Der Begriff des Zeitlosen in der Musik

  • Eben diesem Begriff des sog. Zeitlosen begegnet man recht häufig. So v.a. in Aussagen, bestimmte Musik sei "zeitlos" schön.


    Meist intendiert diejenige Person damit ein Qualitätsmerkmal der Musik, nämlich ihre Resistenz gegenüber Mode -und Zeiterscheinungen.


    Sie vermag es - vermeintlich gegenteilig zu der Musik, der dieses Merkmal abhanden geht - auch den modernen Menschen heute noch zu begeistern.


    Doch warum gelten solche Kriterien meist nur für bestimmte Werke? Worin ist der Unterschied zwischen solcher Musik, die zeitlos sein möchte und jener, die uns allenfalls historisches Interesse abverlangt, zu sehen?


    Kann man Eurer Meinung nach eine klare Trennlinie ziehen? Deckt sich der Begriff des "Zeitlosen" mit der einer der Musik nachgesagten "Tiefe" ? Sprich, ist Tiefe eine notwendige Bedingung, wenn auch nicht hinreichendes Kriterium?


    Oder ist der Begriff vielmehr einer Illusion, der wir erliegen? Könnte jedes Werk diesen Anspruch erheben? Oder negativ: Kann überhaupt irgendein Werk "zeitlos" schön sein?


    Was denkt ihr? Und was sind für euch Kandidaten tatsächlich "zeitlos" schöner Musik??


    :hello:
    Wulf.

  • Zitat

    Original von Wulf
    Sie vermag es - vermeintlich gegenteilig zu der Musik, der dieses Merkmal abhanden geht - auch den modernen Menschen heute noch zu begeistern.


    Lieber Wulf,


    Meinst Du mit "modernen Menschen" Durchschnittpersone oder Taminomitglieder?
    Denn im ersten Falle kannst Du darauf Gift einnehmen, daß Du Antworte bekommst wie "eine kleine Nachtmusik", "Für Elise", "Schöne blaue Donau", "Habanera" und wie das alles heißt.
    Und im zweiten Falle bekommst Du, was Du schon erwarten kannst. Edwin z.B. sucht es im zweiten Hälfte des 19. Jhdt oder im 20. Und ich um 100 Jahr früher als Edwin. Und Matthias (oder BBB oder der Majestät) vielleicht nochmals 50-100 früher.


    LG, Paul

  • "Unzeitgemäß" gefällt mir persönlich besser als das vielfältig abgenutzte" zeitlos". So ist zum Beispiel die Aussage, Palestrina habe "zeitlos schöne Musik"
    komponiert, eher nichtssagend, weil sie weder dem Komponisten noch seinem Hörerr gerecht wird.


    Meine Meister sind die "großen Unzeitgemäßen". von Ockeghem über Gesualdo,
    Schütz, Zelenka, Cherubini,Kaminski,Schoeck, die sich, um des besonderen individuellen
    Ausdrucks willen, dem Zeitgeist verweigerten und genau aus diesem Grunde
    zur "Zeitlosigkeit" vorstießen ! :yes:


    (Namen wären zu hinterfragen und zu ergänzen)

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)


  • Ich verstehe bei sehr wenigen Dingen wirklich, was bedeuten könnte, dass sie zeitlos sein sollten, am ehesten noch bei Zahlen u.a. mathematischen Objekten (dann vielleicht noch bei Eigenschaften, Wahrheitswerten, Naturgesetzen und Gott) ;)
    Bei Musik bin ich mir alles andere als sicher, ob ich es verstehe, u.a. weil Musik in der Zeit abläuft und besonders, weil sie immer wieder neu aufgeführt werden muß. Eine "zeitlos" auf dem Dachboden vergammelnde Partitur ist eben gerade nicht zeitlos (IMO nichtmal Musik)


    Sehr oft scheint mir "zeitlos" daher nur ein etwas aufgebrezelter Weg zu sein, bestimmte Qualitäten (aber eben nicht Zeitlosigkeit selbst!) anzusprechen.
    Eien Aufgabe wäre daher, solche Qualitäten direkter anzusprechen. Denn wenn man nur danach geht, was de facto heute irgendwelchen Hörern gefällt, gibt es kaum Musik, die nicht das Prädikat zeitlos verdiente: Für Mittelalter, Renaissance, für höfische Unterhaltungsmusik aus der dritten Reihe des 18. und Virtuosengedonner des 19. Jhds., alles von wohlmeinenden Konzertführern längst der Vergessenheit überantwortet, scheinen sich Liebhaber zu finden. Und die Korrelation mit dem, was man intuitiv "zeitlos" nennen würde, klappt auch nicht recht. Denn dann sollte "abstrakte" Renaissancepolyphonie beliebter sein als gewisse Opernschmonzetten des 19. Jhds. ... :wacky:


