Beethoven: 9. Sinfonie, 1. Satz, Beginn der Reprise - Gras-Engel in der Musik

  • Hallo, liebe Musikfreunde,


    nicht erschrecken, aber diese Stelle verdient wirklich einige Aufmerksamkeit. Mit diesem Beitrag wollte ich anfangs nichts weiter als einen Thread über "die umwerfendsten Stellen der Musik" beginnen. Als ich jedoch einmal angefangen hatte ein wenig Hintergrundinformationen zu suchen, wurde es immer spannender, die Partitur kam hinzu, bestimmte Stellen Note für Note verglichen in verschiedenen Aufnahmen, und das Thema schien kein Ende zu nehmen. Vielleicht passt das nicht ganz in ein Diskussionsforum, aber wie gerufen kamen von dort ständig neue Anregungen und Motive. Wem die Teile zu Adorno und die "Gras-Engel" zu philosophisch sind, wird vielleicht dennoch am Anfang einiges Wissenswerte über dieses ungewöhnliche Werk finden und in den biographischen Nachträgen stöbern. Die Partitur ist im Internet zugänglich: Link und dort "1st Movement", "Measure 290", siehe auch den Autograph. Bei den Taktzahlen ergänze ich in eckigen Klammern zum besseren Mithören die jeweiligen Zeitpunkte der mir wichtigsten Aufnahmen, das sind in erster Linie Charles Münch 1958 mit dem Boston Symphony Orchestra und dann aber auch die Furtwängler-Aufnahme von 1942.


    Ein wenig möchte ich hiermit auch dieses außergewöhnliche Werk rehabilitieren, das im Ranking der Beethoven-Sinfonien überraschend schlecht abgeschnitten hat. Das mag an einer gewissen Abnutzung liegen, nachdem es bei unzähligen Jubiläen und Feiern, als Hymne für die NATO und Europa abgeleiert und durchgedroschen wurde, Andy Warhol daher Beethoven mit Coca-Cola und Gemüse-Dosen, Marilyn Monroe und Elvis Presley in eine Reihe der Ikonen der Massenkultur stellen konnte.


    Doch sollte das nicht täuschen. Wenn die klassische Musik den Rang dieses Werks nicht mehr anerkennen und überzeugend darzustellen vermag, bricht es an anderer Stelle hervor, so 1971 in Stanley Kubricks "Clockwork Orange", ein Film von bedrückender Aktualität. Anton Bruckner hat sich sein ganzes Leben lang mit dem ersten Satz dieser Sinfonie beschäftigt, siehe seine 0., 3., und 9. Sinfonie.



    Andy Warhol: Beethoven (auf Basis von Joseph Karl Stielers Beethoven-Bild von 1819-20 mit der Partitur der "Missa solemnis"), 1987; Stieler hatte das Bild im Auftrag von Franz und Antonie von Brentano gemalt, sie war vermutlich die "unsterblich Geliebte" des Jahres 1812; 1820 war nach den Krisenjahren von 1812-19 der Beginn der letzten, alle bekannten Maße überschreitenden kreativen Phase Beethovens;


    Um die Besonderheit dieser Stelle zu verstehen, ist von Beethovens neuem Verständnis der Sonate auszugehen. Er unterteilte die Durchführung durch eine klare Zäsur, wodurch das Wechselspiel der beiden Themen eine tragische Wende erhält und die Exposition völlig verändert in der Reprise wiederkehrt. Nirgends sonst ist Beethovens persönliche Stimme in seiner Musik so deutlich zu hören. Er greift gewissermaßen ein zweites Mal in das eigene Werk ein und verändert seinen Ton und das ganze innere Zeitgefühl. (Adorno vergleicht das mit Hölderlins "kalkulablen Gesetz" der Tragödie.) Die beabsichtigte Wirkung ist sicher am deutlichsten beim Trompeten-Signal in der Mitte der dritten Leonore-Ouvertüre. Und auch in der 9. Sinfonie ist im 1. Satz eine Zäsur beim c-Moll-Eintritt der angedeuteten Doppelfuge ab T. 217 [5:48][7:05] zu erkennen, der tiefe Klang der Celli und des Fagotts. Das sonst so erhaben klingende Werk ist auf einmal ganz nahe und geradezu verletzlich.


    Aber in welcher Weise wird nun die Sonatenform nochmals dramatisiert! Anders als in den 8 vorangegangenen Sinfonien fällt die Wiederholung der Exposition weg. Stattdessen entwickelt sich in der Durchführung ein ungeheurer, stets wachsender Sog, bis sie auf ihrem vermeintlichen Höhepunkt übergangslos in die Reprise schlägt. Das erzeugt eine Spannung und Ballung aller Kräfte, aus der die T. 301 - 338 [7:48][9:30] geradezu herausgeschlagen werden.


    Mit einem Mal scheint Beethoven sich bewusst, dass Prometheus nicht nur aus Erdklumpen die Menschen geschaffen und zum Tanzen gebracht hat, wovon sein Ballett "Die Geschöpfe des Prometheus" und die "Eroica" handeln, sondern auch in einem Akt der Anmaßung den Göttern das Feuer stahl und es den Menschen brachte, ihnen zum Fluch und zum Segen.


    Diese Stelle beherrscht den 1. Satz in einem Maß, dass der dunkle, unruhige Anfang überhaupt nicht mehr wiederholt wird. Stattdessen wird am Anfang der Coda in einer Folge immer größere Verwirrung stiftender Auftakte mit "einer der genialsten technischen Leistungen" (Schenker) in T. 433-452 [11:05][13:36] der Hauptgedanke geradezu in seine Einzelteile auseinander gesprengt, um Platz zu schaffen für eine der aufwühlendsten Kadenzen der Musikgeschichte. Ab T. 513 [13:04][16:03] wird zum elementarsten Mittel der Musik gegriffen, eine Tonleiter, die jedoch in ständiger Beschleunigung und Steigerung auf einem Basso ostinato aufgebaut ist. Ist das nun ein Wechselbad aller Gefühle oder ein Akt der Selbstsuggestion, um schließlich die Kraft zu gewinnen, ein letztes Mal das Thema darzustellen, so dass der Satz da endet, wo er angefangen hat? Bruckner hat dies fast wörtlich in seiner 3. Sinfonie zitiert. Mahler preßte es am Ende des 1. Satzes der 2. Sinfonie in die kürzest mögliche Form.


