Haydn, Joseph: Sinfonie Nr. 85 B-Dur „La Reine“

  • In den Jahren 1786 und 1787 komponierte Joseph Haydn für die Pariser Freimaurerloge Olympique sechs Sinfonien [Nrn. 82-87]. In Wien gehörte Joseph Haydn seit dem 11. Februar 1785 der Loge Zur wahren Eintracht an, deren Mitglied auch Wolfgang amadé Mozart war. Das besondere daran ist, dass dies Pariser Loge damals über das größte Orchester von Paris mit rund 65 Musikern verfügte. Als Vermittler dieses Auftrages vermutet man Marie Antoinettes Musikdirektor: Chevalier de Saint Georges. Unter diesen Sinfonien ist natürlich die 85. mit dem Werkbeinamen „La Reine“ [die Königin].


    Die Sinfonie ist – wie in dieser Zeit immer bei Haydn – viersätzig und beginnt mit einer kurzen langsamen Einleitung, ein Adagio. Der Hauptsatz ähnelt Mozarts zwei Jahre später entstandener Es-Dur-Sinfonie KV 543 im Hauptthema sehr, wie ich finde. Der Satz ist sehr feurig und fordert das Mitschwingen extrem heraus.


    Als zweiter Satz folgt eine Romanze, ein Allegretto in Es-Dur, das wiederum nach den Beobachtungen Charles Rosens Mozarts Andante aus dem Streichquintett Es-Dur sehr ähnelt – aber auch hier war Mozart um einige Jahre später am Zug. Bemerkenswert, dass Haydn hier im Mittelteil es-moll wählt, welches er nach Ges-Dur auflöst. Aber er lässt den Hörer nicht lange irritiert, sondern kehrt schnell ins gewohnte Es-Dur zurück, wartet mit einer Soloflöte auf.


    Das Menuett hält sich im Rahmen – fällt vielleicht durch viele Vorschläge im Hauptteil, dann aber speziell durch ein schönes Fagottsolo mit Streicherpizzicati im Trio auf.


    Das Presto-Finale ist wieder so ein Satz, den man lieben muß: Fagott mit Streichern beginnen mit einem tänzerisch-ländlichen Thema, das in der Folge sehr schön variiert dargeboten wird. Besonders liebe ich die Unisoni im Mittelteil des Satzes.


    Wer es kurz und knackig mag, dem sei die Live-Aufzeichnung aus dem Grote Zaal Concertgebouw Amsterdam vom 20.09.1998 mit dem Radio Kamerorkest unter Ton Koopmans Leitung empfohlen. Die Romanze erscheint mir ein wenig zu schnell genommen und damit weniger romanzen- als liedhaft.


    Die Zeiten für Vergleiche:


    01 7’46“
    02 6’57“
    03 3’17“
    04 3’39“


    Ob man die Aufzeichnung noch bekommen kann, weiß ich nicht. Scheint aber in Kooperation mit Brilliant Classics Nr. 92139 mal vorhanden gewesen zu sein [sonst hätte ich sie ja nicht].


    :hello:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Zitat

    Original von Ulli
    Als zweiter Satz folgt eine Romanze, ein Allegretto in Es-Dur, das wiederum nach den Beobachtungen Charles Rosens Mozarts Andante aus dem Streichquintett Es-Dur sehr ähnelt – aber auch hier war Mozart um einige Jahre später am Zug. Bemerkenswert, dass Haydn hier im Mittelteil es-moll wählt, welches er nach Ges-Dur auflöst. Aber er lässt den Hörer nicht lange irritiert, sondern kehrt schnell ins gewohnte Es-Dur zurück, wartet mit einer Soloflöte auf.


