(komponiert 1772, veröffentlicht 1774)
'Sonnenquartette' nach dem Titelblatt einer späteren Druckausgabe
Es-Dur, C-Dur, g-moll, D-Dur, f-moll, A-Dur
Mit diesem Opus schließt Haydn eine Gruppe von insgesamt 18 Quartetten (opp.9, 17, 20) ab, den ersten, die er nach den 5-sätzigen Divertimenti opp.1 und 2 in der später verbindlichen viersätzigen Anlage, i.d.R. mit einem gewichtigen ersten Satz in Sonatenform und nur einem Menuett an zweiter oder dritter Stelle, geschrieben hat. Gegenüber den Vorgängern opp.9 und 17 sticht op.20 sowohl durch eine bisher ungeahnte Vielfalt als auch durch die teils erstaunlichen Kühnheiten heraus (mir scheint, daß erst op.76 wieder vergleichsweise vielgestaltig ist). Das zeigt sich an den Finalformen, Plazierung und Umfang des Menuetts, auch die Hauptsätze sind abwechslungsreicher als in den unmittelbar vorhergehenden Opera. In op. 9 u. 17 ist der "Standard" ein mäßig schneller Moderato-Kopfsatz, der beim letzten "leichtesten" Werk durch einen sehr schnellen ersetzt wird und einmal durch einen eher langsamen Variationensatz. Das Menuett steht immer an 2. Stelle. Diesem Schema entsprechen in op. 20 nur Nr. 1 und Nr. 5. Nr. 3 und Nr. 4 haben sehr schnelle Kopfsätze, auch die Position des Menuetts ist flexibel.
Bemerkenswert ist auch die endgültige Emanzipation der tieferen Stimmen, besonders des Cellos. Als planvoll ausgeglichener Abschluß einer Schaffensphase kann dieses Opus daher nicht gelten und einige Kommentatoren sprechen sogar von einer 'Krise' in der Quartettkomposition (vgl. Feder, S. 45f. für einen Überblick der Ansichten).
Allerdings paßt diese Kombination von Formvielfalt und oft schroffer Innovation recht gut zu anderen Werken dieser Zeit etwa den Sinfonien Nr. 39-49 (ebenso wie die bei Haydn einmalige Tatsache, daß in einem Opus zwei von 6 Werken in Molltonarten stehen). Es scheint, daß Haydn hier sehr wohl an die Grenzen dessen ging, was in seinen damaligen Stil zu sagen war, und daß danach eine Art "Bruch" folgte.
Drei Werke enden, einmalig in Haydns Oeuvre, (es gibt nur noch ein weiteres derartiges Werk: op. 50, 4) mit Fugen, wobei Haydn explizit auf die verwendeten kontrapunktischen Besonderheiten (Umkehrung etc.) hinweist . Nur eine von ihnen (im f-moll-Quartett) entspricht jedoch dem traditionell-ernsthaften Gestus dieser Gattung, die beiden anderen weisen eher heiteren oder gar scherzando-Charakter auf (v.a. die Gigue-artige im C-Dur-Quartett).
Die heutige Reihenfolge der Werke entspricht nicht der von Haydn ursprünglich geplanten: Dort bildeten die drei Werke mit Fugen die erste Hälfte, gesteigert nach der Komplexität der Finali: f-moll, A-Dur, C-Dur, dann folgen g-moll, D-Dur und das Es-Dur zum Abschluß (vgl. Feder, S. 56ff.)
Das Es-Dur-Quartett entspricht noch eher herkömmlichen (d.h. von Haydn selbst mit den vorangegangenen opp. 9 und 17 geschaffenen) Mustern; es ist insgesamt das kürzeste und konventionellste der Sammlung. Der Kopfsatz ist ein recht gemütlicher Sonatensatz allegro moderato, das folgende Menuett läßt jedoch schon durch nachdenkliche harmonische Trübungen aufhorchen (bemerkenswert der "auskomponierte" Übergang vom Trio zum dacapo des Menuetts. Der vielleicht außergewöhnlichste Satz dürfte das gleichförmig-träumerisch dahinfließende affetuoso sein.