    Retuschen


    Da geht es nicht musikalisch-schön her, und die vermeintlichen Beethovenschen Instrumentierungsschwächen und angeblich falschen Metronom-Angaben gehören für mich wesentlich zur Aussage dieser Stelle. Der erste Satz sollte bei den vorgeschriebenen 88 Viertelschlägen je Minute etwas weniger als 13 Minuten dauern! Charles Münch kommt mit ziemlich genau 14 Minuten immerhin in die Nähe. Das kann allerdings die Dirigenten zur Verzweiflung treiben. Felix Weingartner in seinen "Ratschlägen für Ausführungen der Symphonien Beethovens" von 1906:


    "Läßt man aber diese Stelle so spielen, so hört man eigentlich deutlich nur den Paukenwirbel, vorausgesetzt, dass ein Pauker von so vorzüglicher Qualität zur Verfügung steht, dass er imstande ist, 36 Takte ohne jede Abschwächung mit größter Kraft zu wirbeln. Läßt aber seine Kraft nach, so ist die auf diese Weise wenigstens dynamisch große Wirkung dieser Stelle bereits gefährdet, um so mehr, als dann mehrere andere Spieler instinktiv mit dem Pauker nachlassen, andere wieder, eingedenk der Vorschriften des Komponisten und der Ermahnungen des Dirigenten, die Töne in so unschöner Weise forcieren, so dass die letzten zehn bis fünfzehn Takte in einem schwächlichen Mezzoforte, untermischt mit einigen quicksenden Aufschreien verlaufen."


    Er löste daher das Fortissimo auf, indem er abwechselnd Pauke und Bläser crescendo und decrescendo spielen lässt. Die meisten Dirigenten folgen ihm mehr oder weniger und versuchen, das Spiel der Pauke zu mildern und diese Passage zu strukturieren. Ein Blick in die Partitur zeigt allerdings, wie das schon Beethoven sehr genau durch zahlreiche ff, sf und f Einträge gefordert hatte. Am weitesten ging Gustav Mahler. Er verdoppelt ab T. 314 die Bläser, verstärkt ab T. 315 die Celli und Kontrabässe durch Posaune und Tuba und in T. 319 - 338 die Celli durch ein viertes Hörnerpaar.


    Der Pauker und das Orchester können diese Stelle nur dann richtig herausbringen, wenn es dem Dirigenten gelungen ist, sie schon vom ersten Einsatz an geradezu in Ekstase zu versetzen. Das kann natürlich nicht in einem routinemäßig gespielten Abonnement-Konzert oder am alljährlichen Neujahrsmorgen gelingen.


    Richard Wagner 1846 und 1872


    Am stärksten war sich dessen wohl Richard Wagner bewusst, auch wenn er der erste Urheber der unseligen Retuschen werden sollte. Er hat diese Sinfonie 1846 im vorrevolutionären Rausch in Dresden aufgeführt (unter den Zuhörern befand sich Bakunin, der den "Götterfunken" ganz neu und wörtlich verstand) und nochmals 1872 bei der Einweihung des Festspielhauses von Bayreuth. Beide Konzerte riefen heftige Reaktionen hervor.


    1846 war Carl Gustav Carus geschockt über


    "die Unruhe, das Unbefriedigtsein, die Qual des Künstler. Wer aber diesem heftigen Treiben mit Aufmerksamkeit nachgeht, der wird nicht läugnen können, dass an vielen Stellen ein vollkommener Wahnsinn durchzubrechen scheint, und dass hier vieles ... über die feine Linie des Schönen entschieden hinaus greift".


    Das traf ihn besonders im vierten Satz, um den es hier allerdings nicht gehen soll. In der Folge wurde er dann nach 1850 ähnlich wie David F. Strauß oder Eduard Hanslick zum Vertreter einer selbstzufriedenen, bürgerlichen Kultur mit ihrer Huldigung des Musikalisch-Schönen, die alle aufklärerischen Ideen des Erhabenen und Tragischen abgeworfen hat, wofür Wagner und ihn unterstützend Nietzsche (in der ersten "Unzeitgemäßen Betrachtung") nichts als Hohn und Spott übrig hatten.


    Auch 1872 hat Wagner die Aufführung gründlich vorbereitet. Der Musikkritiker Heinrich Porges hörte den Proben zu und schrieb nach dem Konzert über die Wirkung dieser Stelle:


    "Hier stehen wir bei der Katastrophe unseres Dramas. Der Geist der Vernichtung, der uns am Anfang mit ahnungsvollem Schauern berühret, hat jetzt von unserem ganzen Wesen Besitz ergriffen. Wir fürchten ihn nicht mehr, wir trotzen ihm nicht, sondern fühlen uns mächtig von ihm erfaßt und im Innersten durchglüht. ... Hier durfte man wohl ahnend den Geist Gottes empfinden, der in gewaltigen Wettern sich offenbart. Aber der Inhalt dieser Offenbarung ist Liebe, die einzig unvertilgbar aus allen Wettern der Vernichtung hervorgeht, ja die, wenn wir tiefer dringen, in ihrer ganzen erlösenden Kraft erst durch diese Vernichtung geboren wird."



    Michel Katzaroff (1891 - 1953) : Beethoven, vermutlich 1931 entstanden


    Bruch und Urlinie


    Meistens wird nur gesehen, welche Wirkung diese Stelle auf Wagner, Bruckner und Mahler hatte. Aber genau so spannend ist die Vorgeschichte. Keiner hat das besser verstanden als Mendelssohn. Er hat 1837 in Leipzig den ersten Satz in einem Tempo gespielt, dass dem Publikum - und dort saßen auch Wagner und Schumann - Hören und Sehen verging. Schumann sprach ihn an. Mendelssohn erklärte, für ihn käme dem Schwung des ersten Satzes nur der Schluss des d-Moll Konzerts von Bach gleich. Das ist die Lösung! Zum Beispiel in der Aufnahme mit David und Igor Oistrach unter Leitung von Rudolf Barschai ist zu hören, was Mendelssohn gemeint hat.


    Und von da geht es weiter zurück zu Vivaldis Konzert für 2 Violinen, Streicher und Cembalo d-moll, op. 3 Nr. 11. Dort steht an der entsprechenden Stelle eine Fuge. Ich verstehe Beethoven so, dass er gespürt hat, wie der Übergang von der Durchführung zur Reprise eine geradezu heilige Stelle im musikalischen Satz ist, die nun aber nicht mehr wie bei Vivaldi und Bach in einer gewissermaßen kirchlichen Architektur geschlossen und "überwölbt" werden kann, sondern den Einbruch der Transzendenz zeigt.


