Musikwissenschaft - Motor oder Bremse der klassischen Musik ?

  • Hallo


    Heute ist mir dieses Diskussionsthemea beim Spazierengehen eingefallen - natürlich angeregt durch den Bruckner - Marthé-Thread.


    Herr Marthé irrt übrigens, wenn er schreibt (die Stelle ist mir jetzt nicht geläufig, bitte um Nachsicht) der Einfluß der Musikwissenschaft wäre erst in den letzten 100 Jahren angewachsen, soweit mir bekannt war er immer vorhanden - und immer gewaltig.


    Und immer war sie mit Urteilen stets zu Hand, meist vernichtenden bzw dogmatischen. Viele noch heute gepflegte Vorurteile beruhen auf Aussagen von Kritikern, Musikwissenschaftern oder sondt irgendwie in diesem Metier einflussreiche Persönlichkeiten (man hat ganz richtig bemerkt, daß ich in diesem Thread das Wort "Musikwissenschaft" eher allgemein aufgefasst wissen will)


    Robert Schumanns Verdikte waren ebenso unbarmherzig wie (oft) falsch - auch Mozarts Urteil in bezug auf seine Konkurrenten ist höchst ungerecht, oft gehässig - in seltenen Fällen (Cannabich, Schrötter) eher desinteressiert ahnungslos.


    Viele Werke - und ihre Schöpfer wurden auf diese Weise ins Nirwana geschickt. Andrerseits verdanken wir engagierten Musikwissenschaftern
    zahlreiche Entdeckungen, bzw viele Werkverzeichnisse. - und auch Rekonstruktionen, ich nehem hier nicht nur Bruckner - sondern auch Schubert etc....


    Aber auch vile Zuschreibungen die fälschlich erfolgt sind (zb. "Kindersinfonie") wurden revidiert - Denkmäler vom Sockel gestossen - und somit dem Vergessen preisgegeben.


    Und so frage ich an dieser Stelle: Welchen Stellenwert hat die "Musikwissenschaft" (im weitesten Sinne des Wortes) für Euer
    Hörvergnügen?


    viel Spaß mit diesem Thread


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt


    Und so frage ich an dieser Stelle: Welchen Stellenwert hat die "Musikwissenschaft" (im weitesten Sinne des Wortes) für Euer
    Hörvergnügen?


    Salut,


    vermutlich ist es wie mit Vielem: Es gibt jede Menge Nützliches, jede Menge Überflüssiges. Aber wer will das bewerten?


    Ich freue mich jedenfalls, dass es Menschen gibt, die ihr Leben der Musikwissenschaft widmen; viele davon aus Überzeugung oder gar Liebe und somit tragen sie unwahrscheinlich viel dazu bei, beispielsweise "vergessene Komponisten" wieder lebendig zu machen. Was kann es großartigeres geben? Mich z.B. interessiert insbesondere das musikalsiche Umfeld meiner favorisierten Komponisten, das Zeitgeschehen. Ganz herausragend sind hier die Arbeiten von Bertil van Boer, der sich Kraus annahm und Dr. Erich Duda, der die Süßmayrfraktion vertritt. Ich habe selten solch informative und ausgereift geschriebene Texte gelesen, wie von diesen beiden Herren - die Mozartforschung könnte sich da eine Scheibe von abschneiden. Sie wirkt auf mich mittlerweile staubtrocken, ohne Emotionen, "zu wissenschaftlich". Wissenschaftlich muß es sein, aber diesbezügliche Texte können durchaus auch ein Eigenleben beinhalten, ohne an der [eruierten] Wahrheit vorbeizufahren. Das ist wie mit der Musik selbst: Wird sie sachlich gespielt, kann sie auch sehr schön und korrekt sein, aber ein kleines Feuer bringt mehr Wärme hinein. Meine Einstellung zur Musik beeinflußt dies höchstens positiv, da mich all dies immer sehr bereichert und auch zu eigenen Überlegungen anregt.


    Erstmal viele Grüße
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Noch einer. Ich verdanke ihm ausführliche Auskünfte.
    Danzi-Wissenschaftler Volkmar von Pechstaedt. Er hat publiziert ein "Thematisches Verzeichnis der Kompositionen von Franz Danzi (1763-1826)" - Tutzing : Schneider, 1996.


    LG, Paul

  • Das Problem ist, daß die 'ernsthafte' Musikwissenschaft sich dem durchschnittlichen Musikkonsumenten nicht wirklich verständlich macht. Sie überläßt das Feld der Aufklärung und Hintergründe den Feuilletonisten, Rezensenten und Fachredakteuren und verkehrt (lieber?) unter ihresgleichen. Ich gebe zu, daß es schwierig ist, die beiden verschiedenen Wahrnehmungsebenen, von denen ich an anderer Stelle schon sprach, miteinander ins Gespräch zu bringen.


    Daher finde ich es sehr verdienstvoll, wie sich Ben Cohrs hier bemüht, einen Gesprächsfaden zu spinnen. Wer sich umgekehrt selbst die Mühe macht, kann aus seinen Bruckner-Beiträgen viel lernen, wobei es mMn nicht darum gehen kann, seine Ausführungen bedingungslos zu übernehmen, sondern eigene Gedanken daraus zu entwickeln. Das erfordert eine gewisse Anstrengung, wenn man selbst nicht wissenschaftlich ausgebildet ist, ist aber möglich.


    Auf beiden Seiten wird es ohne echte Bereitschaft zum Dialog aber nicht gehen.