Das Presto-Finale ist ein sehr humorvolles Stück, es beruht hauptsächlich auf Spielereien mit Synkopen (in sehr schnellem Tempo) der 1. Geige gegen den Rest.
Das C-Dur Werk beginnt mit einem Moderato-Sonatensatz, schon der Anfang scheint gleichsam ein Manifest für die vollwertige Rolle des Cellos, das das gesangliche Thema in hoher Lage vorträgt, zu sein, ein klanglich sehr beeindruckender Beginn. Das folgende 'Capriccio' in c-moll ist ein ganz außergewöhnlicher Satz: Er beginnt mit einem dramatischen Unisono, das variiert und von rezitativischen Teilen unterbrochen wiederholt wird. Darauf folgt in stärkstem Kontrast eine Kantilene der Violine in Es-Dur, mit einer fast serenadenhaften Begleitung. Diese cantabile-Melodie wird varriert wiederholt, wobei sich aus der Triolenbegleitung einmal kurz das schroffe unisono des Beginns zu erheben droht, der Satz schließt dann verhalten wieder in Moll und das Menuett (wieder in C-Dur) folgt attacca. Da das Trio wieder in der Molltonart steht und in seinem zweiten Teil mit unisono forte an die Stimmung des Capriccio erinnert, sind sozusagen erst mit dem dacapo des Menuetts die Schatten des langsamen Satzes endgültig verscheucht. Den Abschluß bildet dann eine vierthemige Fuge im 6/8-Takt, die längste und aufwendigste der Schlußfugen des Opus, allerdings ein keineswegs "gelehrt" wirkendes sondern eher kapriziös-witziges Stück.
Noch ungewöhnlicher mutet das folgende g-moll-Quartett an: Im zerklüfteten Kopfsatz im sehr schnellen 2/4-Takt fallen u.a. ausgedehnte, aber dennoch 'kurzatmig' wirkende fast unbegleitete Soli der 1. Violine auf. Es folgen ein düsteres Menuett (Feder weist auf die ungewöhnliche 5+5taktige Struktur des Hauptsatzes hin) mit einem ländlerartigen Trio (ungewöhnlich in Es-Dur bei einem g-moll-Hauptteil) und dann ein fließenden Poco adagio, in dem 1. Violine und besonders das Cello mit ausgedehnten solistischen 16telfigurationen hervortreten, selbst die Bratsche bekommt gegen Ende ein kleines Solo.
Das Finale erinnert in Stimmung und Thematik an den Kopfsatz, ist aber regelmäßiger in den Phrasen und im Gesamtaufbau. Der Satz endet im Dur, aber derart fahl verhuscht (piano und sotto voce), dass dies nicht als wirkliche Auflösung wahrgenommen wird.
