Die Tiefe eines Werkes

  • "Das Werk besitzt so viel Tiefe" - einer Aussage der ich heute einmal auf den Grund gehen will und sie durchaus hinterfragen möchte.


    Zunächst eine kleine Anekdote: Ein mir bekannter Komponist stellte einmal sein neues Opus einem befreundeten Ehepaar vor. Nach Beendigung seines Klavierspiels fragte dieser, wie es ihnen denn gefallen hätte. Die Frau erwiderte, es sei recht hübsch, aber es mangle an Tiefe.
    Worauf er [Komponist] schnippisch fragte, ob er noch ein paar tiefe Töne hinzufügen solle.


    Nun, was als Scherz anmutet, läßt sich bestimmt ernsthaft diskutieren.
    Was bedeutet für euch Tiefe? Kann es sein, daß tiefe Töne den Eindruck von (geistiger) Tiefe verstärken? Gibt es Werke, die von nahezu jedermann als tief empfunden werden? Oder ist das rein subjektiv? Kann ich diese Tiefe überhaupt nur erfahren, wenn ich Gefallen an dem Werk finde? Oder finde ich gerade an dem Werk Gefallen, weil es tiefgründig ist?


    Ist für euch Tiefe ein Qualitätskriterium, das unabdingbar ist? Oder hört ich euch gerne Musik an, die jegliche Tiefe missen lässt?


    Und wenn ihr eure Musiksammlung in Musik mit Tiefgang und solche ohne Tiefgang aufteilen würdet - sofern man dies überhaupt vernünftig tun kann - was würde überwiegen?


    Eine Menge Fragen, aber auch große Neugier meinerseits.
    Nun, auf Antworten bin ich sehr gespannt.


    Liebe Grüße
    :hello:
    Wulf.

  • Die Tiefe eines Werkes ist schwer zu beschreiben. Es ist für mich tatsächlich ein Gefühl des Raumes. Bei Bach z. B. kann diese meinen Eindrücken nach sehr ausufern. Bei Bruckner ebenso. Wenn sich Notenlinie nach Notenlinie auftut, je intensiver man hört, bis einem schwindelig wird. Bruckner rettet einen dann durch eine markante Stelle, eine Auflockerung, ein Lichtewerden oder einen "Choraleinschub"

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Salut musichater,


    bei mir ist es eher umgekehrt, als bei Masetto. Die "Tiefe eines Werkes" beziehe ich eher auf die Gefühle und Erfahrungen, die ich persönlich in meinem innersten Ich damit mache - d.h. Musik veranlasst mich, in meine Tiefe zu gehen.


    Wenn mir schwindelig wird, dann sind das eher Höhen.


    Viele Grüße
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Tiefe kann auch in die Höhe gehen :D
    Es geht mir um die Tiefe des Raumes! Sicherlich hat das auch was mit den Gefühlen zu tun, die die Musik auslöst. Das eine bedingt bei mir das andere!

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Lieber Wulf,


    Auch bei mir ist die Tiefe etwas, daß ich beziehe auf Gefühle. Werde ich gerührt, dann hat das Werk für mich Tiefe.


    LG, Paul

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  • Toller Thread...werde darüber nachdenken..


    oft ist Tiefe mit Ernst und Dramatik verbunden (Beethoven), aber in vielen langsamen (Dur)-Sätzen von Haydn oder Mozart finde ich dasselbe "Ereignis" der "Tiefe" oder "Größe" (oder würdet Ihr da noch einen Unterschied machen?)
    ein anderes Charakteristikum wäre eine meditative Wirkung, ich komme zur Ruhe...


    spontane Musikbeispiele:
    Bruckner 9.Symph. Beginn 3.Satz...
    Bach Musikalisches Opfer 6 st. Ricercar
    Passacaglia c-Moll
    Fuge der "dorischen" Toccata (Orgel)
    Präludium und Fuge h-Moll BWV 544
    Präludium cis-Moll WTK I


    die Beispiele aus Mozart Sonaten habe ich nicht im Kopf...

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

  • Hallo Wulf,
    eine ebenso interessante als schwierige Fragestellung. Aber ich versuche es mal.