    Und so vollendet er wirklich eine Urlinie der klassischen Musik, von der Heinrich Schenker sprach. Der war natürlich von dieser Sinfonie begeistert und entschiedener Gegner aller Retuschen. In seinem 1912 veröffentlichten Buch über diese Sinfonie macht er ganz klar: Wer das tut, kann sich nicht der von Wagner ausgelösten Respektlosigkeit gegenüber den großen Meistern entziehen, wodurch eine ganze Generation - heute muss leider ergänzt werden: eine ganze Tradition - "auf Abwege eines Musikjargons geraten ist", der sich den von Beethoven aufgeworfenen Fragen nicht mehr stellen will und hier lediglich ein Stück Musik sieht, das es zeitgemäß aufzupolieren gilt. Wie er diese Sinfonie verstand, zeigt ein Tagebucheintrag nach einem Konzert von Furtwängler 1920:


    "Eine gewiss vereinzelte Leistung, die aber immer noch nicht das Letzte und Stärkste ausschöpft, der 1. Satz an manchen Stellen zu wenig bewegt, auch die Gedanken infolgedessen nicht immer genügend zusammengeballt, die 'Coda' nicht übersichtlich genug und nur der allerletzte Schluß gerät restlos, was aber die Wirkung des ganzen Satzes nicht retten kann. Das Scherzo zu schnell, aber mit blendender Sicherheit vorgetragen. Auffallend und prachtvolle originelle Dirigierzüge. Das Adagio zu breit und der Tondurst der Geigen mit Mühe zurückgehalten. Zu langsam das D-Dur Sätzchen, die Variationen zu dick bei den Geigen, wie dann F. überhaupt hinter das Geheimnis doch nicht gekommen zu sein scheint, dass ein längeres cresc. nicht durch ein wirkliches Steigern der Kraft von Ton zu Ton, sondern durch Umwandlung in Beschleunigung verbunden mit einem Druck bei der Zielstelle auszuführen ist. Im letzten Satz sind die Vokalpartien glücklich durchgebracht und damit wohl die Hauptschwierigkeit beseitigt worden."


    Glücklich der Dirigent, dem solche Art von Kritik zukommt. Beide blieben bis zum Tod Schenkers im Gedankenaustausch. Furtwängler hat das Buch über diese Sinfonie intensiv studiert und viele seiner Anregungen aufgegriffen und umgesetzt.


    Wiederholungszwang oder teuflisches Spiel - die metaphysische Frage


    Und so hat sich bis heute keine gültige Interpretation dieser Stelle durchgesetzt, sondern im Gegenteil ist fast unvorstellbar, wie unterschiedlich sie gedeutet wird. Was ist ihr Sinn? Beweist ihre Unergründlichkeit - gerade auch im Unterschied zum Chorfinale - die Überlegenheit der Musik über das Wort, wovon sogleich Schopenhauer sprach, und dass der Musik eine Aussage gelang, wofür der Philosophie schlicht die Kategorien fehlen, solange sie in den von Aristoteles geprägten Bahnen bleibt?


    Nietzsche hatte Wagners Begeisterung für dieses Werk geteilt. Als er dann aber nach seiner Abkehr von Wagner alles in Frage stellte, was ihm bis dahin wichtig gewesen war, wurde auch die 9. Sinfonie umgewertet. Schweren Herzens hielt er Beethoven vor, noch einmal das metaphysische Bedürfnis wachzurufen und zu Tränen zu rühren, von dem alle Freigeister sich innerlich bereits befreit gefühlt hatten. ("Menschliches Allzumenschliches", Bd. 1 Aph. 153). Hier dachte er sicherlich an die Passagen im letzten Satz über den himmlischen Vater. Die sind jedoch Beethovens Versuch einer Antwort auf den 1. Satz.


    Stellen wie diese können eine moralisch verheerende Wirkung haben. Nietzsches Warnung vor angeblich metaphysischen oder ewigen Werten und Ideen, mit denen nur eine bestimmte Moral versteckt und verkauft werden soll, ist sehr ernst zu nehmen. Solche Stellen drohen durch ihren scheinbar übermenschlichen Entwurf den Blick auf die wahren Unterschiede zu trüben. Angesichts ihrer Größe scheint demjenigen alles erlaubt, der in ihrem Namen zu handeln meint und über alles hinweggeht, was dem nicht gewachsen erscheint. Schenker selbst ist ein tragisches Beispiel dafür, als seine Kritik an den verflachenden Retuschen umschlug in die selbstzerstörerische Anbiederung - er war ein Jude aus Galizien -, gemeinsam mit den Nationalsozialisten seine Gegner auszurotten. Und wie ist zu verstehen, dass Furtwängler 1942 in Berlin in dem historischen Moment und an dem Ort eine der wenigen gültigen Einspielungen gelang, als von dort die größten Verbrechen ausgingen?


    Ist das gar ein deutsches Verhängnis? Im gleichen Jahr 1942 arbeitete im amerikanischen Exil Adorno an seinem Beethoven-Buch und ein Jahr später Thomas Mann an seinem Faust-Roman. Faust tritt in der Gestalt des Komponisten Leverkühn auf. In ihm treffen sich die Figur von Nietzsche und die Zwölfton- und Reihentechnik Schönbergs. Sein Lehrer doziert mit den Worten Adornos über Beethovens Spätwerke, und was er zu sagen hat, geht unmerklich über in die Verführungskunst des Teufels. Leverkühn läßt sich davon faszinieren, am Ende aber sieht er keinen Ausweg mehr, als die 9. Sinfonie zu widerrufen, nachdem ihm im Leben alles genommen wurde, was ihm lieb war. Wenn das der Preis ist, ein großes Werk schaffen zu können, - und Beethoven war in kritischen Momenten seines Lebens in ähnliche Krisen geraten bis dicht an den Selbstmord -, kann er an die Freude als höchsten Ausdruck der Kunst nicht mehr glauben. Indirekt ist damit gesagt, dass auch diese Sinfonie dämonische Züge trägt. Und niemand hat das besser getroffen als Furtwängler. Adorno war einer seiner Bewunderer.


    Was dem einzelnen Künstler geschah, drohte nun dem ganzen "Volk der Dichter und Denker": Je mehr sich in den Kriegsjahren die letzten Hoffnungen der Exilanten auf eine Selbstbefreiung Deutschlands und eine Neugeburt zu den Klängen der Freuden-Melodie zerschlugen, desto düsterer gestaltete Mann die Vision von Leverkühns letztem Werk, "ein ungeheueres Variationenwerk der Klage - negativ verwandt als solches dem Finale der Neunten Symphonie mit seinen Variationen des Jubels", eine Vertonung der zwölf Silben "denn ich sterbe als ein böser und guter Christ".


    Beethoven stand an einem Wendepunkt. Bei ihm ist erstmals die Musik ganz auf ihre eigenen Gesetze angewiesen, während sie vorher von übergeordneten Bedeutungen getragen war. In der Musik war es ähnlich wie bei mittelalterlichen Bildern und Skulpturen: Früher war die symbolische Bedeutung aller Stilelemente bekannt und jeder, der diese Bilder betrachtete, wusste, was angesprochen war. So genügte es auch in der Musik, eine Melodie, ein Intervall, eine rhetorische Figur anzudeuten, und damit war eine umfassendere Bedeutung genannt. Beethoven war einer der letzten, der noch ganz darin leben konnte. Er kannte noch die alten Bedeutungen der Tonarten, rhetorischen Figuren und der einzelnen Instrumente. In seinen freien Improvisationen konnte er ganze Geschichten erzählen. Das galt auch für seine frühen Klavier-Sonaten und er wunderte sich, wenn das kaum jemand mehr nachvollziehen konnte und von ihm Erklärungen erwartet wurden, was gemeint ist.