    Ist das nicht (wie in einer oder zwei anderen früheren Sinfonien) ein franz. Lied? Oder nur in der Art eines solchen Liedes...
    Dein Start wird mich hoffentlich motivieren, mit meinen vor über einem Jahr schon geplanten threads zu den Pariser Sinfonien loszulegen.
    Eien interessante These vertritt Harnoncourt zur #85: Sie sei eine Art Hommage an die franz. Ouverture des Barock mit
    1. Satz Ouverture (er macht sogar die Wdh. der Einleitung mit der der Expo, waswohl in einigen Ausgaben so steht)
    2. Satz Gavotte
    2. Satz Menuet
    4. Satz Contredanse (IIRC)


    Lt. meinem Verzeichnis entstanden die 6 Sinfonien übrigens 1785/86


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Salut,


    ich glaube nicht, dass es ganz hinkommt: Gavotte und Contredanse sehe ich ein [ich wollte es auch schreiben, aber es entfiel mir kurzfristig :D ]. Ich habe leider nur eine Ausgabe für Klavier zu vier Händen in Noten... aber ich glaube analog zu Beethovens 'Pathetique' nicht, dass das Adagio wiederholt werden sollte, obschon es eines der kürzesten ist, das mir bei Haydn begegnete. Sehr viel barocker ist aber doch die Einleitung zu #98.


    Bei Haydn sind doch zumeist [jedenfalls mindestens ab den Pariser Sinfonien] die Themen des langsamen und Finalsatzes 'liedhaft'. Rosen schrieb, Haydn komponiere so, als kenne man das Stück bereits. Aber ist ist natürlich möglich, dass Haydn hier ein frz. Lied verarbeitet hat. Mir persönlich ist es jedoch trotz örtlicher Nähe nicht bekannt. In der Art des Finales von #85 hat Haydn ja doch etliche Finali komponiert - 2/4 - liedhaft - Fagott und Streicher: Presto oder Vivace [assai...].


    Der 2. Satz ist ein Allegretto C - beliebtes Thema ;) - und meines Erachtens bei meiner Koopmann-Einspielung deutlich zu schnell [er nimmt alle Wiederholungen!]. Für eine Romance sollte es für meinen Geschmack mehr Richtung Andante gehen, daher ja auch "C". Gibt es Vergleichswerte?


    Viele Grüße
    Ulli

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    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Hallo


    Beim 2. Satz handelt es sich um Variationen über das alte französische Volkslied: "La gentille et jeune Lisette"


    Freundliche Grüße
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ahhh,


    das Lieblingslied der Marie Antoinette. Das führte dann offenbar zum Werkbeinamen La Reine, nach dessen Erklärung ich verzweifelt suchte. Dann müßte ja die Königin Zugang zu den den Logenbrüdern vorbehaltenen Konzerten der Freimaurerloge gehabt haben...


    Danke, Alfred.


    :hello:


    Ulli

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    (Vincenzo Geilomato Hundini)

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  • ...wieviel Lieblingslieder hatte sie denn jetzt ? :D




    "Plaisir d'Amour" von Martini


    "Mort et convoi de l'invincible Malbrough" (Heute eher bekannt als "He's a jolly good Fellow")


    "Ah! vous dirait-je maman " (Heute mit folgedem Text: "Morgen kommt der Weihnachtsmann....")


    ... gibt es da nicht auch Variationen von Mozart über dieses Thema ?


    "Les tenders souhaits " Melodie soll von Pergolesi stammen



    auch wenns nur bedingt hierher gehört, aber diese CD enthält einiger dieser Lieder in wirklich bester Interpretation:




    Romances & Chansons aus dem alten Frankreich
    Le Poème Harmonique / Dumestre



    es gibt auch noch 2 Programme aus Frankreich die ebenfalls über dieses Repertoire verfügen:





    die beiden CD's sind recht gut zusammengestellt, allerdings ist die zweite CD schon recht alt, die Sängerin empfinde ich persönlich als leicht fürchterlich... aber ich werde sie wohl doch beide kaufen :D



    Zitat

    Dann müßte ja die Königin Zugang zu den den Logenbrüdern vorbehaltenen Konzerten der Freimaurerloge gehabt haben...



    was wieso ? Die Konzerte im "Concert de la Loge Olympique" waren auch der Öffentlichkeit zugänglich.
    Allerdings war der Initiator dieser Loge der Comte d'Ogny recht gut angesehen bei der Königin und sie förderte die Loge nach Kräften.
    (Mit anderen Worten von ihr kam die Kohle)


    (Die Musiker trugen alle himmelblaue Fräcke um das Publikum auch optisch zu beindrucken.)