    Für mich gibt es zwei Tiefen in der Musik. Zum einen eine absolute und zum anderen die von Dir bereits angedeutete geistige Tiefe. Unter der absoluten verstehe ich, wie Masetto die Vielfalt und Komplexität innerhalb der Musik. Hierbei kann es sich wie bei Bach oder Beethoven um komplexe Polyphonie oder aber auch um sphärische Klangtürme handeln. Mir fehlen hier (wie Gott sei Dank auch anderen hier im Forum) oft die musikwissenschaftlichen Hintergründe und entsprechenden Fachbegriffe. Wisst ihr was ich meine, wenn zwei Instrumente im Dialog stehen oder das Orchester mit der Solostimme spricht. Wenn beispielsweise das Orchester die Melodie der Solostimme andeutungsweise vorwegnimmt um sogleich von dieser eingeholt zu werden. Das sind Dinge, die hört man nicht beim ersten Mal Reinhören. Und das, meine ich, haben die „absolute“ und die „geistige“ Tiefe, wie ich die beiden nenne, gemeinsam. Die Tiefe eines Werkes lässt sich nicht beim ersten Mal ergründen. Ein Werk, daß sich sofort erschließt kann sehr schön, auch kunstvoll sein, aber für ein Werk mit Tiefe muss man sich viel Zeit nehmen.


    Doch nicht immer muss die Musik in sich Komplex sein um als Musik mit Tiefgang bezeichnet zu werden zu können. Ich nenne es „geistige“ Tiefe. Was will uns der Komponist mit seiner Musik sagen? Welche Gefühle will er in uns Wecken? Welche Gefühle möchte er ausdrücken? Oder möchte er etwas beweisen, aufzeigen…? Versteht Ihr was ich meine?


    Nun wie wichtig ist mir die Tiefe in der Musik. Ich sag mal es ist wie beim Wein – alles zu seiner Zeit. Eine Symphonie Fantastique oder ein Mahlerbrett verfügen für mich über ein Höchstmaß an geistiger Tiefe. An einem sonnigen Sommertag auf meiner Terasse würde ich dann aber doch eine gut gemachte Tafelmusik aus dem 17 Jahrhundert oder ein paar Sonaten für Violine und Klavier vom guten alten Wolfgang Amadé vorziehen. Ein schönes Glas Bordeaux im geheizten Wohnzimmer an einem kalten Wintertag bei gedämpftem Licht schreit jedoch förmlich nach der Tiefe eines Bruckner, eine Schostakowitsch oder eines Hector Berlioz.


    Liebe Grüße
    GalloNero

    ... da wurde mir wieder weit ums Herz ... (G. Mahler)

  • Für mich ist die Sache eigentlich gar nicht so schwierig.


    Wenn ein Werk eine gewisse Tiefe hat, entdecke ich bei jedem Hören wieder neue Perspektiven, neue Details, das Werk erschließt sich mir immer mehr, die Werkaussage erweitert sich ständig.
    Es gibt Werke, die verstehe nach dem ersten Hören. IMO keine Werke mit Tiefe.
    Bei anderen Werken (in den letzten Monaten z.B. Dvoráks 7. Sinfonie bei mir) brauche ich länger, um den Gehalt zu erfassen.
    Und ich würde schon sagen, dass die Siebte mehr Tiefe hat als beispielsweise seine Achte.


    Natürlich lässt sich das nicht immer hundertprozentig anwenden, Ausnahmen bestätigen die Regel. ;)



    Gruß, Peter.

  • Hallo,


    auch meinerseits ein Kompliment für das interessante Thema.


    Ich werde nach einigem Überlegen (mir flutschen die passenden Worte leider nicht leicht von der Hand) einiges dazu schreiben , vorab aber bemerken, dass das Empfinden von Tiefe bei mir eine notwendige Voraussetzung ist, ein Kunstwerk bzw. hier: Musikwerk als ein großes und gleichzeitig interessantes Werk zu empfinden.


    Im ersten Moment fällt mir als Gegenteil von Tiefe die Oberflächlichkeit ein.


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Hallo zusammen,


    zunächst vielen Dank für eure interessanten Antworten! =)
    Auf dem Nach-Hause-Weg (<-- Ortographie korrekt? ?( ) versuchte ich diese Fragen einmal für mich zu beantworten. Was bedeutet für mich Tiefe?
    Ich kam zu dem Schluss, daß ich wohl gerne Fragen stelle, die ich selbst nicht ohne weiteres beantworten kann.
    Doch dann fiel mir Mahler ein, seine 9., 3. Satz.
    Der Beginn des Satzes ist für mich wie ein Frage-Antwort-Spiel, alles sehr vorwurfsvoll, attackierend, wie ich empfinde.


    Die Projektion eines (menschlichen) Dialoges, Monologes oder gar Streits ins Musikalische ist eine Möglichkeit, das Gefühl von Tiefe zu wecken.
    Paradebeispiel für ein Frage-Antwort-Spiel: Ives: The Unanswered Question.


