Orchester vs. Dirigent

  • Liebe Musikfreunde,


    auf das obige Thema bin ich durch das Drehbuch von Fellinis Film „Orchesterprobe“ gestoßen, und zwar nach folgendem Zitat:


    „…Ein alter Geiger (schaltet sich mit leiser Stimme ins Gespräch ein): Die Geige ist der eigentliche Star des Orchesters. (zum Reporter im Off) Nein, ich habe gesagt, die Geige sei der eigentliche Star des Orchesters. Wenn wir zu unserem Unglück einmal einen Dirigenten kriegen, der die Tempi verschleppt, die Einsätze nicht gibt, der keine Autorität hat – und wir, wir merken das sofort, kaum hat er das Podium bestiegen und den Taktstock gehoben -, dann übernimmt die erste Geige die Zügel. Dann tritt sie an die Stelle des Dirigenten und leitet das Orchester…“


    Dieser Absatz hat mich neugierig gemacht. Ist da wirklich etwas dran? Kann man wirklich von zwei Kräften im Orchester, ob konkurrierend oder nicht, sprechen, existieren sie, und wenn ja, wie wiken sie sich aus?


    Und in der Folge dieser Überlegungen: Gibt es Orchester, die den „Ruf“ haben, diesbezüglich sehr „stark“ zu sein, die den Kampf mit einer autoritären und starken Dirigentenpersönlichkeit benötigen, um alles zu geben, oder gibt es auch Orchester, die einen Dirigenten brauchen, der eher die lange Leine lässt, damit aus den Spielern alles aus sich heraus herausgeholt werden kann? Und wie sieht es von der Seite der Dirigenten aus?


    Und am Schluss noch eine vielleicht provoziert wirkende, dennoch nicht ganz so gemeinte Frage:


    Sind Dirigent und Orchester eher Feinde oder Freunde (vielleicht gibt es Beispiele)? Da bin ich gespannt…


    Gruß,


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Salut,


    dem Orchester steht der Konzertmeister vor, der in aller Regel identisch mit dem 1. Geiger ist. Dessen Aufgabe ist es u.a. die Streicherproben zu leiten, ggfs. auch mit kleiner Bläserbesetzung. Zudem sorgt er auch [bei Proben und Konzerten] für die Stimmung der Instrumente [für den Kammerton selbst aber ist die Oboe zuständig]. Der Konzertmeister spielt auch meistens die Violinsoli [wenn halt welche Vorkommen]. Eigentlich sollte das ja ein Miteinander mit dem Dirigenten sein, daher auch der obligatorische Handshake nach dem Konzert.


    Manche Orchester aber benötigen keinen Dirigenten, sondern geben sich mit einem Konzertmeister zufrieden oder lösen alles "demokratisch"; nur bei der Oper lassen sie sich dann doch dirigieren...


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Hallo


    Solch ein Orchester, daß sich nur in seltenen Fällen von eiem Dirigenten was sagen lässt kenne ich :baeh01:


    Eine boshafte Legende sagt.


    Wenn sie einen Dirigenten sehr mögen, dann spielen sie wie er Dirigiert.
    Wenn sie Mitleid mit einem Dirigenten haben, dann spielen sie wie gewohnt.
    Wenn Sie einen Dirigenten ablehnen, dann spielen sie ERST RECHT wie er dirigiert - bis zur letzten Konsequenz !!


    Ob dran was Wahres ist, das weiß ich nicht.
    Aber in jedem Scherz-so sagt man jedenfalls - steckt ein Körnchen Wahrheit.....


    mfg
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt


    Solch ein Orchester, daß sich nur in seltenen Fällen von eiem Dirigenten was sagen lässt kenne ich :baeh01:


    Jaja,


    ich hab's ja extra für Dich geschrieben. :P


    Jedenfalls gab es im 18. Jahrhundert noch keine Dirigenten, so wie wir sie heute kennen. Es gab Kapellmeister, die in etwa der Funktion des heutigen Konzertmeisters entsprachen, die zudem komponierten und "dirigierten", d.h. eine Aufführung leiteten und das sehr oft mitten unter den Orchestermusikern als mitspielender Instrumentalist bzw. am Cembalo. Auch hier galt die "Ausnahme" der Oper, viele wurden unter Mozarts "Leitung" uraufgeführt, d.h. eine Koordination von Bühnengeschehen und Orchester"graben" ist schon erforderlich gewesen.


    Für ein gut auf sich abgestimmtes Kammerorchester [auf die Größe nämlich kommt es durchaus an] ist ein Dirigent durchaus verzichtbar. Bei Mahler, aber auch schon bei Beethoven und größeren Werken Mozarts und Haydns wird man sicher um einen Dirigenten nicht herumkommen und auch damals schon nicht herumgekommen sein.