    Schon lange vor ihm hatten die Komponisten nach neuen Ausdrucksformen gesucht und diese in der Sonate gefunden. Hier begann eine neue Stimme zu sprechen, ein persönlicher Ausdruck eigener Gefühle, unwiederholbar ihr erster Höhepunkt bei Scarlatti. Das war für die Beteiligten wie die Abschüttelung einer zentnerschweren Last. Das sollte befreien von der Angst und Flucht, die in jeder Fuge waltet, und dem steifen Stil der höfischen Tänze in den Suiten und Ouvertüren, wo die Musiker einer Gesellschaft aufspielen sollten, der sie innerlich längst fremd geworden waren. Wer kann sich der Leichtigkeit und zugleich dem Ernst dieser Musik entziehen, die im 18. Jahrhundert komponiert wurde?


    Vermochte aber diese Musik wirklich eine schlüssige Antwort zu finden? Adorno sucht nach dem verborgenen metaphysischen Glaubensbekenntnis, das an die Stelle von Mythos und Religion getreten war. Das ist für ihn ein neues Verständnis der Zeit. Dafür steht Kants Neubegründung der philosophischen Kategorien durch den Zeitbegriff, und er ist überzeugt, dass Beethoven dank der Musik weit über Kant und Hegel hinauszugehen vermochte.


    (1) Mit der Sonatenform ist eine Zeitstruktur vorgegeben, die der Musik einen Freiraum für subjektive Gestaltung in der Durchführung gibt, und dann mit der Reprise wieder in einen kreisförmigen Ablauf A - B - A schließt. (2) An der kritischen Stelle der Sonatenform, dem Reprisenbeginn, schlägt die Harmonie um in Banalität und zuende gedacht fällt sie wieder zurück in die Gewalt neuer Mythen. Oder es kommt zu einem nur in metaphysischen Begriffen zu fassenden Katastropheneinbruch wie im 1. Satz der 9. Sinfonie, der ein tiefes Verständnis der "Geheimnisse der Schöpfung" und der Zeit zeigen kann. (3) Die musikalische Zeit der Klassik führt schließlich aus sich selbst heraus zu einer Verräumlichung. Die beginnt mit Wagner und führt über Debussy zu Strawinsky. Wagner im Parsifal: "Zum Raum wird hier die Zeit." Mit Wagner gewinnt die Klangfarbe eine ganz neue Bedeutung. Bei Beethoven gibt es dafür bereits Ansätze (Aufwertung der Holzbläser, Hörner und der Pauke).


    Reprisenbeginn


    Was ist am Reprisenbeginn so schlimm? Mit der Reprise wird nach der freien Durchführung die Exposition wiederholt, und darin sieht Adorno einen drohenden Rückfall in den Mythos. Er meint: Die Wiederholung setzt die Identität durch und lässt damit den Anspruch des Ganzen und der Totalität über alle Abweichungen, Besonderheiten und persönlichen Eigenarten und Freiheiten dominieren, denen in der Durchführung einiger Spielraum gegeben worden war. Die Zeit holt mit der Reprise alles wieder ein, setzt die Exposition als das Dauerhafte und unangefochten Siegende durch und läßt keine Öffnung für Werden und Vergehen, Wandlung oder Ausbruch. Sein Ideal ist daher Schönbergs Gegen-Entwurf der entwickelnden Variation, die er als eine immer weiter geführte Durchführung verstand, ohne von einer Reprise und am Ende auftrumpfender Coda wieder zurecht gerückt zu werden.


    Beethoven schien zunächst das Gegenteil zu beweisen. Er wurde mit seinen Klavier-Sonaten und den Kopfsätzen der Sinfonien der große Meister der Sonate. Seine Zeitgenossen verstanden, wie er diese Form auf die Höhe seiner Zeit brachte, der Französischen Revolution und der Philosophie von Hegel. Bei ihm wurde klar, wie die Dreiteiligkeit der Sonate zu Hegels dialektischer Methode passt, und diese sich wiederum auf die christliche Trinität beziehen kann. Für einen Moment schien die Musik ein neues Fundament zu finden. Die Reprise wäre dann die Geburt des Geistes aus den Gesetzen des Vaters (der Exposition) und dem Lebensweg des Sohnes (der Durchführung).


    Das wurde von einer neuen Generation der Musikkritik begeistert aufgenommen und kann wohl als Gründungsakt der modernen Musikwissenschaft gelten (Adolph Bernhard Marx, der ab 1823 in Berlin die dortige "Allgemeine Musikzeitung" herausgab). Doch gerade da, als begonnen wurde, die Sonatenhauptsatzform - schon dieser Name spricht für sich - zu kodifizieren, brach Beethoven aus ihren Grenzen aus.


    Als die Musikkritik von seinen ab 1820 erscheinenden Werken erwartete, endlich die "Lösung" der Sonate geliefert zu bekommen, kamen von ihm immer unverständlichere und auch unspielbarere Werke wie die Hammerklavier-Sonate, die Diabelli-Variationen, das opus 111, die späten Streichquartette. Da blieb nichts anderes übrig als einzuräumen, dass jedes seiner Werke nur noch aus sich selbst erklärt werden kann, wenn ihm nicht gleich Krankheit bis an die Grenze des Wahnsinns attestiert wurde.


    Je mehr sich der subjektive Ausdruck verselbständigte, verlor er seinen Rückhalt in einer allgemein verbindlichen Form. Und so droht aus der immer übermächtigeren Subjektivität entweder leeres Imponier-Gehabe zu werden, wogegen sich Adorno wendet, oder unerwartete innere Dämonen stiegen auf, wie es im 1. Satz der 9. Sinfonie zu hören ist. Das kann die Vernunft in den Wahnsinn treiben (wenn Wahnsinn nicht als Denunziation gemeint ist). Adorno und Mann sehen hier einen Teufelspakt.


    Bekker hat wundervoll beschrieben, wie die ersten Takte mit dem Quintintervall und dem einander folgenden Eintritt der D-Hörner, Klarinette, Oboe, Flöte II, Flöte I, B-Horn - eine Tonleiter der Klangfarben - einer Beschwörungsszene gleichen, aus der eine Kraft erwächst, die schließlich das Subjekt mit Grauen erstarren läßt. Dieser Satz ist ganz anders als etwa der 1. Satz der Eroica oder der 5. Sinfonie kein Ringen mit dem Schicksal, sondern offenbart die inneren Untiefen eines Subjekts, das seinen Halt zu verlieren droht und mit inneren Mächten konfrontiert ist, denen es nichts entgegen zu setzen weiß.


    Oft scheint beim Reprisenbeginn die Musik besonders munter zu laufen und neue Kraft und Eleganz zu gewinnen - vollendet bei Haydn! -, wenn sich im Grunde alles als harmlos erweist und beim Altbewährten bleibt. Hier dagegen scheint nach der ungeheuren inneren Bewegung der Durchführung und ihrem Umschlag in die Reprise die Zeit still zu stehen. Je überwältigender der Ausdruck der Musik, desto kleiner und regloser das Subjekt. Fast ist nur noch ein Brausen zu hören. Weingartner hat das sehr gut beschrieben. Diese 38 Takte scheinen außerhalb der Zeit zu stehen, da das Subjekt die Zeit nur wahrzunehmen vermag, wenn es sich in ihr bewegen kann. Und doch geschieht etwas in diesen Takten.