    Doch gibt es Musik, die IMO keinen Dialog/Streit etc. abbildet und trotzdem tief ist.
    Masetto sprach von den Tiefen des Raumes. Ich denke, es ist ein gutes Beispiel. Auch ich denke, nicht die musikalische Darstellung der Tiefe des Raumes im deskriptiven Sinne, sondern das, was ein Mensch dabei empfinden kann, wenn er auf einem Gipfel steht und die Weite bzw. Tiefe des Raumes erblickt, erweckt ein Gefühl von geistiger Tiefe. Es geht also um die Projektion menschlichen Empfindens in musikalische Strukturen. Es geht um unsere Sorgen, unsere Zweifel, unsere Sehnsucht. Solche Gefühle, würden viele sagen, sind tief empfunden.
    Doch was ist mit dem Empfinden der Freude? Ist Freude tief empfunden? Kann ein Werk, das ausschließlich heiter gestimmt ist, ein Gefühl von Tiefe in uns wecken? Ich denke schon, aber diese Frage könnte uns ganz schnell zu der antiken griechischen Frage führen, was die bessere Gattung ist: die Tragödie oder die Komödie.


    Wenn es aber um Empfindungen des Menschen geht, die er selbst schon einmal durchlebt hat- ich denke eine nötige Voraussetung, um ein Gefühl von Tiefezu empfinden, was ist dann mit rein deskriptiver Musik? Kann sie geistige Tiefe vermitteln?
    Uwe sprach vom Gegensatzpaar Tiefe <--> Oberflächlichkeit.
    Der berühmte Dirigent Ansermet schrieb einmal, der Deutsche versuche in der Musik sich auszudrücken, während der Franzose (und auch der Engländer) stets "etwas" ausdrückt. (Ob das immer so stimmt wage ich mal zu bezweifeln).


    Korreliert das mit unserem Gefühl von Tiefe?




    ad tastenwolf: Tolle Musikbeispiele, danke!


    ad Uwe Schoof: Ich wußte, daß Du antworten würdest, lieber Uwe. Dich hatte ich eigentlich im Hinterstübchen, als ich diesen thread ins Leben rief, da ich noch wußte, daß für Dich Tiefe eine notwendige Voraussetzung ist ;)

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  • Hallo Wulf,


    das ist ja wiedermal ein erstaunlicher Zufall! Denn gerade gestern hatte ich ein mir bisher in dieser Intensität unbekanntes musikalisches Erlebnis, welches prima hierher passt. Ich hörte Andrea Gabrielis Missa pater pecavi und hatte nach einer Weile das Gefühl, dass diese Musik eine unglaubliche Weite hat. Während das Gefühl von Tiefe mehr mit dem Empfinden zu tun hat, war das ein richtiges Raumgefühl. Und ich habe mich sehr wohl gefühlt in dieser klingenden Weite.


    Die Tiefe eines Musikstückes ist für mich ein emotionales geistiges Erleben. Wenn ich den Inhalt oder den Gegenstadt eines Stückes verstehe - ganz oder nur teilweise, jedenfalls aber in ausreichendem Maße - , dann stellt sich das Gefühl ein. Ich denke, dass die Intensität, mit der der Komponist die Dinge ausdrückt, eine Rolle spielen kann. Und auch der Inhalt selbst wird das Tiefengefühl beeinflussen.


    Für den letztgenannten Punkt möchte ich ein Beispiel geben, zwei Werke von Heinrich Biber. Die Missa Salisburgensis dient einzig der Zurschau-Stellung von Macht und Reichtum der Salzburger Kirchenfürsten. Das Stück ist sehr beeindruckend (Ziel erreicht :D ), aber Tiefe kann ich darin wenig finden. Ganz anders ist das bei der abschließenden Passacaglia der Rosenkranzsonaten. Die hat eine Tiefe, wie es tiefer kaum geht. Ich kann aber nicht beschreiben, was genau das in mir anspricht. Vielleicht ist gerade das ein Kennzeichen von Tiefe, wenn da Dinge im Hörer angesprochen werden, die man nicht in Worten wiedergeben kann? Wenn ich etwas benennen kann, dann verliert es etwas von seinem Zauber, wenn nicht, bleibt es gehimnisvoll, genau wie die Tiefe in der Musik.



    herzliche Grüße,
    Thomas

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

  • Ein notwendiger thread, u.a. weil "Tiefe" wohl eine der meistmißbrauchten (oder jedenfalls schillerndsten) Metaphern in der Musik- und Kunstbeschreibung sein dürfte. (Und entsprechend Oberflächlichkeit einer der probatesten Abkanzelungen... ;))


    (Bei der "Tiefe des Raumes" muß ich immer an Fußball denken...)