    Außerdem meine ich diese Symphonien wären auch am Hof gespielt worden.


    meine persönliche Lieblingsaufnahme - natürlich HIP ;) - ist diese:



    Haydn
    Symphonien Nr. 82-87

    Orchestra of the Age of Enlightenment, S. Kuijken

  • Zitat

    Original von der Lullist


    was wieso ? Die Konzerte im "Concert de la Loge Olympique" waren auch der Öffentlichkeit zugänglich.


    Salut,


    nach meinen - offenbar veralteten - Informationen waren die Konzerte in der Loge den Logenbrüdern vorbehalten. Nichtsdestotrotz sympathisierte ja auch Joseph II. in Wien mit den Freimaurern - macht also so oder so schon Sinn...


    Zitat

    Original von der Lullist
    "Ah! vous dirait-je maman " (Heute mit folgedem Text: "Morgen kommt der Weihnachtsmann....")


    ... gibt es da nicht auch Variationen von Mozart über dieses Thema ?


    Ja, natürlich: 12 Variationen KV 265 für Klavier solo. Auch von Johann Christoph Friedrich Bach [1732-1795] gibt es 18 Variationen in G-Dur über das Thema und auch der berühmteste und vielseitigste Komponist der Welt, Anonymus, komponierte 1795 5 leichte Variationen dazu.


    :hello:


    Ulli

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  • So, ich habe jetzt Weil (Sony), Dorati (Decca), Marriner (Philips), Bernstein (CBS/Sony) und Harnoncourt (harmonia mundi) gehört. (Im Fundus befinden sich noch H. Wolf, Kuijken und Fischer...ich weiß auch nicht, warum ich so viele Aufnahmen des Stückes habe... :rolleyes: )
    Es ist nicht mein Favorit unter den Parisern (das sind 82, 83, 86), aber ein großartiges Stück (und nicht nur dank des Namens eines der beliebtesten von Haydn), vielleicht die verbindlichste und "eleganteste" der 6, trotz dem nicht undramatischen Kopfsatz und einigen rustikalen Tönen in Menuett und Trio.


    Wie zu erwarten ist Harnoncourt der einzige mit der Wdh. von Beginn einschließlich der Einleitung und obendrein von Durchf. und Reprise. Als weitere Autorität hierfür kann ich D. Hurwitz' Partitur anführen:


    "In the first movement of Symphony No. 85 ("La Reine"), every performance since the dawn of time that observes the exposition repeat returns to the beginning of the allegro. Harnoncourt goes all the way back to the beginning of the symphony, including the introduction. This so shocked me that I hastened to my score (Landon edition, and so a good scholarly text), and sure enough, there is no repeat sign bracketing the beginning of the allegro. Moreover, in the other two symphonies with introductions (Nos. 84 and 86), you will find those repeat signs in the expected place. So Harnoncourt probably is the first conductor in history, on disc at least, to play what Haydn actually wrote."


    aus:; "http://www.classicstoday.com/review.asp?ReviewNum=8857"


    Obendrein wählt NH ein recht mäßiges (und flexibel gehandhabtes) Tempo für diesen Satz; Bernstein liegt in derselben Gegend: mit der übl. Wdh. 8:30, NH ca. 9:10 mit zusätzlicher Wdh. der Einl. (die bei ihm 40-50 sec. dauert, die weitere Wdh. habe ich abgerechnet ) Die anderen brauchen von knapp 7 min (Weil) bis ca. 7:30. Der Kopfsatz ist dadurch weniger spritzig und "elegant" als etwa bei Marriner aber sehr kontrastreich und dramatisch, dazu werden mehr Details der Instrumentation deutlich als bei allen anderen (zB die Hörner im Kopfsatz).