    Hatten schon Beethovens tragische Zäsuren gezeigt, wie er nicht nur gemäß bestimmter Regeln und Formen zu komponieren weiß, sondern das ganze Regelwerk gleichsam in Schwingung zu versetzen vermochte, so begann nun deren Dynamik eine eigene Kraft zu gewinnen und ihn im Gegenlauf zu überwältigen. Das ist die Besonderheit des Reprisenbeginns in der 9. Sinfonie. Wird diese Sinfonie richtig gespielt, ist zu hören, wie die subjektive Stimme bei der Zäsur in der Durchführung mal zu sprechen vermag und dann wieder ergriffen wird von dem Geschehen um sie herum.


    Gras-Engel (Takt 315 - 322)


    Adorno kommt 1942 in einem Fragment zum unvollendet gebliebenen Beethoven-Buch genau auf diesen entscheidenden Punkt. Zwar meint er Beethoven im Ganzen und nicht speziell diese Stelle. Mir scheint jedoch ausgehend von dieser Stelle möglich, Adornos Gedanken besser zu verstehen. Das schwierige Fragment lautet vollständig:


    "Zur Metaphysik der musikalischen Zeit. Den Schluß der Arbeit beziehen auf die Lehre der jüdischen Mystik von den Grasengeln, die für einen Augenblick geschaffen werden um im heiligen Feuer zu verlöschen. Musik - nach der Lobpreisung Gottes gebildet, auch und gerade wo sie gegen die Welt steht - gleicht diesen Engeln. Ihre Vergänglichkeit, das Ephemere, ist eben die Lobpreisung. Nämlich die immerwährende Vernichtung der Natur. Beethoven aber hat diese Figur zum musikalischen Selbstbewußtsein erhoben. Seine Wahrheit ist eben die Vernichtung alles Einzelnen. Er hat die absolute Vergänglichkeit der Musik auskomponiert. Das Feuer, das seinem - gegen das Weinen gerichteten - Wort zufolge Musik in der Seele des Mannes entzünden soll, der Enthusiasmus, ist das 'Feuer, das Feuer [die Natur] verzehrt' (Scholem)." (Beethovens Wort über das Entzünden des Enthusiasmus wurde ihm allerdings erst nachträglich in einem nicht authentischen Brief von Bettina von Arnim untergeschoben.)


    Auf den ersten Blick widerspricht Adorno sich hier selbst. Wird nun Beethoven und seine Musik für das gelobt, wogegen er sich sonst wendet: "die Vernichtung alles Einzelnen"? Hat die Musik die vernichtende Kraft des Feuers, das alle Natur vernichtet, oder des Grases, der Natur, die im heiligen Feuer verlöscht? Scholem hatte Adorno 1935 die kommentierende Übersetzung der "Geheimnisse der Schöpfung" gesandt, dem zentralen Kapitel des kabbalistischen "Sohar", eine Deutung der biblischen Schöpfungsgeschichte.


    Sonne, Mond und Sterne und mit ihnen das klassische Urbild der Sphären-Musik und damit der musikalischen Harmonie wurden erst am 4. Schöpfungstag erschaffen. Die ewige Gleichförmigkeit der Sternbewegung ist seit der Antike sowohl das Maß der Zeit wie der Musik. Unübertroffen Bachs "Kunst der Fuge". Die Sonatenform hat sich zwar von objektiven Bildern gelöst und will die innere subjektive Bewegung zum Ausdruck bringen, doch auch ihre Zeitstruktur der Wiederholung hat ihren Ursprung in der ewigen Bewegung der Himmelskörper.


    Was an den 3 Tagen "vorher" geschah, steht buchstäblich außerhalb oder vor der Zeit. Dort werden zwar Tage gezählt und es heißt wiederkehrend "da ward aus Abend und Morgen der nächste Tag". Doch sind dies keine Tage, wie wir sie kennen und verstehen, wo es noch keine Sonne, keine Erde und keinen Mond gab, die sich umeinander drehen. Tag ist gemeint im Sinne von: "Tageswesen sind wir, vergänglich wie der Tag. Mit jedem Tag bricht etwas Neues an, und jeder Tag kann den Tod bringen." Und Nacht ist das Nächtliche, Dunkle, Unberechenbare und zugleich Reinigende und die Zeit der Wiedergeburt. Beethoven hat sich sehr mit solchen Fragen beschäftigt. 1816 trug er in sein Tagebuch aus einem Buch über indische Religion ein: "Zeit findet durchaus bey Gott nicht statt."


    In dieser turbulenten, chaotischen Bewegung werden am zweiten Tag kurzlebige Engel geschaffen, teils mit bösen, teils mit guten Zügen. Alles ging ineinander über. Nichts ist für sich überlebensfähig und droht entweder mit dem Übermaß oder der Unvollständigkeit der missgestalteten und einander zugleich suchenden und abstoßenden Kräfte alles andere und sich selbst zu vernichten. Solche Vorstellungen gab es keineswegs nur in der hebräischen und kabbalistischen Tradition. Offenbar kannte Beethoven die Beiträge von Reinhold über die kabirischen Mysterien von Samothrake im "Journal für Freimaurerey", erschienen 1795 in Wien. Schindler fragte ihn einmal, ob er nicht einen Kanon über "Lumpenkerl von Samotrazien" schreiben wolle. Schelling charakterisierte 1815 Axieros, den ersten der Kabiren, einen dieser Lumpenkerle: "Das verzehrende Feuer, das, selbst gewissermaßen nichts, nur ein alles in sich ziehender Hunger nach Wesen ist."


    Am dritten Tag gibt es eine gegenläufige Bewegung. In der dunklen Erde entsteht nicht nur die Hölle, auf ihr toben nicht nur die wilden, alles vernichtenden Urtiere (Drachen). In ihrem Innern sammeln sich die Wasser und lösen eine Gegenbewegung aus. In einer Interpretation von Psalm 104,14 erläutert der "Sohar" in dem Abschnitt, auf den Adorno sich bezieht:



    Joëlle Dautricourt: Tehilim, Psalm 104, Vers 25-27, 1997


    "Die Erde bringe Gras hervor, Kraut, das Samen sät. Nun brachte sie Kräfte hervor, durch jene 'Wasser', die sich an Einem Ort versammelt hatten und in ihr Heimlichstes eingeströmt waren, und in ihrem Schoß entsprangen himmlische Kräfte und heilige Scharen, die die 'Kinder des Glaubens' [die Frommen] zur geheimen Gestaltung bringen, wenn sie ihrem Herren Dienen. Auf dies Geheimnis deutet der Vers 'der Gras für die Behema sprossen läßt' [Behema, eigentlich 'das Tier' ist die vorher 'Erde' genannte Schechina], die auch 'das Tier, das auf Tausend Bergen lagert [nach einem Schriftwort] heißt. Und diese 'Berge' [die die Frommen sind] bringen ihr täglich Gras hervor. Und dies 'Gras' - das sind die Engel, die nur für eine Weile Macht ausüben und am zweiten Tag erschaffen sind, um von jener Behema verzehrt zu werden [der Schechina], die ein Feuer ist, das Feuer verzehrt." (Aus Scholems Übersetzung des "Sohar", S. 70)


    Dies "Gras für die Behema" wird deutlich unterschieden vom "Kraut für die Arbeit des Menschen". Das Gras sprießt immer wieder von allein aus der Erde, wird von den wilden Tieren und dem alles verzehrenden Feuer vernichtet, und wandelt im Moment des Verlöschens deren Wildheit. Das Kraut dagegen ist die Urpflanze, die den Menschen land- und fortwirtschaftliche Arbeit ermöglicht, insofern Grundlage aller Kultur.


