn so etwas auch in - ja, hm hm - intellektuellen Kreisen nur mehr mit Hohn und Spott bedacht wird, scheint das breite Publikum es dennoch sehr zu schätzen, dass gelegentlich auch noch "schöne" Inszenierungen zu sehen sind...


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Zitat

    Original von Theophilus
    Ich bin mir der Problematik durchaus bewusst und weiß, dass ein derartiger Opernbetrieb eigentlich bereits anachronistisch ist. Aber wenn so etwas auch in - ja, hm hm - intellektuellen Kreisen nur mehr mit Hohn und Spott bedacht wird, scheint das breite Publikum es dennoch sehr zu schätzen, dass gelegentlich auch noch "schöne" Inszenierungen zu sehen sind...



    Wir könnten jetzt natürlich in eine Diskussion über "schöne Inszenierungen", "Regietheater" sowie die Rolle des "breiten Publikums" und der "intellektuellen Kreise" einsteigen. Aber meist enden diese Debatten nach ähnlichem Verlauf damit, dass alle Teilnehmer auf ihren Positionen beharren. Ich habe auch gar nichts dagegen, dass "gelegentlich" konventionelle...äh...schöne Inszenierungen zu sehen sind ;).


    Meine beiden wichtigsten Erfahrungen mit "Boris"-Inszenierungen: an erster Stelle die großartige Arbeit von Abbado und Herbert Wernicke bei den Salzburger Osterfestspielen von 1994 (später auch bei den Sommerfestspielen wiederaufgenommen), die Mussorgskys Werk vor dem Panorama der gesamten russischen Geschichte inszeniert - grandios das Bild des von der Riesenglocke unterdrückten Volks. Und die schroffe, karge Inszenierung des Ur-Boris 1996 in Frankfurt von Lluis Pasqual, in der adäquaten musikalischen Leitung durch Sylvain Cambreling und mit Victor Braun in der Titelrolle.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Es gibt für mich schon heute keinen Grund mehr, die Rimsky-Fassung im Theater zu spielen. Dennoch will ich die Aufnahmen des "Boris" in dieser Version nicht missen - und zwar wegen der beteiligten Sänger/innen. Die Herangehensweise, dass die Rimsky-Fassung "die Falsche" sei, ist mir da viel zu akademisch, wenn ich einen Sänger wie Boris Christoff erleben kann.


    Ein anderes Beispiel: in den 50ern und 60ern war es üblich, Donizettis "Lucia" in einer enstellenden (gekürzten) Fassung zu zeigen (von Transpositionen gar nicht zu reden) - deswegen käme ich aber nicht auf die Idee, die Callas-Aufnahmen nicht weiterzuempfehlen - und statt dessen Montserrat Caballé (weil "originaler") diesen vorzuziehen.


    Ich finde ganz toll, dass wir heute die Möglichkeit des Vergleiches haben - aber zur Rezeptionsgeschichte (gilt auch für die Tonträger) des Boris gehört eben Rimsky-Korsakoffs und Shostakovichs Bearbeitung dazu. Und auf die rein sinnliche Erfahrung der Stimmen von London, Christoff oder Ghiaurov will ich nicht verzichten.


    (Zu Inszenierungen sach ich mal nix, zum einen gibt es dazu ein eigenes Thread und zum zweiten bin ich am Samstag in Berlin in der Premiere von "Zauberflöte" in Berlin und am Sonntag in der Premiere von "Don Carlos" in Basel... Vermutlich werden danach meine Kontakte hier merklich dünner :stumm:...

  • Zitat

    Original von Alviano
    Es gibt für mich schon heute keinen Grund mehr, die Rimsky-Fassung im Theater zu spielen. Dennoch will ich die Aufnahmen des "Boris" in dieser Version nicht missen - und zwar wegen der beteiligten Sänger/innen. Die Herangehensweise, dass die Rimsky-Fassung "die Falsche" sei, ist mir da viel zu akademisch, wenn ich einen Sänger wie Boris Christoff erleben kann.


    [...]


    Ich finde ganz toll, dass wir heute die Möglichkeit des Vergleiches haben - aber zur Rezeptionsgeschichte (gilt auch für die Tonträger) des Boris gehört eben Rimsky-Korsakoffs und Shostakovichs Bearbeitung dazu. Und auf die rein sinnliche Erfahrung der Stimmen von London, Christoff oder Ghiaurov will ich nicht verzichten.


    Wer will schon auf Boris Christoff in der Titelrolle verzichten - niemand in diesem Thread. Und die Erfahrung des Vergleichs zwischen den Fassungen ist zweifellos sehr bereichernd - wenn man sie denn hat. Allerdings war der der Ausgangspunkt dieses Threads die Frage von Felipe nach der Empfehlung einer Einspielung - ich weiß nicht, ob er sich gleich zwei oder drei anschaffen will. Und bei einer Erstanschaffung zum Kennenlernen stehe ich zu der Devise "erst das Werk, dann die Interpretation". Zumal es ja nicht nur um Kürzungen wie bei Donizettis "Lucia" geht, sondern fast Takt für Takt um eine andere Klanglichkeit, um nicht zu sagen: um ein anderes Werk.