    Die Unterscheidungen, v.a von GalloNero finde ich schon ganz brauchbar. Seine (absolute) "Tiefe" im Sinne von (musikalischer) Komplexität würe ich zwar eher "Dichte" nennen, aber mit letzterem verbindet man vielleicht zu spezielle Strukturen, während "Tiefe" allgemeiner ist.
    Hinter der Metapher der Tiefe stecken wohl zwei Ideen: Die eine, dass man in der Musik beliebig "tief graben" kann und immer neue Schätze hebt, die andere beschreibt einen recht vagen Eindruck, der so etwas ähnliches wie Erhabenheit, oder die Weite des Raumes oder auch eine besondere Wahrhaftigkeit oder Deutlichkeit einer Emotion (i. Ggs. zu Oberflächlichkeit) wiedergeben soll. Diese "adverbielle" Bedeutung ("tief" traurig) hat Wulf ja ausgeführt. Hier finde ich oft bedenklich, dass man zum einen den Komponisten zu sehr ins Spiel bringt, der einmal Gefühle "tief und ehrlich" und eine andermal "oberflächlich" (vorgespielt? fake? oder was?) dargestellt haben soll, zum andern das natürlich sehr von der subjektiven Reaktion abhängt und wieder auch der Begriff droht sehr unspezifisch zu werden.


    Von dem emotionalen Eindruck allgemein würde ich Tiefe gern ein wenig abkoppeln. Wenn alle emotional rührende Musik "tief" ist, wird die Bedeutung doch sehr unscharf. Etwas anderes ist es, wenn "tief" einen einigermaßen spezifischen emotionalen Ausdruck der Musik beschreiben soll. So eine Art Weite. Aber wenn man "Weite" meine würde, warum sagt man dann "Tiefe"?


    Jedenfalls sind die beiden von Gallo ins Spiel gebrachten Bedeutungen ziemlich unterschiedlich. Tiefe im 2. Sinn (Weite, Erhabenheit) ist meiner Erfahrung nach mit vergleichsweise schlichten (nicht abwertend, sondern im Sinne von ökonomisch, direkt) Stücken vereinbar (also nicht nur 6stimmigen Ricercaren...). z.B fällt mir hier sofort ein Stück wie das largo aus Haydns Sinfonie #88.


    Riezler spricht in seinem (teils sehr idealistischen, aber auch erhellenden) Beethovenbuch vom "Welthintergrund". Damit scheint er auch eine Art Tiefendimension zu meinen, die besonders in manchen scheinbar heiteren Stücken "durchbricht". Ein schlagendes Bsp. außerhalb von Beethoven ist für mich hier Mahler 9, 3. Satz der Mittelteil, wenn plötzlich die brutale Hektik der Burleske angehalten wird und auf ätherische Weise das Hauptmotiv des Finales vorweggenommen wird.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl


    Ein notwendiger thread, u.a. weil "Tiefe" wohl eine der meistmißbrauchten (oder jedenfalls schillerndsten) Metaphern in der Musik- und Kunstbeschreibung sein dürfte. (Und entsprechend Oberflächlichkeit einer der probatesten Abkanzelungen... ;) )


    :yes: da stimme ich gerne zu.



    Zitat

    Original von salisburgensis
    Vielleicht ist gerade das ein Kennzeichen von Tiefe, wenn da Dinge im Hörer angesprochen werden, die man nicht in Worten wiedergeben kann? Wenn ich etwas benennen kann, dann verliert es etwas von seinem Zauber, wenn nicht, bleibt es gehimnisvoll, genau wie die Tiefe in der Musik.


    Das ist ein sehr interessanter Gedanke.
    Ich glaube jedoch, daß es bestimmte Merkmale bzw. Kriterien gibt, die bei uns ein Gefühl von geistiger Tiefe erzeugen. Diese Merkmale würde ich gerne ergründen und benennen. Das Gefühl in dem Moment des Hörens ist vielleicht, wie Du sagst mit Worten schwer zu beschreiben. Der Umstand bzw. die Ursache, welche dieses Gefühl von Tiefe erzeugt, läßt sich, so denke ich, intelektuell fassen und benennen.


    LG
    :hello:
    Wulf.