    Wenn Adorno die Musik als Gras-Engel versteht, deute ich das so: Sie hat keinen direkten ökonomischen Nutzen wie die Kräuter, niemand wird von Musik satt, und kein Erzeugnis menschlicher Kultur wird durch Musik haltbarer, sicherer oder schöner. Instrumente können Musik erzeugen, aber nichts kann mit Musik angemalt und schöner gestaltet werden oder ist aus Musik gemacht. Musik hat immer etwas Einmaliges und Verlöschendes, sowie der Atem und die Konzentration bei ihrer Komposition, Ausübung oder Wahrnehmung nachlassen. Das definiert ihre tiefste Zeitstruktur und steht in Widerspruch zu allen festen Formen, und sei es die der Sonate, wodurch erfolglos versucht wird, Musik der gleichen Gesetzlichkeit wie den Werken der menschlichen Kultur unterzuordnen. So sehr die Kompositionen (das "opus") Werkcharakter annehmen können, bleibt das Besondere der Musik doch enthalten in dem unvermutet Aufschießenden und wieder Verlöschenden, wie es das Wesen der Gras-Engel ist. Und das vermag vielleicht auch zu erklären, wie ausgerechnet 1942 in Deutschland eine solche Aufnahme wie die von Furtwängler gelingen konnte.


    Für diese Deutung lässt sich in der Partitur der 9. Sinfonie ein Anhalt finden. In der Mitte des Reprisen-Beginns kommt es zu einer zweiten Zäsur, die derjenigen aus der Durchführung korrespondiert. In den Worten von Schenker: "In den Takten 315 - 322 [8:15][10:07] fällt bei den Bässen ein neuer Inhalt auf, der im Werke noch keine Vergangenheit hat, ... den Kontrabässen einen eigenen, neuen Kontrapunkt zu geben." Dadurch ist die Wirkung des Fortissimo nicht gebannt, sondern mehr noch: unmerklich gewandelt. Auf dieser zweiten Zäsur beruht die tiefste Aussage dieses Werks. Sie ereignet sich gewissermaßen außerhalb der Zeit.


    Adorno hat sich keineswegs immer an die eigenen Einsichten gehalten, was es schwer machen kann, sich seinen Texten zu nähern. Oft scheint er sich im Besitz einer Art Geheimwissens gefühlt zu haben, das ihm zu erlauben schien, mit gleichermaßen elitären wie diabolischen Zügen über seine Gegner herzufallen und diese mit der Absicht völliger Vernichtung zu attackieren. Das konnte ihm den Ruf des teuflischen Verführers einbringen, was implizit bereits durch Thomas Manns Roman nahegelegt war und später durch die Kritiker der 68er aufgegriffen und verstärkt wurde, die ihn als einen der übermächtigen Verführer sehen.


    Aber hier gilt es, sich auch von diesem Bann zu befreien und nicht zu versuchen, ihn im Gegenzug zu entlarven und zu überführen, wie er es oft genug mit seinen Widersachern versucht hat. So könnte die Musik von Beethoven helfen, aus der Lähmung und Selbstblockade des deutschen Denkens seit 1945 hinauszuführen.


    Biographische Nachträge


    Ergänzend einige biographische Hinweise. Maynard Solomon ist überzeugt, dass Beethovens Kreativität mit einigen auffallenden Lebensumständen zu tun hat. Lange hat er seine Taufurkunde und damit sein Geburtsdatum angezweifelt. Er hielt sie für das Dokument des bereits nach 6 Tagen verstorbenen 2 Jahre älteren Bruders Ludwig Maria. Dessen früher Tod gibt auch eine psychologische Erklärung für seine häufigen Selbstmord-Gedanken. Immer war ihm dessen nie gehörte Stimme gegenwärtig, aus der Trauer seiner Mutter und den Erwartungen, er solle an dessen Stelle treten. Er glaubte nicht an die Identität seines Vaters, sondern hielt zumindest zeitweise sogar den preußischen König für den wahren Vater. Da der leibliche Vater alkoholsüchtig war, musste er schon früh dessen Rolle als Familienoberhaupt übernehmen.


    Bis 1819 vermochte er sich in Wien als Adligen darzustellen. Anders wäre ihm der Zugang zu seinen Mäzenen kaum gelungen. Die innere Spannung versuchte er zu lösen durch Grobheit und eine gewisse Arroganz, diese würden sich als seine Freunde fühlen, wo er sie doch nur benutzt zum Dienste seines Werkes. Gegenüber seinem Neffen gab er sich nach dem Tod seines Bruders als dessen Vater aus und wollte ihm zugleich die Mutter ersetzen. Andererseits könnte er sich als der Vater des am 8.3.1813 geborenen Karl Josef Brentano fühlen. Der wurde wenige Tage vor Beethovens Brief an die "Unsterbliche Geliebte" gezeugt. ( Mehr ) (Karl Josef war schon in frühen Jahren schwer krank und wahrscheinlich behindert. Antonie Brentano hat sich sehr um ihn gekümmert und sein Leben lang mehrere Betreuer engagiert. Er starb 1850.)


    Bei Beethovens zahlreichen Krankheiten ist bis heute ungeklärt, zu welchen Anteilen sie aus falscher oder verspäteter ärztlicher Behandlung rühren, aus Infektionswellen, einer Bleivergiftung, psycho-somatischen Störungen oder falschem Lebenswandel. Konnte er so grob sein aus Überheblichkeit, Verzweiflung oder weil dies zum Krankheitsbild einer Darmentzündung oder Bindegewebeerkrankung gehört, an denen er litt? Waren der Alkohol, der Gram über den Selbstmordversuch des Neffen, zunehmende Vereinsamung oder Langzeitwirkungen seiner Krankheiten Schuld am Tod?