    Zitat

    (Zu Inszenierungen sach ich mal nix, zum einen gibt es dazu ein eigenes Thread und zum zweiten bin ich am Samstag in Berlin in der Premiere von "Zauberflöte" in Berlin und am Sonntag in der Premiere von "Don Carlos" in Basel... Vermutlich werden danach meine Kontakte hier merklich dünner :stumm:...


    Oh, oh :D. Du nimmst also lange Strecken in Kauf, um zu sehen, wie Neuenfels (laut Interview im "Spiegel") beim Pa-pa-pa-Duett Papagena Sand aus dem Schoß rieseln lässt und Neuenfels' Ehefrau statt der gewohnten Dialoge als "Co-Regisseuse" durch das Werk führt? Von Calixto Bietios zu erwartenden Orgien in "Don Carlos" mal ganz zu schweigen... :no::D


    Viel Spaß und viele Grüße


    Bernd

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  • Zitat

    Zumal es ja nicht nur um Kürzungen wie bei Donizettis "Lucia" geht, sondern fast Takt für Takt um eine andere Klanglichkeit, um nicht zu sagen: um ein anderes Werk.


    Ich bin alles andere als ein "Original"-Fetischist, aber beim Boris kann ich mich nur meinem Namensvetter anschließen.


    Ich war 16, als ich Mussorgskys geniale Oper zum ersten Mal in Aachen gesehen habe (und zwar - was damals für ein deutsches Opernhaus ziemlich revolutionär war - in der ursprünglichen Instrumentation). Damals war ich gerade zu erschlagen von der ursprünglichen Kraft und teilweise schneidenen Eindringlichkeit dieser Musik.
    Umso größer war die Enttäuschung, als ich kurze Zeit später Rimskys weichgespülter Bearbeitung des Boris im Fernsehen verfolgt habe. Die Musik hatte entscheidende Charakterzüge völlig eingebüßt und war noch nicht einmal halb so aussagekräftig. Nichts gegen Rimsky-Korssakow an sich, aber hier kann man meiner Meinung nach mit Fug und Recht von einer Entstellung reden.


    Wer das Werk als solches kennenlernen will, muß auf jeden Fall zu Mussorgskys eigener Version greifen.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Hallo Bernd,
    wenn der Boris in der Instrumentation von Rimsky-Korssakow
    weichgespült daherkommt liegt das am Dirigenten.
    Man kann alles weichspülen.Ich denke z.B.an "Feste Romane"
    von O.Respighi , unter Ormandy oderToscanini.Zwei verschiedene
    Dirigenten,zwei verschiedene Werke.


    (Die Aunahmen von I.Dobrowen,oder von N.Golovanov klingen
    kraftvoll,hart und realistisch,trotz Rimskys Fassung.)


    :hello:Herbert.

    Tutto nel mondo è burla.

  • Hallo Herbert,


    der Dirigent kann natürlich auch noch eine gewisse Rolle spielen, aber die Rimsky-Version ist und bleibt eine die Substanz der Musik deutlich verändernde Bearbeitung.
    Ich erinnere mich noch gut an das alte Aachener Programmheft. Dort hieß es, Rimsky habe Mussorgsky "meyerbeerisiert", und diese Formulierung trifft die vorgenommenen Glättungen und Aufplüschungen für meinen Geschmack sehr gut.


    Ob man Rimskys Fassung aus welchen Gründen auch immer gerne hört, ist eine andere Frage. Ich gestehe, daß ich Goossens Bearbeitung des Händelschen Messias wegen der vielen Instrumentenfarben und Kontraste viel kurzweiliger finde als das in seiner musikalischen Substanz zwar großartige, aber ausgesprochen eintönig orchestrierte Original. Trotzdem würde ich keinem, der den Messias kennenlernen will, Sir Eugenes Variante empfehlen....


    Viele Grüße


    Bernd

  • Halo Bernd,
    ich denke,wir können die Billanz ziehen,daß beide Fassungen
    nebeneinander bestehen sollten.Das gilt auch für einige
    andere Werke,Hoffmanns Erzählungen und Carmen z.B.
    Natürlich auch für Instrumentalwerke,z.B."Bilder einer
    Ausstellung",sollte man da nur die Originalfassung spielen?
    Dann kämest Du garnicht in den Genuß da mitzuspielen.
    Die "Aufforderung zum Tanz",und viele andere Werke,
    wie Du ja besser als ich weißt.


    :hello:Herbert.

    Tutto nel mondo è burla.

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  • Hallo Barezzi,
    ich meine die erste Emi-Aufnahme von 1952.


    Betonen möchte ich,daß mir die"Originalfassung
    genau so lieb ist,wie die Rimsky-Fassung.Beide möchte
    ich nicht missen.


    :hello:Herbert.

    Tutto nel mondo è burla.