    Das nächste Problem ist natürlich, dass Musik (u.a Kunst) auf vielen Ebenen ansprechen kann, sie kann u.a. auch massiv mißverstanden werden und daher "zeitloser" wirken, weil sich eine bestimmte Zeit sie sich rücksichtslos angeeignet hat. Viel deutlicher als bei Musik wird das m.E. bei den Werken, die das Abendland seit gut 400 Jahren oder länger seinen Schülern und Studenten als zeitlose und ewige Vorbilder schlechthin eingebleut hat, den Dichtungen etc. der griechischen Antike. Über die Tragödien kann man wohl streiten, aber auch da ist uns der kultische Hintergrund natürlich völlig fremd, Homer dagegen z.B. ist genaugenommen eine extrem fremde Welt (kein Wunder bei knapp 3000 Jahren Abstand). (ein weiteres schlagendes Beispiel für solch eine "Mißverständnis", sind die edel-asketischen marmorweißen Statuen und Tempel, die seinerzeit alle farbenfroh bemalt waren!)


    Aber bei diesen Werken (und ähnlich bei Musikstücken, nur nicht so extrem) haben wir natürlich auch noch eine Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte, der wir auch nicht entgehen können.


    Dennoch gibt es bei all dieser Zeitlichkeit gewiß Aspekte von Kunstwerken die so allgemein sind, in dem sie entweder universelle menschliche Konflikte oder Lebenssituationen in sehr prägnanter Weise ansprechen und/oder eher formalen ästhetischen Kriterien genügen.


    Die Zeitlosigkeit ist genau genommen auch nicht so wichtig. Denn warum sollte uns interessieren (von eher akademischem Interesse mal abgesehen), ob irgendwas zeitlos ist, da wir ja selber zeitbehaftet sind. Bei alter Musik geht es ja darum, ob wir irgendwie eine Verbindung zu unserer Zeit und uns herstellen können, nicht zu irgendeiner anderen (dritten) Zeitepoche.


    @BBB inwiefern entsprach Cherubini nicht dem "Zeitgeist? War er nicht einer der bei weitem angesehnsten Komponisten in Frankreich?


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    @BBB inwiefern entsprach Cherubini nicht dem "Zeitgeist? War er nicht einer der bei weitem angesehnsten Komponisten in Frankreich?


    Hallo, bei Cherubini begegnet einem das Parodoxon, daß ein Meister, um nicht zu sagen, sogar "Zucht-Meister" des strengen Kontrapunkts, vergeblich versuchte, den seiner Meinung nach "platten Geschmack der Epoche" durch Gedankentiefe und enormes kompositorisches Können aufzuwerten, was natürlich misslingen musste. Erstaunlich, daß er als Director des Pariser Conservatoire seinen Posten so lange halten konnte, denn es gab Bestrebungen, ihn von dort zu entfernen. Er hasste "Wunderkinder" und verwehrte z.B. Liszt die Aufnahme ins Konservatorium.


    Die zentralen Werke seines Schaffens, sind seine KIRCHENMUSIKEN, nicht seine sicher auch bedeutenden Opern. In den Kirchenwerken, die von den Altmeistern des ital. Kontrapunkts ebenso inspiriert sind wie von den formalen Neuerungen Beethovens, gelang ihm eine einzigartige Synthese aus den bewahrten Schätzen der Vergangenheit, erfüllt mit einem ausserordentlich herben Personalstil, der sich beharrlich einer zeitlichen Zuordnung entzieht. Bedauerlicherweise, von der Einspielung des Männerchor-Requiems unter Markevitch einmal abgesehn, liegt KEINES seiner Kirchenwerke in einer wirklichen Referenzaufname vor. Hier bleibt noch unendlich viel zu tun. Einer der "großen Unzeitgemässen" bleibt er für mich allemal.

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

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  • Zitat

    Original von Wulf
    Eben diesem Begriff des sog. Zeitlosen begegnet man recht häufig. So v.a. in Aussagen, bestimmte Musik sei "zeitlos" schön.


    Ich halte diesen Begriff für einen Irrtum.


    Bei jedem Kunstwerk interessiert es mich, wann es entstanden ist, wie es mit anderen Kunstwerken Beziehungen unterhält.


    Es gibt keine aus ihrem historischen Kontext herauslösbaren Kunstwerke.


    Der einzige Sinn kann sein, dass man damit sagen will, dass das Kunstwerk nicht sehr bald komplett uninteressant wurde und zwar für immer. Dann muss man aber erkennen, dass es eben damals ein Irrtum war, das Kunstwerk für interessant gehalten zu haben. Allerdings ist dann "zeitlos" gleichbedeutend mit "gut", was nicht im Interesse der Erfinder des Wortes sein dürfte.