    Seine Identität war in ein Netz von Lügen und Selbstlügen, Zuschreibungen und falschen Erwartungen versponnen. Als seine Gönner starben und er von den Verlegern abhängig war, scheute er nicht, die "Missa solemnis" mehrfach zu verkaufen, ein klarer Betrugsversuch. Bis heute kann all das Spott und Satire hervorrufen. (Ein Beispiel: Edmond Pollak). Nichts hoffte er sehnlicher als auf eine bessere Gesellschaft, wo einfach alle einander Brüder sind. Manchmal träumte er von der urkommunistischen Idee, die Gesellschaft würde ein "Magazin der Kunst" einrichten, wo alle Künstler ihre Werke abliefern und dafür frei von allen Abhängigkeiten und Demütigungen ihren Lebensunterhalt sichern können. Die Skizzenbücher haben gezeigt, dass schon 1812 die Freuden-Melodie entworfen war. Als er alle Hoffnungen auf ein "normales" bürgerliches Leben aufgeben musste, blieb das seine Utopie und innere Stütze. In einer langen Phase der Umarbeitung unterschiedlichster Ideen wollte er die 9. Sinfonie ganz auf diese Melodie als ihren Höhepunkt komponieren.


    Solomon meint, dass so die 9. Sinfonie das erste Werk wurde, das aus einer einzigen Idee heraus entstand und ein dichtes Netz innerer Bezüge aus Erinnerungen und Voraussichten enthält. Damit sei es Beethoven gelungen, die Art von Phantasie kreativ umzusetzen, die er ein Leben lang zur Deutung und Umdeutung seiner persönlichen Lage hat aufbringen müssen.


    Und doch blieb auch hier Unsicherheit zurück. Die Final-Sätze bereiteten ihm häufig besondere Schwierigkeiten. Das ist zum Beispiel an der Eroica kritisiert worden. Oft lagen mehrere unterschiedliche Versionen vor, die bisweilen ausgetauscht oder ganz ersetzt wurden. So entstand die Reihe der 3 Leonore-Ouvertüren. Das Andante favori WoO 57 wurde aus der Waldstein-Sonate ausgegliedert, das Finale der Violin-Sonate op. 30 Nr. 1 wanderte in die Kreutzer-Sonate op. 47. Bei der Hammerklavier-Sonate war sich Beethoven bis zum Schluss unsicher, ob der letzte Satz mit der Fuge ausgelagert werden sollte. Umgekehrt wurde beim Streichquartett op. 130 empfohlen, die Große Fuge op. 133 zu ergänzen. Czerny berichtete, dass Beethoven auch mit dem Chor-Finale der 9. Sinfonie unzufrieden war. Solomon erscheint das glaubhaft. Doch ließ er jede weitere Arbeit daran liegen und konzentrierte sich auf die späten Streichquartette. "Muß es sein? - Es muß sein!" (Eintrag im Streichquartett op. 135)


    Viele Grüße,


    Walter

  • Lieber Walter,


    ich bin sprachlos, vielen Dank für diese endlose Mühe! :jubel:


    Wenn ich das alles in ein bis zwei Tagen durchdrungen habe, werde ich mich melden.


    (ich glaub, ich druck mir das aus zur besseren Lesbarkeit)


    liebe Grüsse,
    Markus

  • Lieber Walter,
    leider kann ich nicht mehr, als mich bedanken, obwohl ich Dich eher ahne als verstehe - ich werde versuchen, so vorzugehen wie ThomasBernhard. Aber vorher muss ich das erst einmal sacken lassen.
    Ich möchte nur nicht versprechen, zu antworten - ich fürchte, nach diesem Aufsatz käme von mir da nur Unsinn heraus.


    Liebe Grüße
    hemmi (Bernd Hemmersbach)

  • Hallo, Walter!


    Auch ich bin sehr beeindruckt von Deinem Beitrag! :yes: :hello:


    Der Beginn der Reprise im ersten Satz der Neunten ist für mich auch eine der interessantesten Stellen in Beethovens Oevre (wer braucht da noch das Finale? :stumm: ). Richtig schätzen gelernt habe ich den Satz erst vor kurzem, daher war ich besonders erfreut über Deine Worte dazu.


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Hallo Walter,


    meine volle Anerkennung für diese Leistung 8o !!!
    Scheinbar gibt es doch keine Maximalbegrenzung für den Umfang eines Beitrags ;)
    Im Ernst: ich scheibe auch, bevor ich alles detailliert gelesen habe, was ich aber (aufgrund der jetzigen Uhrzeit und der Tatsache, dass ich morgen um 6:50 schon wieder aufstehen muss) auf morgen verschoben habe...
    Ich liebe den ersten Satz der 9. :lips: eine wahnsinnig gute Einspielung dieser Stelle ist IMO Furtwängler kurz vor Kriegsende geglückt - das ergreift [ich werde aber trotzdem von meiner Meinung über Furtwänglers Interpretationen anderer Beethovensymphonien nicht abweichen :P ]
    Der 1. Satz ist mir der liebste, dann kommt gleich der 3.; mit dem Finale habe ich so meine Probleme, seit man es Karajan sei Dank wirklich überall hören muss und es jeder kennt - ein Musikwissenschaftler bezeichnete es mal als "Hausmeisterverbrüderung" :stumm: - aber 1 und 3 :jubel:


    :hello:
    Stefan


    PS: Diesmal werd ich wahrscheinlich nicht mal Prügel wegen der unflätigen Kritik am Finale kriegen, da ich gerade gelesen habe, dass auch Pius es nicht so schätzt :D
    ...und wehe jetzt kommt mir einer mit dem Cäsar und dem Ochsen daher... :baby:


    PPS: In dem kleinen Ausschnitt meiner Sammlung, den ich hier unter der Woche dabei habe ist zufällig die 9. unter Furtwängler - das passt ja dann morgen ganz gut :]

    Viva la libertà!

  • Von mir ein paar unsystematische Anmerkungen zu diesem höchst lesenswerten Beitrag:



    Zitat

    Original von Walter.T
    Ein wenig möchte ich hiermit auch dieses außergewöhnliche Werk rehabilitieren, das im Ranking der Beethoven-Sinfonien überraschend schlecht abgeschnitten hat.


    Sehr oft, auch wieder in diesem Thread, findet man dazu die Meinung: die ersten drei Sätze hui, der vierte pfui. Der vierte Satz mag ja hypertroph sein, aber er hängt wohl doch enger mit den ersten drei Sätzen zusammen, als man gemeinhin denkt. Außerdem stören sich viele an der Simplizität der Freudenmelodie, die ja von Beethoven ganz ausdrücklich als erfolgreiche Alternative zu den Themen der drei ersten Sätze vorgestellt wird. Gerade diese Einfachheit ist bei Beethoven aber Programm (wie schon beim ebenfalls "simplen" Finale der Fünften). Er wusste rezeptionsästhetisch sehr genau zu unterscheiden, wie und für wen er eine Symphonie schreiben wollte und für wen ein Streichquartett. In dieser Differenzierung und dem bewussten Verzicht auf Komplexität liegt eine eigene Qualität.




    Zitat

    Da geht es nicht musikalisch-schön her, und die vermeintlichen Beethovenschen Instrumentierungsschwächen und angeblich falschen Metronom-Angaben gehören für mich wesentlich zur Aussage dieser Stelle. Der erste Satz sollte bei den vorgeschriebenen 88 Viertelschlägen je Minute etwas weniger als 13 Minuten dauern! Charles Münch kommt mit ziemlich genau 14 Minuten immerhin in die Nähe.