    In den anderen Sätzen unterscheiden sich die Tempi nur wenig, von den (zu) langsamen Menuetten bei Bernstein und Dorati abgesehen. Koopman ist in der Romance in der zügigen Norm (ca. 6:45 (NH) bis 7:33 (Weil), Bernstein hat 5:41, aber der läßt wohl eine Wdh. weg.
    Dagegen bietet Weil eine sehr drahtige HIP-Lesart, Bernstein ist mir insgesamt hier etwas zu massiv (seine 86 und 87 gefallen mir sehr viel besser, ebenso 82 und 83, daher ist die Box jedenfalls empfehlenswert). Dorati ist besser als ich in Erinnerung hatte, aber nicht sonderlich bemerkenswert (dennoch, falls man etwa die GA besitzen sollte, eine durchaus zufriedenstellende Interpretation). Marriner ist, wenn man eine schlanke, traditionelle und klangschöne Kammerorchesteraufnahme sucht, erste Wahl. Das mangelnde Gewicht, dass man vielleicht bei 86 vermissen könnte, stört hier nicht. Dieses Philips-Duo (sehe gerade, dass es wohl nur noch eine CD gibt) ist sicher ein günstiger Einstieg in diese Sinfonien. Für alle, die jedoch das Maximum an Abwechslungsreichtum und Dramatik suchen, bleibt Harnoncourt die erste Wahl.


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    viele Grüße


    JR

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  • Das Autograph der Sinfonie ist verschollen. Man nimmt aufgrund verschiedener Indizien an, dass dieses Werk zu den früher komponierten der Pariser Gruppe zählt, also noch 1785 entstanden ist.


    Zum Beinamen La Reine: Bereits in der 1788 erschienenen Druckausgabe des Pariser Verlegers Imbault ist in der Stimme der ersten Violinen die Bezeichnung La Reine de France eingetragen. Dass die Sinfonie tatsächlich ein von Königin Marie Antoinette besonders geschätztes Stück war, lässt sich allerdings nicht belegen: es handelt sich um eine auf unklaren Quellen beruhende Behauptung des 1882 erschienenen Haydn-Buchs von C.F. Pohl. Auf dieses Werk geht auch die Aussage zurück, das Thema des zweiten Satzes verwende die franösische Romanze La gentille et jeune Lisette. Es ist aber ebensogut möglich, dass das vor 1788 nicht nachgewiesene Lied eine nachträgliche Textierung des Sinfoniethemas ist. Finscher weist in diesem Zusammenhang auf eine Textstelle bei Grétry hin, der eine solche Textierung dieses Themas befürwortet habe.


    Johannes hat oben eine Hypothese Harnoncourts referiert, nach der die einzelnen Sätze der Sinfonie auf Formmodellen/Typen der französischen Barock-Suite basieren sollen: 1. Ouverture, 2. Gavotte, 3. Menuet, 4. Contredanse. Ich wage das nicht zu beurteilen, nur das Menuett scheint mir wenig mit dem französischen Typ zu tun haben. Überdeutlich ist dagegen die Bezugnahme der langsamen Einleitung des ersten Satzes auf Charakteristika der französischen Ouverture. Hier komponiert Haydn bewusst für ein französisches Publikum – und es mag sein, dass der Beinamen der Sinfonie auch etwas damit zu tun hat. Zudem wird im ersten Satz deutlich das Hauptthema der sog. Abschiedssinfonie zitiert. Auch dies ein Hinweis auf Bekanntes, denn Haydns Nr. 45 war in den Pariser Logenkonzerten aufgeführt worden.



    Der erste Satz beginnt mit einer nur elftaktigen Adagio-Einleitung. In durchgehendem Fortissimo werden typische Elemente der französischen Ouvertüre exponiert: die gezackten Rhythmen, erst unisono, dann über durchegehender Achtelbegleitung und mit aufschießenden 32tel-Läufen. Faszinierend dann der Kontrast des im 3/4-Takt stehenden Vivace-Hauptsatzes: Über gemächlich abwärtsschreitenden Achteln erklingt in zweimaligem Ansetzen eine mit cantabile bezeichnete, langgezogene Melodie der Geigen (Takt 12-22). Man wähnt sich fast in einem langsamen Satz – der Effekt ist ähnlich wie beim Kopfsatz von Mozarts KV 543 (worauf Ulli oben schon hingewiesen hat). Es folgt ein wesentlich lebhafteres Motiv, dessen aufschießende Sechzehntel an die langsame Einleitung erinnern (T. 23-30). Dieses thematische Material wird sofort einer Art Durchführung unterzogen, die in dem Zitat aus der Abschiedssinfonie gipfelt (T. 62ff.) – Finscher nennt diese Stelle „zwingend auf der Ebene der thematischen Arbeit, überraschend als Zitat“. In der Tat ist das Thema aus den absteigenden Achteln des Hauptthemas abgeleitet (was allerdings erst in der Durchführung verdeutlicht wird). In T. 78ff. sind wir auf der Dominante angelangt. Was hier allerdings erklingt, ist nichts anderes als das Hauptthema in der Oboe, von den abwärtsschreitenden Achteln der Geigen begleitet. Ich bin mir nicht sicher, ob man ein auf der Dominante erscheinendes Hauptthema als „Seitensatz“ bezeichnen kann oder vielleicht erst seine variierte Fortführung (T. 85ff.) oder gar erst die ebenfalls in F-dur stehende rhythmisch lebhafte Schlussgruppe (T. 96ff.).

