Attila Csampai schreibt in einer Dokumentation über die Zauberflöte:
ZitatWir bringen nachfolgend jenen ersten Abschnitt aus dem ‚Lulu’-Märchen [J. A. Liebeskind/Chr. M. Wieland: Lulu oder die Zauberflöte], der praktisch unverändert zum ersten Akt Schikaneders wurde und der, mit der unanfechtbaren Kompetenz der Urquelle, bestätigt, dass die Königin der Nacht aus einer guten Fee hervorgeht.
…und begründet damit auch die sogenannte Bruchstelle, die es m. E. nicht gibt.
Abgedruckt ist der [leider nur] erste Teil der Geschichte, die Chr. M. Wieland in seinen 1787 erschienen 2. Band von Dschinnistan wiedergibt:
Lulu, Sohn des Königs von Korassan, war leidenschaftlicher Jäger. Eines Tages wollte er seinen Mut beweisen und lud die Höflinge zur munteren Jagd, zu der auch der König selbst erschien. Der Königssohn will unbedingt einen Löwen oder Tiger erledigen und dringt weiter als zuvor in den geheimnisvollen Wald ein, als ihm endlich ein ungeheurer Tiger begegnet. Eine [offenbar verzauberte] Gazelle foppte den Tiger, der ihr permanent nacheiferte, so dass Prinz, Gazelle und Tiger immer weiter in den Wald eindringen, wobei der Prinz die Orientierung verliert. Plötzlich sind Raubtier und Gazelle verschwunden und der Königssohn steht vor einem verwunschenen Schloss, in dem die Fee Perifirime wohnt. Sie erscheint in einem strahlenreichen Glanze, der stärker blendete als das hellste Sonnenlicht, öffnet sogleich die Pforten und belehrt ihn nach einigen einladenden Worten, dass er der Auserwählte sei, ein ihr einst von dem bösen Zauberer Dilsenghuin entwendetes Zaubergut wiederzubeschaffen. Der Zauberer – nebenbei erwähnt – habe sich auch um eine Jungfrau gegen deren Willen bereichert. Zum Zwecke der Geschäftsbesorgung erhält Prinz Lulu eine Zauberflöte, welche die Kraft hat, eines jeden Hörers Liebe zu gewinnen und alle Leidenschaften, die der Spieler verlangt, zu erregen oder zu besänftigen. Zudem erhält er noch einen Ring, der – in diesem Zusammenhang unwichtige – Tricks auf Lager hat. „Zur Belohnung ist dem Sieger das Beste, was ich habe, beschieden“, meint die Fee und überlässt Lulu seinem Schicksal.
O.K. Auffallende Übereinstimmungen mit Schikaneders Machwerk sind:
- die ‚Zauberflöte’ selbst mit ihren entsprechenden Eigenschaften
- der Prinz, der in Berührung mit einer Auftraggeberin gelangt
- der Auftrag, einen „bösen“ Menschen aufzusuchen, um etwas zu erledigen
- das [offensichtliche] Versprechen, als Entlohnung die Tochter der Auftraggeberin zu erhalten, die sich in den Fängen des „Bösen“ befindet.
Die Auftraggeberin ist in diesem Falle eine gute Fee, womit Csampai die Bruchstelle in Schikaneders Werk erklärt.
Meiner Meinung nach hat aber die Königin der Nacht rein gar nichts feenhaftes im ersten Aufzug der Zauberflöte [im zweiten schon gar nicht!] – vielmehr ist sie von Beginn an eine hinterheimtückische, machtsüchtige alte Krähe. Ihr Charakter entspricht vielmehr jenem des Neraor aus dem Märchen Nadir und Nadine aus der Wielandsammlung. Oder noch viel mehr jenem von Schikaneder kreierten Tarkeleon aus seinem Libretto zum Spiegel von Arkadien. Noch häufiger als die Königin der Nacht in der Zauberflöte scheitert Tarkeleon beim Versuch, seine Macht auszubauen bzw. zurück zu erhalten – und das ist zudem mit reizender, beinahe hämischer Schadenfreude gewürzt! Ebenso empfinde ich auch den missglückten Versuch der Königin [im 2. Aufzug], den Sonnentempel zu stürmen.
Aufgrund dieser Quellenlage – und auch bereits vorheriger Gedanken – ist die Königin der Nacht für mich von Beginn an eine Ausgeburt der Hinterhältigkeit, die ihr wertes Versprechen gegenüber Tamino niemals eingehalten hätte – sie war nur auf die Rückerlangung der Macht aus und hätte – wäre es gelungen – Tamino im Regen stehen lassen. Sie wollte ihre Tochter [ihr lebendes Ein und Alles] sowie den siebenfachen Sonnenkreis [das Instrument der Macht] – niemals hätte sie Pamina herausgerückt! Sie wäre ja vom Regen in die Traufe gekommen.
Was dem von Csampai angeblich bewiesenen Feenhaften der Königin zudem widerspricht ist, dass sie keineswegs als in einem strahlenreichen Glanze, der stärker blendete als das hellste Sonnenlicht [positiv demnach] dargestellt wird – ganz im Gegenteil: Von Anfang an ist sie die Königin der Nacht, sternflammend – nicht sonnenstrahlenreich. Das nämlich ist wiederum Sarastro! Die KdN wird schließlich auch gleich am Anfang als Herrscherin der Nacht dargestellt, deren Anblick für keinen Sterblichen bisher möglich war. Die Königin erscheint zudem unter Donner, begleitet von einem heftig erschütternden Akkord – Sarastros Erscheinen hingegen ist sehr sanft.
Somit sind doch die Fronten ganz eindeutig geklärt –
oder nicht?
Bei der Gelegneheit kann auch die Eurer Meinung nach überzeugendste Königi-der-Nacht-Darstellerin genannt werden; wer mag, mit Begründung und Einspielungsempfehlung!
Cordialement
Ulli