    Von den Aufnahmen, die ich kenne, ist Gardiner mit 13 Minuten und einer Sekunde der schnellste. Ich bin ein Befürworter der Beethoven'schen Metronomisierungen und Gardiner hat wahrlich einen Pauker zur Verfügung, der diese Passage meistert. Der Effekt, dass diese Takte - wie Du so schön schreibst - "in der Zeit stillzustehen scheinen", stellt sich aber trotzdem nicht ein. Hier ist Furtwängler trotz oder wegen seines langsameren Tempos näher dran (ich beziehe mich allerdings auf die Bayreuther Aufnahme von 1951). Furtwängler lässt ja parallel dazu noch einmal die Zeit stillstehen: im vierten Satz nach dem Vers "Und der Cherub stand vor Gott" fügt er (partiturwidrig) eine geradezu unglaublich lange Generalpause ein - und auch hier geht es, wie im ersten Satz, um das Thema des (göttlichen und menschlichen) Schöpfungsaktes (wenn man Adorno folgt).



    Zitat


    Meistens wird nur gesehen, welche Wirkung diese Stelle auf Wagner, Bruckner und Mahler hatte. Aber genau so spannend ist die Vorgeschichte. Keiner hat das besser verstanden als Mendelssohn. Er hat 1837 in Leipzig den ersten Satz in einem Tempo gespielt, dass dem Publikum - und dort saßen auch Wagner und Schumann - Hören und Sehen verging. Schumann sprach ihn an. Mendelssohn erklärte, für ihn käme dem Schwung des ersten Satzes nur der Schluss des d-Moll Konzerts von Bach gleich. Das ist die Lösung! Zum Beispiel in der Aufnahme mit David und Igor Oistrach unter Leitung von Rudolf Barschai ist zu hören, was Mendelssohn gemeint hat.


    Dieter Hildebrandt (nicht zu verwechseln mit dem Kabarettisten) schildert die Szene in seinem informativen Buch "Die Neunte" (Hanser-Verlag 2005) so (S. 169):


    Mendelssohn hatte die Sinfonie am 15. März 1837 im Leipziger Gewandhaus dirigiert; unter den deutschen Musikern war er wie kein anderer mit dem Werk vertraut. Am Tag nach der Aufführung besuchte ihn Schumann schon früh am Vormittag; er muß sein Herz ausschütten, seinen Groll loswerden: "Den ersten Satz nahm M. unbegreiflich rasch, für mich so beleidigend, daß ich geradezu fortging. Ich sagte es ihm auch, sogar etwas grob und geradezu. Er war frappiert 'er hätte ihn sich nie anders gedacht'. Dann 'die ersten drei Sätze wären übertrieben schön'." Schumann notiert noch über das Gespräch, daß Mendelssohn sich einige Änderungen in der Instrumentierung wünsche [...], und dann kommt eine erstaunliche Äußerung: "Den letzten Satz verstünde er nicht."


    Eine sehr interessante Passage, die zeigt, wie gegensätzlich Mendelssohn die Symphonie etwa zu Wagner aufgefasst hat (in der Frage der Retuschen stimmten sie allerdings überein, wenn man Schumann Glauben schenkt).
    Der Vergleich mit Bachs Doppelkonzert erstaunt mich allerdings ein wenig (ist bei Hildebrandt, der allerdings auch nur aus zweiter Hand zitiert, nicht enthalten).




    Adornos Theorien zur Entwicklung der Sonatensatzform finde ich auch faszinierend, obwohl die fast ausschließlich geschichtsphilosophische Deutung musikalischer Sachverhalte hier an Grenzen stößt. Schon aus dem Grund, weil Adorno (wie ja auch von Dir beschrieben) hier einer teleologischen Geschichtsdeutung erliegt, die unbeirrbar von Beethoven zu Schönbergs entwickelter Variation führt - ein Standpunkt, hinter den die Musik nicht mehr zurückfallen dürfe (daraus resultieren ja auch Adornos z.T. dogmatische Verhärtungen bei der Beurteilung bestimmter Komponisten oder musikalischer Richtungen, die heute kaum noch jemand akzeptiert).


    Aber bloß keine Aburteilung Adornos! Seine Beobachtungen zur Entwicklung der Sonatensatzform bei Beethoven sind ungeheuer aufschlussreich: der Triumph dieser Form etwa in op. 59 Nr. 1, wo gleich alle vier Sätze so aufgebaut sind, bis zum Widerruf etwa in der Neunten Symphonie. Ein besonders faszinierendes Beispiel sind ja die auch von Dir erwähnten Leonoren-Ouvertüren: in Nr. 2 leitet das Trompetensignal folgerichtig den Schlusstriumph ein, in Nr. 3 nimmt Beethoven das zurück und lässt die Reprise folgen - als ob nichts geschehen wäre!? Oder fällt hier das Trompetensignal wirklich völlig aus der Zeit - somit wäre die 3. Ouvertüre noch kühner!?


    Viele Grüße


    Bernd

  • Vielen Dank für die Rückmeldungen. Bernd (H.), „eher ahne als verstehe“ trifft etwas, was ich durch das Netz von Andeutungen und inneren Bezügen zum Ausdruck bringen wollte. Zum Beispiel war ich völlig verblüfft, als ich bei Solomon den Hinweis auf die „samotrazischen Lumpenkerle“ las. Da lässt sich nur ahnen, was Beethoven damit verbunden haben mag. Das Thema „Gottheiten von Samothrake“, eine frühe vorklassische Religion in Griechenland, ist an sich schon äußerst interessant. Wichtige Bücher wie das von Reinhold sind bis heute nicht publiziert, ich kenne es nur aus Sekundärliteratur. Dies Beispiel scheint mir typisch für die Verunsicherung in religiösen Fragen, die es seit der Aufklärung gibt und für die Beethoven ein gutes Beispiel ist, den meisten sicher gar nicht bewusst.


    Den Hinweis auf Bachs d-moll Konzert gab das Buch von Andreas Eichhorn über „Beethovens Neunte Symphonie“, das ich überhaupt sehr empfehlen kann. Er hat offenbar ein wenig mehr aus Schumanns Tagebüchern zitiert als Dieter Hildebrandt (dessen Buch ich nicht kannte).


    Und Adorno. Bernd (Z.), ich teile Dein Urteil. Auch mit diesem Beitrag zu Beethovens 9. bin ich mit seiner Philosophie noch keineswegs durch. Der dritten These über die Verräumlichung der Zeit will ich weiter nachgehen. Ich vermisse sehr, dass die Diskussion über die „Philosophie der Neuen Musik“ nicht weitergeführt wurde. Zum einen scheint die „neueste“ Musik der Serialisten immer technischer geworden zu sein, was bereits Adorno kritisiert hat. Zum anderen ist es nie gelungen, den Bogen zu verstehen, der sicher von Strawinsky bis zum Jazz und der Pop-Musik nach 1945 reicht.


    Viele Grüße,


    Walter