    Die Durchführung beginnt mit einer harmonischen Rückung und einer Durchführung des Abschiedsthemas, das hier durch die Synkopen in den zweiten Geigen noch mehr an seine Herkunft erinnert und schließlich in eine ausgedehnte Durchführung des Hauptthemas mündet – die teils kontrapunktisch angelegt ist, teils auf die schreitenden Achtel reduziert in sehr ausgedünntem Klangbild erscheint, dann wieder durch thematische Verdichtung glänzt. Die Reprise ist dann angesichts der sehr ausgedehnten Durchführung (T. 112-211) stark verkürzt, eine Coda fehlt ganz. Was mich etwas enttäuscht, denn zum Abschluss dieses bemerkenswerten Satzes hätte ich noch etwas Besonderes erwartet.
    (Die kritische Kölner Haydn-Ausgabe lässt übrigens nichts davon verlauten, dass die langsame Einleitung bei der Expo-Wiederholung einbegriffen sei.)


    Den zweiten Satz, Allegretto, Es-dur, im 4/4-Takt, hat Haydn mit „Romance“ überschrieben. Er besteht aus vier Variationen über diese relativ schlichte Romanze: Die erste lässt das Thema teils fast unverändert und nimmt es teils in rhythmisierten Forte-Passagen auseinander. Die zweite Variation steht im ungewöhnlichen es-moll und kleidet das Thema zunächst mit einer Gegenstimme harmonisch sehr reizvoll ein. Es folgt eine ziemlich unveränderte Wiederaufnahme des Themas mit Flötengezwitscher in der dritten Variation, ein Zerlegen in eine fortlaufende Achtelbewegung in der vierten – und schließlich eine kurze, pianissimo verklingende Coda. „Der Ton ist gesellschaftlich-verbindlich fast bis zum Unpersönlichen“, meint Finscher – und ich bin geneigt, ihm da zuzustimmen.


    Das Menuett (Allegretto) ist relativ kurz (38 Takte für den Hauptteil), weist aber eine ungewöhnliche Formgebung auf: dem achttaktigen A-Teil folgen eine ebenfalls achttaktige „Durchführung“ und eine ebensolange Reprise, schließlich aber eine 14taktige Coda. Das Stück bezieht seinen Reiz u.a. aus dem Spiel mit einem zunächst volkstümlichen Jauchzermotiv, das aber in Durchführung und Coda seinen Charakter ändert und zum Hauptbestandteil der thematischen Arbeit wird. Das Trio beginnt ganz konventionell mit einer hübschen Ländlermelodie in Geigen und Fagott, rennt sich dann aber ewig lang über einem Orgelpunkt der Hörner fest – eine Stelle von fast komischer Wirkung.


    Das Finale, Presto im 2/4-Takt, stellt ein recht kapriziöses Thema in Streichern und Fagott vor, das sich vorzüglich zur thematischen Arbeit eignet, dessen Bestandteile aber auch zu Ostinato-Passagen und finalsatztypischen Stockungen verwendet werden. Bezüglich der Formgebung des Satzes herrscht offenbar eine gewisse Uneinigkeit („Sonatenrondo“ oder echtes Rondo) – mir scheint die Rondo-Hypothese einleuchtender.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Zwielicht
    Johannes hat oben eine Hypothese Harnoncourts referiert, nach der die einzelnen Sätze der Sinfonie auf Formmodellen/Typen der französischen Barock-Suite basieren sollen: 1. Ouverture, 2. Gavotte, 3. Menuet, 4. Contredanse. Ich wage das nicht zu beurteilen, nur das Menuett scheint mir wenig mit dem französischen Typ zu tun haben.