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Gten Morgen.


    So weit mir bekannt ist, sollen die Berliner Philharmoniker als bekannt selbstbewusstes Orchester es nicht jedem Dirigenten leicht machen (freundlich formuliert).


    Was gewiss einige in diesem Forum freuen wird: Beispielsweise Christian Thielemann haben sie bei dessen ersten Dirigat wohl gewaltig auflaufen lassen. Mittlerweile spielen beide aber regelmäßig unter-, über- und miteinander (so sehe ich Thielemann auch als Nicht-Münchner mindestens einmal im Jahr).


    :hello:


    Gruß, l.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • Salut,


    ist ja eh die Frage "Wo anfangen" und "wo aufhören"...? Manche solistisch tätige Pianisten bräuchten gut und gerne mindestens zwei Dirigenten [einen für den Takt, einen für die Einsätze] :rolleyes: und manche Orchester, wie zum Beispiel das von Alfred heiß geliebte Concerto Köln :D - die können's eben auch ohne [falls sich da mal einer einschleicht, feuern die den eh gleich wieder].


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Wo im Einführungsbeitrag schon so schön zituiert wurde auch ein Zitat von mir:


    Patrick Süskind: Der Kontrabaß


    "Jeder Musiker wird ihnen bestätigen, daß ein Orchester jederzeit auf den Dirigenten verzichten kann, aber nicht auf den Kontrabaß. Jahrhundertelang sind Orchester ohne Dirigenten ausgekommen. Der Dirigent ist ja auch musikentwicklungsgeschichtlich eine Erfindung allerjüngsten Datums. Neunzehntes Jahrhundert. Und auch ich kann ihnen bestätigen, daß auch wir im Staatsorchester gelegentlich vollständig am Dirigenten vorbeispielen. Oder über ihn hinweg. Manchmal spielen wir sogar über den Dirigenten hinweg, ohne daß er es merkt. Lassen den da vorn hinpinseln, was er mag und spielen unseren Stiefel runter. Nicht beim GMD. Aber bei einem Gastkapellmeister jederzeit. Das sind geheimste Freuden. Kaum mitzuteilen. - Aber das am Rande"



    Die Legende besagt ja auch, daß der Dirigent Arthur Rodzinsky stets einen Revolver mit zur Orchesterprobe gebracht haben soll aus Angst vor Mordanschlägen seitens der Orchestermusiker... aber ob das stimmt...

  • Jedes Orchester KANN ohne Dirigenten spielen, das ist kein Geheimnis.


    Leider wird die Arbeit eines Dirigenten ( von aussen betrachtet ) oft aufs Taktschlagen und Einsätze geben reduziert, jedoch ist die Hauptaufgabe IMO die Vermittlung einer musikalischen Interpretation.
    Nun ist es eine Frage der Denkweise des Orchesters.


    1. "Wir spielen das seit xx Jahren so, also machen wir nichts anderes, da kann der Hampelmann da vorne machen was er will!"


    Dies ist eine weit verbreitete Meinung, auch bei Spitzenorchestern ( z.B. Wr. Philharmoniker bei Repertoirewerken, bei aussergewöhnlicheren Anlässen sind sie mWn offener ). Für mich ein rotes Tuch, da hier Musik auf routinemäßges herunterspielen von schwarzen Punkten auf Papier reduziert wird und dies nichts mit Kunst zu tun hat, hier kann man den Dirigenten wirklich guten Willens weglassen, nur zum Luftzerteilen ist er rausgeschmissenes Geld und wenn Stücke schon so oft gespielt wurden und vom Orchester so "gut" gekannt werden brauchen sie auch keine Einsätze.


    2. "Hören wir uns mal an was er zu sagen hat, dann kömma immer noch über ihn hinwegspielen!"


    Mein persönlicher Lieblingstyp eines Orchesters, da hier sowohl eigener Wille zum musizieren, als auch der Wunsch nach neuen Interpretationsmöglichkeiten vertreten sind.
    Hier steht die Herausforderung für den Dirigenten darin das Orchester wirklich zu überzeugen. Wenn er den autoritären Sprücheklopfer raushängen lässt wird er vom Orchester niemals akzeptiert, ebensowenig der "Taktschläger", in beiden Fällen wird wieder das Orchester das Zepter übernehmen. Man muss hier mit dem Orchester zusammenarbeiten. Ihre Stärken herausarbeiten, den Willen zur Kunst in ihnen wecken und sie mit immer frischen Ideen füttern, dann kann man aus diesem Orchester wahre Topleistungen ( auch bei nicht-Spitzenorchestern ) herausholen.


    3. "Alles was der Maestro sagt ist uns Gesetz!"