  • Hallo,


    nicht nur das Thema, sondern auch die Fragestellung sind interessant. Du machst uns nämlich, Wulf, durch Dein Angebot einer Gliederung in Teilfragen, (die alle wesentlich sind), das Antworten etwas leichter (aber immer noch schwer). Gleichzeitig deutest Du mit der Aufteilung Deiner Fragen in Teilaspekte zurecht an, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema auf mehreren Ebenen angesiedelt ist.

    Zitat

    Die Frau erwiderte, es sei recht hübsch, aber es mangle an Tiefe.

    Damit könntest Du auch mich zitiert haben. Diese Aussage ist bei mir schon fast zum Reflex nach Konzerten oder nach dem Anhören von Musik geworden. Es gibt nicht allzu viele Ausnahmen.


    Im Alltagsleben begegnen mir täglich Unmengen von Nettigkeiten, eilig formulierte Bemerkungen, kurz gesagt: von Schönem, aber oberflächlich-Unwesentlichem. Das ist durchaus keine Kritik, ich genieße dies, bin selber Adressat davon; das Leben ist a) nicht anders zu bewältigen und wird b) durch Nettigkeiten veredelt.


    Aber wie wohltuend ist es, wenn gelegentlich alle Oberflächlichkeiten mal beiseite geschoben werden und ich, so wie Ulli es sagt...

    Zitat

    Musik veranlasst mich, in meine Tiefe zu gehen.

    ...einen Anlass vorfinde oder bewirke, in die / meine Tiefe zu gehen. Für mich wirkt dies sehr reinigend und auch bisweilen entspannend, auch wenn dies konzentrierte „Arbeit“ erfordert.


    Ich denke, dass jeder seine persönlichen Anlässe hat, um die besagten Zustände zu erreichen, bei mir ist dies in besonderem Maße im Bereich der Musik. Mein Beitrag auf Wulfs Ausgangsanliegen, die „Kritik der Tiefe im musikalischen Kunstwerk“ :D wollte ich hiermit eigentlich nur einleiten. Aber je länger ich nachdenke, desto mehr spüre ich meine Unfähigkeit, das Wesen der Tiefe zu beschreiben; ich werde wohl, aus Zeitmangel erst später, vorlieb nehmen müssen, zu umschreiben.


    Ich möchte lediglich noch sagen, dass ich GalloNeros zwei Seiten von Tiefe, wenn ich sie recht verstanden habe, etwas abgewinnen kann: der von ihm genannten absoluten wie geistige Tiefe. Meine spontanen Gedanken bei dieser Unterscheidung sind, dass es dabei durchaus Überschneidungen geben kann und im Bereich der klassischen Musik wahrscheinlich sogar geben muss. Je höher der Grad an Überschneidung, desto intensiver wird der Zustand sein; (eine hohe Überschneidung empfinde ich sehr bei den späten Streichquartetten Beethovens, die mir eine fast ideale Einstiegsmöglichkeit in die Tiefe bieten). Absolute Tiefe ohne geistige Tiefe würde ein vielleicht dichtes, dynamisches Geflecht von Tönen, die nicht hinsichtlich einer höheren Ordnung aufeinander bezogen sind, bedeuten; reine geistige Tiefe dagegen würde z.B. meditatives Versinken auf einen einzelnen Ton bedeuten.


    Gruß,


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Zitat

    Original von Uwe Schoof
    Aber wie wohltuend ist es, wenn gelegentlich alle Oberflächlichkeiten mal beiseite geschoben werden und ich, so wie Ulli es sagt...

    ...einen Anlass vorfinde oder bewirke, in die / meine Tiefe zu gehen.


    Salut,


    das habe ich gesagt? Ich bin begeistert von mir ;)


    Ich frage mich aber, ob es tatsächlich Werke gibt, die eine Tiefe haben, die man trotz entsprechender Interpretation nicht wegradiert bekommt, oder ist es tatsächlich "nur" die jeweilige Interpretation, die im Zusammenhang mit der Gefühlslage des Hörers in einem gewissen Moment maßgebend ist?


    :hello:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

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  • ´ morgen :beatnik:


    gute Frage.


    ich verwende stehts das Wort "Volumen" um das auszudrücken was man allegemein als Tiefe bezeichnet


    natürlich gleich falsch oder gleich richtig, bis auf den einen Punkt, dass ich für mehr "Volumen" nicht unbedingt an tiefe Töne denken muss...


