Hampelmänner auf der Bühne

  • Salut,


    worum es geht, bedarf wohl keiner Erklärung!


    Interessant aber fand ich eben folgende Textstelle in Carl Philipp Emanuel Bachs Klavierschule von 1753:


    Worinn aber besteht der gute Vortrag? in nichts anderm als der Fertigkeit, musikalische Gedanken nach ihrem wahren Inhalte und Affeckt singend oder spielend dem Gehöre empfindlich zu machen. [...] Indem ein Musickus nicht anders rühren kan, er sey dann selbst gerührt; so muß er nothwendig sich selbst in alle Affeckten setzen können, welche er bey seinen Zuhörern erregen will; er giebt ihnen seine Empfindungen zu verstehen und bewegt sie solchergestallt am besten zur Mit=Empfindung. Bey matten und traurigen Stellen wird er matt und traugrig. Man sieht und hört es ihm an. Dieses geschiet ebenfalls bey heftigen, lustigen, und anderen Arten von Gedancken, wo er sich alsdenn in diese Affeckten setzet.


    Was meint Ihr?


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Ich glaube das CPE Bach-Zitat kann heute einen falschen Eindruck von dem vermitteln, was Bach da im Sinn hatte. Man sollte - ich bin kein Experte - berücksichtigen, daß die Sprache damals eine andere war. Was für heutige Ohren gar zu emphatisch klingt war vielleicht früher "normal" - "Empfindsamkeit" war ja damals auch anders.
    Vielleicht ist das CPE - Zitat auch aus einer historischen Begebenheit zu verstehen - im Sinne einer Aufforderung allzu steifes Vortragen zu durchbrechen.
    Ich kann mir indes kaum vorstellen, daß sich CPE Bach einen Pianisten des Formats Lang Lang gewünscht hätte... aber welcher Komponist wünscht sich das schon :stumm:

  • Salut Wulf,


    Du hast ganz Recht. Ich habe absichtlich falsch hervorgehoben - ist aber witzig, gell? Allerdings meinte er schon den Gesichtsausdruck und die Bewegung als solche, vor allem aber das Empfinden. Ich war eben nur erstaunt, wie sehr umgekehrt unser heutiges Verständnis solcher Zeilen sein kann - und dass man sie ja [obwohl sicher nie gelesen] in dieser Form darbietet.


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Zitat

    Original von Ulli


    Ich war eben nur erstaunt, wie sehr umgekehrt unser heutiges Verständnis solcher Zeilen sein kann - und dass man sie ja [obwohl sicher nie gelesen] in dieser Form darbietet.


    Hallo Ulli,


    ganz verstehe ich nicht, was Du da mit umgekehrten Verständnis meinst? ?(


    Meinst Du, das manche der heutigen Dirigenten ohne wirklich "gerührt" im C.P.Bachschen Sinne zu sein, mit ihrem Gesicht schauspielernd und den Händen rührend eine Bühnenshow abziehen, also etwas Unechtes wie ein Hampelmann aufführen?


    Den Bach-Text verstehe ich in heutiger Sprache und aus meiner eigenen Erfahrung als Musiker so:
    Ich muss von der Emotion des Musikstückes voll erfasst sein, um diese aufs Publikum übertragen zu können ( mein Zusatz: ohne die Kontrolle zu verlieren, sonst kann ich ja nicht mehr vernünftig spielen/dirigieren)
    Wen dem so ist, dann sieht man mir das auch mehr oder weniger an, je nach Typ. Man redet immer davon, wie der und der etwas spielt.
    Ein guter Musiker sollte m.E. nicht nur spielen sondern sein, d.h. verkörpern.


    Die guten Schauspieler spielen nicht nur ihre Rollen. In dem Moment, in dem sie in der Rolle drin sind, sind sie derjenige, den sie da verkörpern, und nicht nur spielen.
    Das ist mir schon oft beim reiferen Heinz Rühmann aufgefallen, aber natürlich nicht nur bei dem.


    Wer ist aber ein Hampelmann oder ein Schmierenschauspieler aus der täglichen TV-Soap?
    Aus meiner (musikalischen) Sicht derjenige, der die Komposition eines Anderen zur eitlen Selbstdarstellung missbraucht.
    Der ist dann ein Schmierenschauspieler und kein ernsthafter Künstler.
    Er lebt nicht, was er spielt.


    Die Sprache C.P.Bachs klingt für meine Ohren keineswegs zu emphatisch.
    Es ging ihm nicht darum, allzu steifes Vortragen zu durchbrechen, sondern die ganze Bandbreite der möglichen Emotionen so eindrucksvoll wie möglich im Publikum auszulösen, und zwar durch die Musik und ihre Vermittler.
    Und dafür brauchen die Ausführenden eben die grösstmögliche emotionale Identifikation, sonst liefert sie nur Töne ab, ähnlich wie ein Finanzbeamter seine Steuerbescheide in den dafür vorgesehenen Postausgang wirft.


    Musik ist von ihrer Natur her Bewegung, weswegen das Publikum in einem Konzertritual die unnatürlicheste Rolle hat: Stumm und regungslos muss es lange sitzenbleiben, auch wenn die Musik zumindestens zum Kopfwackeln anregt. Wenn die Musik wirklich gut ist, dann fällt mir das manchmal schwer.


    Der Dirigent hat es in dieser Hinsicht am besten: Er soll und muss sich bewegen, natürlich nur "sachdienlich", sonst kommt die Kulturpolizei ;)


    Geradeeben habe ich eine DVD gehört und gesehen, bei dem die Sängerin und der Dirigent im Moment des Musizierens ganz in den Affekten aufgehen ohne auch nur im Geringsten anstössig oder schmierenschauspielerisch zu wirken.
    Sie ist ganz die Person, die sie singt, er ist beim Dirigieren ganz Musik.
    Die oben genannte Klavierschule hat der sogar gelesen - ganz sicher...