    Für mich genauso unbrauchbar wie Typ 1. Ohne Eigeninitiative des Orchesters wird aus Musik nie Kunst. Stures Befolgen von Anweisungen führt schlicht und ergreifend zu gepflegter Langeweile für den Zuhörer da hier eine intellektuelle Leere entsteht die selbst durch höchste technische Genauigkeit nicht wetzumachen ist.



    Es ist für mich keine grundsätzliche Frage ob ein Orchester ohne Dirigenten auskommen könnte. Es muss immer einen musikalischen Entscheidungsträger geben. Ob der nun am ersten Pult, vor dem Orchester oder ausserhalb sitzt oder steht ist nebensächlich. Einzig und allein entscheidend ist dessen Überzeugungskraft und Wille zur Zusammenarbeit mit den Musikern, mit autoritärem Gehabe wird man nur Angst und möglicherweise Unterwerfung erreichen was im Endeffekt zwar vielleicht eine hübschen Konzertabend bringt, aber niemals ( oder nur in seltensten Fällen ) aussergewöhnliches schafft!


    LG,
    Michael

  • Zitat

    [i]Es ist für mich keine grundsätzliche Frage ob ein Orchester ohne Dirigenten auskommen könnte. Es muss immer einen musikalischen Entscheidungsträger geben. Ob der nun am ersten Pult, vor dem Orchester oder ausserhalb sitzt oder steht ist nebensächlich.


    Ja, dem kann ich voll zustimmen.
    Für mich besteht die Bedeutung des Dirigenten wirklich darin, dass er eben nunmal kein Mitglied des Orchesters, sondern vor allem auch Zuhörer ist. Ab einer bestimmten Größe des Ensembles ist eben solch ein "musikalischer Entscheidungsträger" von dem Du sprichst unbedingt nötig. Auch - oder vielleicht gerade wenn - Repertoirestücke immer und immer wieder mit den gleichen Impulsen gespielt werden (so möchte ich das jetzt gerne mal nennen), dann erhält man ein einfaches Abspielen von Druckerschwärze (wie oben auch schon gesagt).


    Das ist übrigens sowieso ein interessantes Phänomen: Man suche sich 5 andere Menschen, stelle sich im Kreis und singe bspw. einen gregorianischen Hymnus. Man wird feststellen, dass man zum einen versucht, gut aufeinander zu hören, aber genauso stellt sich mit der Zeit oftmals heraus, dass für das Ensemble wichtige Impulse mehr oder weniger unbewusst von einer Person ausgehen.


    Und eben wenn diese Impulse sich "einschleifen" und ein jedes Orchestermitglied eigenltich auch schon weiß was kommt, dann wird's mit der Zeit einfach eintönig.
    Neue Impulse braucht das Land! ;) Und dafür ist ein Dirigent mE einfach unerlässlich. Er ist Außenstehender und trotzdem Mitwirkender und veredelt einen guten Orchesterklang!


    Viele Grüße,
    Benjamin

  • All dies bedeutet dann wohl, dass das Verhältnis von Orchester (das ja wiederum ebenfalls nicht zwangsläufig eine in sich ruhende Einheit bedeuten muss, da es nun einmal aus Menschen besteht) und Dirigent häufig ein sehr sensibles und psychodynamisches ist. Aber kann dies nicht auch sehr befruchtend und belebend sein?


    Zitat

    Beispielsweise Christian Thielemann haben sie bei dessen ersten Dirigat wohl gewaltig auflaufen lassen. Mittlerweile spielen beide aber regelmäßig unter-, über- und miteinander


    Wie sich das Gestalten des Orchesterwerks in diesem Fall zugetragen hat, weiß ich leider nicht, aber interessant ist, wie sich so ein "Kampf" nicht nur auf die Zusammenarbeit, sondern auch auf das einzelne Werk selbst auswirkt.


    In meiner Phantasie: Ein bekannter Dirigent wird bei einem bekannten Orchester im obigen Sinne "übergangen"; der Dirigent ist sauer und gekränkt, will daraufhin zeigen, wer hier der Herr im Haus ist und haut auf die Tube, Das Orchester reagiert, indem es...


    Ist so etwas, was ich hier etwas holzig phantasiere, wenn auch nicht derart dramatisch, realistisch? Ich kann mir vorstellen, dass dies viele Musikwerke aus dem Gleichgewicht bringt und zerstört, frage mich aber, ob eine derartige Kampfesinterpretation das eine oder andere Werk nicht regelrecht zum Blühen und zum Erlebnis bringen kann (ich rede nicht von Ausufern).


    In der Kammermusik ist dies weniger beobachtbar, wahrscheinlich weil sich die wenigen Musiker eher freiwillig zusammentun.


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

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