    ... doch habe ich trotzdem den Eindruck, dass ein Musikstück erst ab dem Einsatz der tiefen Töne im Hintergrund (diese sehr pompös) diese angesprochene "Tiefe" bzw. "Volumen" hat.


    diese Tiefe wird vielleicht auch gleichgestezt, wenn ein Gesang zu Tränen rührt - was möglichereweise auch richtig ist


    LG Paul? - der es auch nicht besser weiss :angel:

    Einmal editiert, zuletzt von Paul? ()

  • Guten Morgen.


    Das ist wirklich eine knifflige Frage. Da weiß man schon wenn man zu schreiben beginnt, dass man die Hälfte dessen, das man eigentlich ausdrücken wollte, nicht unterbrignen kann.


    Gleichwohl: Ich denke auch, dass Tiefe in der Musik in die von den "Vorschreibern" genannten Richtungen geht.
    Einmal in Richtung auf die Struktur, die Komplexität des Musikstücks. Polyphonie, Dialoge, Kunstfertigkeit in jeder Weise sind da ja bereits zu Recht angeklungen. Ich denke, dass diese in gewisser Weise "oberflächliche Tiefe" (weil sie ja auch etwas Handwerkliches hat), aber auch nötig sein dürfte, um zu der anderen Seite der Tiefe, der inneren Seite, zu gelangen. Dies hat für mein Empfinden mit der Komplexität unserer Gefühle oder Erinnerungen zu tun, die auf der geistigen Ebene der Tiefe ins Spiel kommen.


    Ich schreibe das, obwohl ich sehr wohl auch um die Wirkungen von "einfacher" Pop-Musik weiß. Ein Lied wie "Yesterday" von den Beatles wirkt natürlich sofort. Aber ist das - und ich schreibe das las langjähriger Beatles-Freund - nicht ein wenig eindimensional, nutzt sich da nicht (schneller als bei komplexeren Kompositionen) etwas ab?


    Wirklich, da könnte man noch ewig weiter grübeln. Schöne Frage, jede Menge Antworten.


    :hello:


    Gruß, l.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • Zitat

    Original von lohengrins



    Ich schreibe das, obwohl ich sehr wohl auch um die Wirkungen von "einfacher" Pop-Musik weiß. Ein Lied wie "Yesterday" von den Beatles wirkt natürlich sofort. Aber ist das - und ich schreibe das las langjähriger Beatles-Freund - nicht ein wenig eindimensional, nutzt sich da nicht (schneller als bei komplexeren Kompositionen) etwas ab?


    Hallo Lohengrins :)


    ein super Beispiel sind die Beatles
    ich wollt das schon zuvor schreiben


    A Day in the Life* - ein Lied, das von Strophe zu Strophe an Tiefe zunimmt - bis zu einem grandiosen Finale nach McCartneys Strophe 3 - und dann die letzte Strophe von Lennon


    LG Paul?


    * letzter Song der LP Sgt. Peppers lonley Hearts Club Band

  • Hallo zusammen,


    ich verstehe den Begriff "Tiefe" eher als Gegensatz zu "Oberflächlichkeit". Musik ist also dann tief, wenn sie mich nicht nur äußerlich als akustische Wahrnehmung erreicht. Es geht für mich dabei nicht um Vielfalt oder Komplexität. Dafür würde ich eben diese Wörter verwenden.


    Tiefe ist sicher ein Resonanzphänomen. Ob ich etwas als tief empfinde, hängt davon ab, ob ich das Stück an mich heranlasse. Es gibt sicher Menschen, denen Beethovens op. 131 gar nichts sagt. Mein Tonsatzlehrer sagte mal: Musik bringt in den besten Fällen eine Saite in uns zum klingen, die ansonsten stumm geblieben wäre. Da haben wir die Resonanz.


    Tiefe Musik
    - bringt in mir Saiten zum Klingen, die mich an meine eigene Identität erinnern (Wer bin ich? Welche Möglichkeiten habe ich in mir, von denen ich bisher nichts wusste?)
    - führt mich weg von oberflächlichem Alltagsgeschehen
    - wirft mich zurück auf mich selbst
    - führt mir vor Augen, dass es Dinge gibt, die größer sind als wir.