Das D-Dur-Quartett ist das mit Abstand längste Werk des Opus: Einem sehr breit angelegten Kopfsatz (allegro di molto 3/4) folgt ein großartiger Variationensatz in d-moll von stellenweise fast opernhafter Expressivität, es überrascht nun nicht mehr, daß das Cello in einer Variation solistisch hervortritt. Das Gegengewicht zu diesen umfangreichen Sätzen bildet nach einem ganz kurzen 'Menuet alla zingarese' mit rhythmischen Verschiebungen im Hauptteil (der 3/4-Takt scheint von einem 2/4 oder alla-breve-Takt überlagert zu sein) und einem Cello-Solo im Trio der längste Finalsatz der Sammlung: ein ebenfalls dem ungarischen Idiom nahestehendes 'Presto e
scherzando' mit wilden Sprüngen, vermutlich das Cymbal imitierenden Klangeffekten und insgesamt unwiderstehlichem drive. (J. Kerman schreibt über dieses Quartett: "It is to be doubted that the entire decade of the 1770's yielded a more impressive composition." (Kerman, J.: The Beethoven Quartets, New York: Norton 1979, S. 60), vielleicht ein wenig übertrieben, aber nachvollziehbar)
Das f-moll-Quartett vertritt den Typ des ernst-melancholisches Werk in Moll (wie op.9,4). Bemerkenwert im Kopfsatz (allegro moderato 4/4) ist u..a eine recht ausführliche Coda, die das 2. Thema noch einmal ausführlich verarbeitet. Das Menuett ist ein ungewöhnlich langer und ernster Satz. Der langsame Satz baisert auf einem Siciliano-Thema, das mehrfach variiert wird, aber nicht in strenger Variationenform, sondern einfach auf die Stimmen verteilt oder von der ersten Geige figurativ umspielt (manchmal etwas zuviel des Guten). Außerdem gibt es ein weiteres Thema, das zweimal auftaucht, insgesamt ein sehr schöner sanft-melancholischer Satz. Die abschließende Doppelfuge (2/2) entspricht mehr als die beiden anderen dem ernsthaft-gelehrten Stil, den man im Nachbarock häufig mit dieser Form assoziierte.
Die Vorgabe, mit einem "leichteren" Stück abzuschließen, wird durch das A-Dur-Quartett zwar vom Grundcharakter her erfüllt, aber es ist keineswegs ein schlichter Kehraus. Der Kopfsatz (6/8 allegro di molto e scherzando) enthält eine für Haydn ungewöhnliche Menge an Nebenmotiven, ist zwar spritzig und energisch, aber nicht unbeschwert lustig. Das adagio (2/2), wiederum dominiert von der 1. Violine erinnert mich vom Typ her fast an eine Arie aus einer Opera Seria. Das Menuett ist diesmal sehr knapp gehalten, mit einem rustikalen Trio in tiefer Lage. Die Schlußfuge (4/4) kann man (mit Feder) zwischen die traditionell ernste des f-moll und die kapriziöse des C-Dur einordnen; kurz vor Schluß kommt als Finesse das Hauptthema in der Umkehrung.
Insgesamt ist op. 20 eine Sammlung, die ich durchaus als möglichen Einstieg in Haydns Quartette empfehlen würde, zum einen, weil es sich fraglos um sehr bedeutende Werke handelt (bei op. 9 und 17 mag man noch streiten), von denen aus man als Systematiker alle folgenden Werke angehen kann. Zum anderen weil sie, auch wenn keines einen Spitznamen trägt, leidenschaftliche vielfältige und mitreißende Stücke sind, wogegen einige der späteren Stücke manchmal zunächst etwas trocken wirken können (für mich besonders op. 33 und 50).
Mir sind inzwischen zwei Einspielungen bekannt: die in der Box des Angeles Quartets mit allen Haydn-Quartetten und eine Doppel-CD mit dem Hagen-Quartett. Letztere ist normalerweise Vollpreis, es gab sie aber auch schon mal im Angebot. Trotz ihrer Meriten empfehle ich die Angeles-Box nur noch dem preisbewußten Komplettisten. Wenn Geld (und evtl. Ebay u.ä. Suchzeit) keine Rolle spielen, sind für alle relevanten Stücke bessere Alternativen erhältlich, zumal wenn keine HIP-Allergie vorliegt. Ich halte sie aber noch für besser als die bei Naxos erschienene, wobei die den Vorteil hat, einzelne erhältlich zu sein. Die Hagen-Aufnahme ist dagegen sehr empfehlenswert.
Weitere separat erhältliche op. 20: Das Mosaiques-Quartett (HIP, Astree) und das Tatrai-Quartett (hungaroton). Eine weitere HIP-Einspielung des Festetics Quartett ist vor wenigen Wochen erschienen.
viele Grüße
JR
(Überarbeitung eines vor einigen Jahren bereits auf "http://www.drmk.ch/werke/whaydnop20.html" veröffentlichten Textes)