  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister
    Ich halte diesen Begriff für einen Irrtum. Bei jedem Kunstwerk interessiert es mich, wann es entstanden ist, wie es mit anderen Kunstwerken Beziehungen unterhält.


    Es gibt keine aus ihrem historischen Kontext herauslösbaren Kunstwerke.


    ad 1: Gehe d'accord.


    ad 2: Und der Betrachter/Leser/Hörer und seine Rezeption des Kunstwerks sind auch nicht aus der Zeit herauslösbar. Womit auch der Begriff "zeitlos" einen zeitgebundenen Inhalt hat.

  • Salut,


    ich denke, der Threadstarter versteht unter 'zeitlos' wohl eher Kompositionen, die zu jeder Zeit 'in Mode' sind [bzw. sein können]. Das sind also die Dauerbrenner seit ihrer Entstehung.


    :hello:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • ...auf ähnliches wollte auch ich hinaus.


    Den Beitägen stimme auch ich zu; es ist nicht davon auszugehen, dass bestimmte Kompositionen zwangsläufig Neandertalern und ebenso Astronauten des 25. Jahrhunderts gefallen.


    Weil dies so klar scheint, deute ich die Frage anders und definiere Zeitlosigket (in der Hoffnung, dass es so Wulfs Absicht war) ähnlich wie auch Ulli es vorgeschlagen hat.


    Zitat

    Deckt sich der Begriff des "Zeitlosen" mit der einer der Musik nachgesagten "Tiefe" ? Sprich, ist Tiefe eine notwendige Bedingung, wenn auch nicht hinreichendes Kriterium?


    Damit hat Wulf selbst etwas gesagt, was ich eigentlich zu einem anderen Thema, nämlich dem der "Tiefe", gesagt haben wollte. Ich glaube (und empfinde), dass es musikalische Aussagen gibt, die mehr in mein Inneres gehen als andere; ebenso glaube ich, dass es musikalische Sprachen gibt, die universeller sind als andere und allgemein mehr berühren als andere; u.a. deshalb gibt es Klassiker. In diesem Zusammenhang habe ich den Begriff "zeitlos" in der Frage verstanden. Und so gesehen kann ich durchaus eine Bedeutungsverwandschaft zwischen "Zeitlosigkeit" und "Tiefe" (und den betreffenden Threads) ausmachen.


    In Zusammenhang mit "zeitlos" in obigem Sinne fallen mir spontan die späten Streichquartette Beethovens ein. Mehrere Voraussetzungen fallen hier zusammen: im Bereich der Empfindung ganz besonders das Zugleich von Humor und Ernsthaftigkeit, von Lockerheit und Strenge, Bewegung und Zustand, Gerichtetheit nach vorne und Bewahrung des Zurückliegenden sowie weiteres Zugleich von Gegensätzen. Ich kann es leider nicht näher erklären, da mir die Worte fehlen, aber die Gleichzeitigkeit von Gegensätzen - darf ich diese Antinomien nennen? - bringen mich gefühlsmäßig mit der Zeitlosigkeit in Verbindung.


    Auf ganz anderem Gebiet setze ich meditative Musik (Mönchsgesänge, rhytmisches Trommeln und vieles mehr) in Verbindung mit Zeitlosigkeit; das hat aber einen anderen Ursprung, der weniger zu dem "kunstmusikalischen" Inhalt dieses Forums passt.


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Dem Kurzstückmeister kann ich weitgehend zustimmen :yes:




    Allerdings ist für mich Kunst jeglicher Form die ich JETZT und HIER erlebe immer zeitgenössisch. Egal wann es entstanden ist.
    Solange sie mich berührt, sei es emotional oder intellektuell ist das für mich ein Kriterium für "Zeitlosigkeit"


    Es gibt durchaus Werke, sei es Malerei oder eben Musik die mich kaltläßt, dass hat aber nichts mit der Gattung zu tun, sondern eher mit der "Qualität" der Arbeit.


    Aber auch das ist wieder mißverständlich, denn "Qualität" wird zu oft im handwerklichen Sinne mißverstanden, mir geht es um den Geist der Werke.


    Zeitlosigkeit ist für mich eher die Defintition von künstlerischer Qualität und Kunst die sich vom historischen Kontext lösen kann und dabei nichts von ihrem Potential einbüßt. Das ganze ist dann auch noch eine Sache des persönlichen Empfindens. So weiß ja jeder von welchem Komponist ich begeistert bin, für viele andere mag er so sehr in seine Zeit gehören, dass sie ihm nichts abgewinnen können.
    Ich sehe mir die Gemälde von Rubens stundenlang an, wärend mich viele seiner Zeitgenossen gar nicht ansprechen.
    Aber mich bewegen diese Arbeiten und solange Kunst diese Kraft ausübt ist sie (für mich) zeitlos.

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