  • Zitat

    Original von Paul?
    ich verwende stehts das Wort "Volumen" um das auszudrücken was man allegemein als Tiefe bezeichnet


    Hallo Paul?,
    ich möchte Dir sanft widersprechen. Volumen und Tiefe schließen sich meiner Meinung nach nicht gegenseitig aus, sind aber nicht gleichzusetzen. Stell dir einen schlanken, hohen Sektkelch vor. Wenn Du von oben hineinschaust, hast Du verhältnismäßig viel Tiefe bei eher wenig Volumen. Dieser Vergleich fiel mir eben beim Hören der herrlichen Bach Kantaten mit Quasthoff ein. Gut die Stimme von Quasthoff hat natürlich Volumen, aber die Kantaten an sich kommen doch eher zierlich daher. Breite und Tiefe ergeben Volumen. Hier bei den Kantaten ist keine Breite auszumachen, aber (für) mich eine extreme Tiefe. Tiefe hat für mich auch etwas mit Vielschichtigkeit zu tun. Beim ersten Hinhören nimmt man erst mal die oberen Schichten war. Je öfter man ein Werk hört oder je besser man zuhörst, desto eher nimmt man auch (wenn vorhanden) die darunter liegenden Schichten war. Das kann eine zusätzliche, feine, filigrane, Stimme sein, eine besonders gut gelungene Färbung im Gesang (wie hier bei Quasthoff) oder aber auch eine sehr wirkungsvolle und bis dahin noch nie so recht wahrgenommene Generalpause.


    Liebe Grüße
    GalloNero


    P.S. Ich hoffe, ich konnte auch noch ein bisschen zur Verwirrung beitragen :D.

    ... da wurde mir wieder weit ums Herz ... (G. Mahler)

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  • :untertauch:


    Hi GalloNero :)


    dachte mir schon dass das ein Schuss in den Ofen war :D


    das mit dem mehrfachen hinhören und stehts was neues entdecken, leuchtet mir ein


    und ich hab solche Sachen auch schon für mich gefunden


    So empfinde ich bei meiner Antonio Votto Einspielung der Bohème
    das ist jedesmal ein neues Erlebnis


    LG Paul? :angel:

  • Hallo Paul?,
    als Schuss in den Ofen möchte ich deinen Beitrag nicht bezeichnen. Ich habe ja nur meine Sicht der Dinge wiedergegeben. Warten wir's ab, wie lange es dauert, bis Johannes Roehl meinen Beitrag zerlegt :D ;)


    Liebe Grüße
    GalloNero

    ... da wurde mir wieder weit ums Herz ... (G. Mahler)

  • Zitat

    Original von GalloNero
    als Schuss in den Ofen möchte ich deinen Beitrag nicht bezeichnen. Ich habe ja nur meine Sicht der Dinge wiedergegeben. Warten wir's ab, wie lange es dauert, bis Johannes Roehl meinen Beitrag zerlegt :D ;)


    Hey, ich schrieb oben, Deine Unterscheidung sei schon ganz brauchbar. Da ich mich mehr oder minder professionell mit begrifflichen Unterscheidungen befasse, ist das ungefähr so zu verstehen wie seinerzeit bei meinem Deutschlehrer, der unter einen Aufsatz mitunter "Nicht schlecht! - 14 Punkte" zu setzen pflegte ;)
    Zu Pauls Bsp.: Wenn ich "A day in the life" richtig im Ohr habe, würde ich das eher erstmal als eine Zunahme an "Dichte" beschreiben. Mit dem, was ich bei klassischen Stücken mit "Tiefe" verbinde, tue ich mich bei Pop prinzipiell etwas schwer (aber ich kenne zugegebenermaßen praktisch keine Popmusik, gibt zuviel anders, was mich interessiert)


    viele Grüße


    JR

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  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Hey, ich schrieb oben, Deine Unterscheidung sei schon ganz brauchbar. Da ich mich mehr oder minder professionell mit begrifflichen Unterscheidungen befasse, ist das ungefähr so zu verstehen wie seinerzeit bei meinem Deutschlehrer, der unter einen Aufsatz mitunter "Nicht schlecht! - 14 Punkte" zu setzen pflegte ;)


    Hallo Johannes,
    Genau so hab ich es auch aufgefasst und mich sehr gefreut :). Ich dachte nur, ich hätte Dir mit meinem Sektkelchvergleich eine neue Vorlage gegeben, musste an meine erste Zeit im Forum denken und hätte vielleicht mit sowas gerechnet =).


    Aber zurück zum Thema. Ulli's jüngste Fragestellung verhallte dezent im Nichts. Mir fehlern diesbezüglich zwar auch noch die Worte, aber mich würde das brennend Interessieren, wie die andere Taministen das sehen.