    Es ist halt ein Menuett, aber sonst höre auch ich hier eher den steyrischen Tanzboden (oder was immer) als den französischen Hofball.


    Zitat


    Der erste Satz beginnt mit einer nur elftaktigen Adagio-Einleitung. In durchgehendem Fortissimo werden typische Elemente der französischen Ouvertüre exponiert: die gezackten Rhythmen, erst unisono, dann über durchegehender Achtelbegleitung und mit aufschießenden 32tel-Läufen. Faszinierend dann der Kontrast des im 3/4-Takt stehenden Vivace-Hauptsatzes: Über gemächlich abwärtsschreitenden Achteln erklingt in zweimaligem Ansetzen eine mit cantabile bezeichnete, langgezogene Melodie der Geigen (Takt 12-22). Man wähnt sich fast in einem langsamen Satz – der Effekt ist ähnlich wie beim Kopfsatz von Mozarts KV 543 (worauf Ulli oben schon hingewiesen hat).


    Der Effekt ist eher noch extremer, weil der erste Ton ganze 7 Schläge gehalten wird, während Mozarts Melodie ja mit 2 Vierteln als Auftakt beginnt.
    Ohne die Achtel (mit Pausen also eigentlich Viertel) würde man überhaupt kein Tempogefühl entwickeln und obwohl diese ja den 3/4-Takt markieren, wirkt das in der Tat ziemlich entspannt. Einige (Marriner, Weil) scheinen das zum Anlaß für ein außerordentlich flottes Tempo zu nehmen.


    Zitat


    Es folgt ein wesentlich lebhafteres Motiv, dessen aufschießende Sechzehntel an die langsame Einleitung erinnern (T. 23-30). Dieses thematische Material wird sofort einer Art Durchführung unterzogen, die in dem Zitat aus der Abschiedssinfonie gipfelt (T. 62ff.) – Finscher nennt diese Stelle „zwingend auf der Ebene der thematischen Arbeit, überraschend als Zitat“. In der Tat ist das Thema aus den absteigenden Achteln des Hauptthemas abgeleitet (was allerdings erst in der Durchführung verdeutlicht wird). In T. 78ff. sind wir auf der Dominante angelangt. Was hier allerdings erklingt, ist nichts anderes als das Hauptthema in der Oboe, von den abwärtsschreitenden Achteln der Geigen begleitet. Ich bin mir nicht sicher, ob man ein auf der Dominante erscheinendes Hauptthema als „Seitensatz“ bezeichnen kann oder vielleicht erst seine variierte Fortführung (T. 85ff.) oder gar erst die ebenfalls in F-dur stehende rhythmisch lebhafte Schlussgruppe (T. 96ff.).



    Gemeinhin nimmt man wohl das von der Oboe gespielte Hauptthema als Seitensatz, die Schlußgruppe ist doch zu unspezifisch. Der vorliegende ist ganz sicher einer der am konsequentesten monothematisch gestalteten Kopfsätze Haydns.


    Zitat


    Die Reprise ist dann angesichts der sehr ausgedehnten Durchführung (T. 112-211) stark verkürzt, eine Coda fehlt ganz. Was mich etwas enttäuscht, denn zum Abschluss dieses bemerkenswerten Satzes hätte ich noch etwas Besonderes erwartet.


    Das ist dann vielleicht der Preis der Monothematik und Konzentration; die Abschiedssinfonie-Anspielung kann er nicht nochmal bringen (wohl auch aus harmonischen Gründen, er muß ja nicht mehr nach F-Dur), ein gestaltlich verschiedenes Seitenthema, mit dem man noch eine kleine sekundäre Durchführung machen könnte, gibt es nicht.


    Zitat


    (Die kritische Kölner Haydn-Ausgabe lässt übrigens nichts davon verlauten, dass die langsame Einleitung bei der Expo-Wiederholung einbegriffen sei.)


    Wie gesagt, lt. Hurwitz ist es angeblich in einer von Robbins-Landon edierten Ausgabe so vermerkt.