  • Interessant ist, dass wohl für die 1952er Aufnahme vor allem auf Drängen von Christoff die Rimsky-Fassung verwendet wurde, sogar in seinem Rollendebut am Covent Garden sollte eigentlich die Originalfassung gespielt werden, Christoff hatte die Rolle jedoch in Auszügen schon in der Rimky-Fassung gesungen und präferierte diese und setzte sich durch.


    @Bernd:


    Ich stimme Dir nach einigem "sacken lassen" zu. Ich selbst lernte den Boris zuerst nicht in der Originalfassung kennen . Als ich das dann unter Abbado (in der konzertanten Aufführung in Berlin) kennenlernte, war das wie ein Schlag mit dem Hammer, so innovativ empfand ich diese Musik, insofern war alles bisher gehörte eine "Entstellung".


    Warum habe ich dann doch Christoff unter Dubrowen empfohlen ? Das liegt wohl an zwei Punkten: Eine große Präferenz für Stimmen, besonders die tiefen Männerstimmen. Und der Boris stellt im zugehörigen Stimmfach definitiv einen der interpretatorischen Gipfelpunkte dar, mit immensen Anforderungen an den Sänger hinsichtlich der Rollengestaltung (sängerisch liegt die Partie ja eher im Mittelfeld, unbequeme Tessitura vielleicht, aber doch in der Ausdehnung der Partie sehr kurz). Jedoch ist in allen 4 Auftritten des Hauptcharakters im Prinzip ein anderer Typ darzustellen.
    Diese Komplexität führt zuweilen dazu, dass sich die gesamte Oper in der Betrachtung auf die Gestaltung der Titelrolle reduziert (ähnliches kann man es beim Otello beobachten). Das wird nun natürlich dem Geniestreich des Komponisten nicht gerecht und insofern: Stimmt, die Oper sollte in der Originalfassung kennengelernt werden und da liegt z.B. Kotscherga unter Abbado weit über dem, was man als ausreichend bezeichnen darf.


    Aufgrund der Bedeutung der Boris-Partie jedoch haben die anderen Aufnahmen mit den genannten Interpreten jedoch durchaus ihre Berechtigung und sind für Freunde von Stimme und Gesang ein Muss.
    Auf die Rimsky-Fassung an sich jedoch kann ich dagegen gut verzichten.


    Gruß
    Sascha

  • Zitat

    Original von Antracis
    Und der Boris stellt im zugehörigen Stimmfach definitiv einen der interpretatorischen Gipfelpunkte dar, mit immensen Anforderungen an den Sänger hinsichtlich der Rollengestaltung (sängerisch liegt die Partie ja eher im Mittelfeld, unbequeme Tessitura vielleicht, aber doch in der Ausdehnung der Partie sehr kurz). Jedoch ist in allen 4 Auftritten des Hauptcharakters im Prinzip ein anderer Typ darzustellen.
    Diese Komplexität führt zuweilen dazu, dass sich die gesamte Oper in der Betrachtung auf die Gestaltung der Titelrolle reduziert (ähnliches kann man es beim Otello beobachten).


    Hallo Sascha,


    ein interessantes Phänomen ist in der Tat der rein quantitativ (!) sehr geringe Anteil der Partie des Boris an der gesamten Oper (1872er-Fassung) - ganze Akte bzw. Bilder laufen ohne die Titelfigur ab, u.a. auch das Schlussbild. Mussorgsky hat ja im Vergleich zu 1869 absichtlich das Gewicht vom Individuum Boris auf das russische Volk bzw. auf Russland insgesamt verschoben. Und doch (oder vielleicht gerade wegen der eher sparsamen Auftritte) ist es genauso, wie Du gesagt hast: die Partie prägt die Oper ungeheuer stark, auch weil immer ein "anderer Typ" darzustellen ist. Sogar innerhalb des Kremlbildes muss der Sänger ja innerhalb eines kurzen Zeitraums seine Wandlungsfähigkeit unter Beweis stellen: vom liebevollen Vater über den brutalen Herrscher bis zum winselnden Wahnsinnigen. Christoff ist hier natürlich unübertroffen geblieben.




    Zitat

    Stimmt, die Oper sollte in der Originalfassung kennengelernt werden und da liegt z.B. Kotscherga unter Abbado weit über dem, was man als ausreichend bezeichnen darf.


    Aufgrund der Bedeutung der Boris-Partie jedoch haben die anderen Aufnahmen mit den genannten Interpreten jedoch durchaus ihre Berechtigung und sind für Freunde von Stimme und Gesang ein Muss.
    Auf die Rimsky-Fassung an sich jedoch kann ich dagegen gut verzichten.


    Zustimmung in allen Punkten!


    Viele Grüße


    Bernd

  • Hallo
    da bin ich natürlich auch mit einverstanden.


    Die Rimsky-Fassung reicht mir auf Tonträger,
    und in's Opernhaus gehe ich schon lange nicht mehr.


    :hello:Herbert.

    Tutto nel mondo è burla.

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