    Zitat

    Original von Ulli
    Ich frage mich aber, ob es tatsächlich Werke gibt, die eine Tiefe haben, die man trotz entsprechender Interpretation nicht wegradiert bekommt, oder ist es tatsächlich "nur" die jeweilige Interpretation, die im Zusammenhang mit der Gefühlslage des Hörers in einem gewissen Moment maßgebend ist?



    Liebe Grüße
    GalloNero

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  • Hallo Ulli, GalloNero - alle miteinander :)


    Zitat

    Original von Ulli
    Ich frage mich aber, ob es tatsächlich Werke gibt, die eine Tiefe haben, die man trotz entsprechender Interpretation nicht wegradiert bekommt, oder ist es tatsächlich "nur" die jeweilige Interpretation, die im Zusammenhang mit der Gefühlslage des Hörers in einem gewissen Moment maßgebend ist?


    Gut Frage!


    Ich dachte JA! - die gibts - und prüfte sofort ein Stück das mir da im Kopf vorschwebte



    Ich dachte nämlich, dass "Di Provenza il mar" aus La Traviata immer die Tiefe hat (die ich jedenfalls bei dem Lied empfinde), egal wer das singt. Da ich drei Versionen davon kenne und besitze hörte ich mir nun alle an


    eine. Sänger unbekannt (irgend eine Verdi Highlights CD) - sehr OK und der Grund mir die folgende DVD zu kaufen
    zweite : Hampson (Salzburg DVD) - absolut klasse!!! - Hampson ist ein echt guter Typ (meine Meinung) und ein Super Don Giovanni
    dritte: uralt LiveVersion von Ettore Bastianini (Callas auch drauf /Mailand 1955)


    na ja - die Version von Bastianini haut mich überhaupt nicht vom Hocker - darum ist es scheinbar so, dass man einem Werk die Tiefe durchaus nehmen kann - schade :(


    @ Bastianini Fans


    bitte nicht hauen :untertauch:


    LG Paul? :angel:

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  • Zitat

    Original von GalloNero


    Aber zurück zum Thema. Ulli's jüngste Fragestellung verhallte dezent im Nichts. Mir fehlern diesbezüglich zwar auch noch die Worte, aber mich würde das brennend Interessieren, wie die andere Taministen das sehen.


    Salve,


    ich weiß es wirklich nicht. Man könnte das nur prüfen, wenn jemand, der ein Werk überhaupt nicht kennt, es zum ersten Male interpretiert. Dann wird man sehen. Ich vermute, irgendjemand hat einem Werk X einmal eine Tiefe "auferlegt" [sofern nicht der Komponist bei den Proben zu Lebzeiten selbst] und seitdem wird es [oft/meistens] so interpretiert. Vielleicht ist das aber auch nur die eine Seite der Madaille... vielleicht gibt es Stücke, in denen eine gewisse Magie oder eine Art Magnetismus innewohnt, gegen die/den man sich erfolglos wehrt...


    ?(


    Bestimmte Harmonien oder Harmoniefolgen fordern ja eine gewisse "Tiefe" heraus, oder nicht? Im Prinzip als Pendant zum "fröhliche-Musik-Komponieren" gibt es für den Komponisten ja auch die Möglichkeit, eine gewisse gewollte Tiefe hineinzukomponieren. Wie das "geht", frage ich mich auch schon länger [für Rezeptvorschläge würde ich mich durchaus erkenntlich zeigen :D ], man sagte mir aber auch bereits nach, dass es mir bereits gelungen sei...


    Viele Grüße
    Ulli

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  • tiefe


    :beatnik:

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Die Fragestellung erinnert mich an ein Gefühl, das ich (vor allem oder vielleicht auch nur) von Brucknersinfonien (vor allem VIII) kenne: Die Musik scheint einen auf Wolken zu tragen, stürzt einen dann auf einmal in einen finsteren Abgrund. Bruckner erzeugt dies wohl hauptsächlich durch die krassen Brüche, Generalpausen und unerwartete Wendungen (von einer Instrumentengruppe unvorhergesehen in eine völlig andere - gerade noch dichte, weiche Streicherpassagen, plötzlich schroffe Fanfarentöne). Ich kenne diese - bildhaft gesprochen - vertikale Ausdehnung von keinem anderen Komponisten, das kann aber auch mit der Intensität und Art der Beschäftigung zu tun haben. Stellenweise vermitteln mir Werke des von mir sehr geschätzten Elgar ein ähnliches Gefühl, vor allem die 1. Symphonie.

    „People may say I can't sing, but no one can ever say I didn't sing."
    Florence Foster-Jenkins (1868-1944)