    Zitat


    in der vierten – und schließlich eine kurze, pianissimo verklingende Coda. „Der Ton ist gesellschaftlich-verbindlich fast bis zum Unpersönlichen“, meint Finscher – und ich bin geneigt, ihm da zuzustimmen.


    Irgendjemand, bin jetzt zu träge nachzusehen, ob das Lessing oder Walter war, weist darauf hin, daß in der ersten Variation auf nochmal die aufschießende Gesten der Einleitung im Kopfsatz und die entsprechende Punktierung auftauchen. Obwohl mir die letzte Variation und besonders die Coda sehr gut gefallen, finde ich diesen Satz (besonders angesichts der namensgebenden Berühmtheit) ebenfalls eher weniger interessant als die (vom Typ her nicht sehr verschiedenen) in 82 und 84.


    Zitat


    Das Trio beginnt ganz konventionell mit einer hübschen Ländlermelodie in Geigen und Fagott, rennt sich dann aber ewig lang über einem Orgelpunkt der Hörner fest – eine Stelle von fast komischer Wirkung.


    Bin nicht ganz sicher, ob die Konvention des Geigen/Fagott-Ländler hier nicht erst begründet wurde ;) Der zweite Teil des Trios gefällt mir sehr, außerordentlich brillant instrumentiert, mit den unterschiedlichen Bläsern und dem pizzicato.


    Zitat


    Das Finale, Presto im 2/4-Takt, stellt ein recht kapriziöses Thema in Streichern und Fagott vor, das sich vorzüglich zur thematischen Arbeit eignet, dessen Bestandteile aber auch zu Ostinato-Passagen und finalsatztypischen Stockungen verwendet werden. Bezüglich der Formgebung des Satzes herrscht offenbar eine gewisse Uneinigkeit („Sonatenrondo“ oder echtes Rondo) – mir scheint die Rondo-Hypothese einleuchtender.


    Ein sehr mitreißender, brillanter und kontrastreicher Satz, aber einer der kürzesten und vielleicht der "leichteste" unter den Finali der Werkgruppe.
    Um damit nochmal kurz die Diskussion von neulich aufzugreifen: Mit Ausnahme des außerordentlichen, "durchkonstruierten" (Walter analysiert nur den als Musterbeispiel) Kopfsatzes finde ich das Werk eher noch "leichter" und wegen der spezifisch französischen Elemente eher noch "populärer" als 87 (und erst recht als 83).


    Habe weiter oben ja schon einige Aufnahmen verglichen, das zu wiederholen fehlt mir momentan die Muße. Nur den Harnoncourt habe ich eben nochmal gehört; auch wenn manche einiges als manieriert empfinden werden, so ist das eine sehr lohnende Alternative. Der Kopfsatz ist ein wenig langsamer, aber sehr viel kontrastreicher interpretiert als sonst; der Rest ist vom Tempo eher auf der zügigen Seite und ebenfalls von überdurchschnittlichem Kontrast- und Farbreichtum.


    viele Grüße


    JR

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  • Hallo,


    ich möchte hier auf eine schöne CD mit Haydn-Sinfonien aufmerksam machen. Haydn liegt mir sonst weniger, aber die Sinfonien "Huhn" "Jagd" und "Königin" gefallen mir gut. Gerade, wenn es einem schlechter geht, bauen sie einen auf. Ich habe eine Aufnahme mit der polnischen Kammerphilharmonie unter Leitung von Wojciech Rajski. Die Musiker artikulieren und phrasieren musikalisch angemessen und die Rhythmik federt. Dies ist wieder ein Beweis, daß unbekannte Künstler oft schönes vollbringen, ebenso, wie bekannte Künstler. Das mir etwas zu hallige Klangbild der Aufnahme ist durch die historischen Großmembran-Mikrofone Neumann M49 (entwickelt 1949) mit zu hohen Frequenzen ansteigendem Bündelungsmaß etwas dunkel verfärbt. Hier kann man sich bei jpc ein eigenes Urteil erlauben:



    Meine "Musik-Ansprache"


    Ästhetik ist relativ - oder: Über Geschmack kann man nicht streiten


    Zum Umgang mit der Musik-Kritik


    Zur Kopfhörerstereophonie


    Liebe Grüße


    Andreas

    De gustibus non est disputandum (über Geschmäcker kann man nicht streiten)