    Hier gibt es live aus Graz italienische Arien und die Prager-Symphonie von Mozart.
    Allen, denen Mozarts Musik ein bisschen was bedeutet, also auch Dir Ulli ?? ;), lege ich die DVD hiermit ans Herz - bin noch ganz "gerührt" davon.


    Abendlicher Gruss
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Hallo Glockenton,


    ich stimme Dir wirklich voll und ganz zu.


    Zitat

    ganz verstehe ich nicht, was Du da mit umgekehrten Verständnis meinst?


    Damit meine ich: Hätte den Text - etwas modernisiert - heute jemand geschrieben, könnte man daraus schliessen, jemand müsse Herumhampeln. Da ich den Text natürlich "richtig" lesen kann [und es gibt auch zahlreiche textliche Beispiele von J. M. Kraus dazu], war das natürlich nur als Gag gemeint.


    Zitat

    Er lebt nicht, was er spielt.


    Hier bin ich eben ganz im Zweifel, ob nicht ein Künstler, der etwas ungewohnt viel "aus sich herausgeht" [um nicht zu sagen: herumhampelt], dennoch voll und ganz [vielleicht sogar mehr als andere] das lebt, was er spielt. Natürlich meine ich keine unernsten Bühnenclowns, sondern jene, die Du als eitle Selbstdarsteller bezeichnest. Daß es die gibt, ist keine Frage - kein Zweifel daran. Doch wie soll man dies abgrenzen? Wenn man die Augen schließt und nur die Musik genießt, entfällt zwar im Ergebnis Bachs "Anweisung" in Bezug auf die Empfänger der Botschaft rein optisch - aber das Hör-Ergebnis kann ganz wunderbar sein.


    Es ist eben eine Frage der Ästhetik. Aber: Was tun, wenn sich ein Künstler [Annahme: kein eitler Selbstdarsteller] eben nicht "zügeln" kann? Muß er das? Kann er das? Oder muß das Publikum das akzeptieren? Und wo steckt die "Verantwortung"?


    Viele Grüße
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Mir ist vor ein paar Monaten zu meinem großen Erstaunen etwas aufgegangen.
    Ich habe beim Streichtriospielen als Scherz das scheinbar übertriebene Grimassieren und Oberkörpergewackel imitiert, das bei exzellenten Streichquartetten zu sehen ist. Die Stelle klang viel besser als sonst! Die Erklärung ist, dass die körperliche Zurückhaltung dem Spiel abträglich ist.


    CPE Bach hat vollinhaltlich recht.

  • Zitat

    Original von Ulli
    Interessant aber fand ich eben folgende Textstelle in Carl Philipp Emanuel Bachs Klavierschule von 1753:


    Worinn aber besteht der gute Vortrag? in nichts anderm als der Fertigkeit, musikalische Gedanken nach ihrem wahren Inhalte und Affeckt singend oder spielend dem Gehöre empfindlich zu machen. [...] Indem ein Musickus nicht anders rühren kan, er sey dann selbst gerührt; so muß er nothwendig sich selbst in alle Affeckten setzen können, welche er bey seinen Zuhörern erregen will; er giebt ihnen seine Empfindungen zu verstehen und bewegt sie solchergestallt am besten zur Mit=Empfindung. Bey matten und traurigen Stellen wird er matt und traugrig. Man sieht und hört es ihm an. Dieses geschiet ebenfalls bey heftigen, lustigen, und anderen Arten von Gedancken, wo er sich alsdenn in diese Affeckten setzet.


    Was meint Ihr?


    Meines Wissens wird dieses Zitat häufig angeführt, um den Unterschied zwischen der Ästhetik des Barock und der Empfindsamkeit auszudrücken. Im Barock ist (zugespitzt formuliert) die Affektenlehre quasi-wissenschaftlich objektiv, der aufführende Musiker muß ganz unabhängig von seinen eigenen Empfindungen die Affekt korrekt umsetzen und entsprechend wird die Wirkung sein. (Ein Zeitgenosse nannte Händel im Umkreis der Premiere der Oper "Alcina" einen Zauberkünstler, der die Opernfiguren heraufbeschwert wie die Zauberinnen, der Barockinterpret ist solch ein Beschwörer, genialer Manipulator, der Empfindungen auslöst, selbt aber nicht hat)
    Demgegenüber steht CPE Bachs ganz anderer Ansatz: Der Musiker muß selbst die Empfindungen verspüren, um sie auszulösen. Anstelle einer objektiven Affektenlehre tritt subjektive Empathie.
    Beide Extreme sind wohl nicht wirklich realistisch, geben aber wichtige Aspekte wieder. Musik ist m.E. zu abstrakt, um einfach mit Emotionen identifiziert werden zu könnne. Wir empfinden etwas anderes, wenn wir traurige Musik hören als wenn wir traurig sind. Trauer, etwa über den Tod eiens Angehörigen oder Angst vor einer Prüfung sind einfach andere Emotionen als die Empfindungen, die sich bei Musik (die vielleicht eine wesentlich desolatere Situation ausdrückt. Wenn man bei jedem Hörne der Winterreise so niedergeschlagen wäre, wie bei tatsächlichem Liebeskummer, wäre das wohl kaum auszuhalten.
    Ebenso kann der ausführende Musiker nicht einfach das empfinden, was die Musik ausdrückt.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)