Guillaume de Machaut - ein überragender Dichter-Musiker

  • Hallo liebe Taminonianer,


    in lockerer Folge möchte ich hier über den ein oder anderen Komponisten berichten, CD-Empfehlungen aussprechen und gleichzeitig eine Diskussion über Person und Werk anstoßen. Ich möchte dabei etwas chronologisch vorgehen.


    Anfangen möchte ich mit:


    Guillaume de Machaut 1300/1305-1377



    Machaunt gilt als der vortrefflichste Vertreter der Ars nova.
    Zunächst schien er eine politische Karriere anzustreben, wurde er doch 1323, nachdem er als Magister ausgebildet war, an den Hof des Königs Johann von Böhmen berufen und wurde dessen Sekretär. In dieser Eigenschaft führten ihn seine Reisen quer durch Europa, wo er mit diversen Stilen und Texten in Berührung kam.
    Zudem bekleidete er einige hohe geistliche Ämter und war seit 1340 in Reims ansässig, wo er 1377 verstarb.
    Zu seinen Werken gehören neben zahlreichen Balladen, Rondeuxs, Motetten u.a. unter anderem die berühmte vierstimmige „Messe de Nostre Dame“, die als die erste vertonte Messe überhaupt gilt.. Zudem war einer der bekannsten Literaten seiner Zeit.
    Machaut komponierte seine weltlichen Werke ganz im Geiste der Troubadoure, an die er mit seiner höfischen "musica reservata" anzuschließen versuchte.


    Empfehlen möchte u.a. diese Einspielung der Motetten mit dem Hillard-Ensemble:



    Seine „Messe de Nostre Dame“ liegt in einer IMHO fulminanten Einspielung ebenfalls mit dem Hillard-Ensemble vor:


    Beste Grüße aus Bonn
    Matthias


    Ich tu', was meine Pflicht gebeut, doch hass' ich alle Grausamkeit (ROCCO)

  • Hallo liebe TaminoanerInnen


    Danke Rocco für Deinen Thread. Wir möchten hier gerne anknüpfen und etwas ausführlicher auf Machaut eingehen.


    Guillaume de Machaut ( auch Machault oder seltener Machau ) wurde um 1300 in der Champagne geboren und stabr 1377 in Reims. Sein Lebensgang ist bis auf seine Jugend im Vergleich zu anderen Kunstschaffenden jener Zeit dokumentarisch ausserordentlich gut dokumentiert, da sowohl seine soziale Stellung als auch sein Werk schon in seiner Aera Sonderstatus genossen. Er selbst sorgte in seinen späteren Lebensjahren dafür, sein Oeuvre in etlichen Handschriften festhalten lassen. Unsere Gegenwart betrachtet ihn als ersten herausragenden Komponisten der europäischen Musikgeschichte. Dieses Werturteil, so sehr es musikbezogen zutrifft, ist dennoch mangelhaft und unvollständig, denn Machauts Schaffen ist ebenso bedeutend in literarischer Hinsicht. Nach J. Cerquikini verkörpert Machaut geradezu modellhaft den „clerc-écrivain“ in der höfisch-aristokratischen Struktur des späteren Mittelalters. Er war demnach gleichzeitig gebildeter Kleriker, Hofmann, Dichter und Musiker. Die gesicherte Biographie belegt diesen Status: Machaut stand ab ungefähr 1323 in Diensten des Jean de Luxembourg, König von Böhmen und ab 1340 amtete er als Kanoniker an der berühmten Kathedrale von Reims. Dies lässt den Rückschluss zu, dass er als junger Mann wohl in Reims und eventuell auch in Paris geschult wurde. Am Hofe des böhmischen Königs führte er ein bewegtes Leben als „clerc“ im Familienkreis der „domestici familiares“, erst in der Eigeschaft als „aumonier“, dann als „notaire“ und schliesslich als „secretaire“. Belegt sind Aufenthalte am französischen Königshofe, dann Wechsel zwischen den westlichen Ländereien Jeans und denjenigen seiner böhmischen Herrschaft; Machaut kam infolgedessen bis nach Litauen. In seinen empfindsamen, teilweise auch sarkastischen Texten konzentriert er sich als Hofdichter durch Beschreibungen eines Idealbildes des ritterlichen Herrschers auf die Kreise um die höfische Welt. In diese Zeit fallen auch die Kompositionen der ersten Motetten.
    In Reims ( erst zusammen mit einem in St. Quentin ) übernahm er ein Kanonikat am 30. Januar 1337; seit dem 13. April 1340 residierte er daselbst „extra muros“ in einem geräumigen Haus als Kanoniker an der Kathedrale „per procurationem“. Das Amt verpflichtete ihn zwar zu liturgischen Aufgaben, bot aber neben einer soliden materiellen Basis mehr als genügend Freiraum für literarische und musikalische Beschäftigungen. Die Beziehungen zum Hochadel blieben intakt; die Erzeugnisse aus seiner Feder stehen nach wie vor im Kontext des Höfischen, das er bisweilen aber auch mit ironischer Distanz betrachtet. Zu seinen Bezugspersonen zählten Charles II. de Navarre, Jean Duc de Berry ( aus dessen Sammlung sind unter anderem Werke Machauts überliefert ) und der spätere König Charles V., der 1361 bei einem Aufenthalt in Reims bei Machaut wohnte. In den Dichtungen schlugen sich mitunter Zeitereignisse nieder wie der 1363 proklamierte Kreuzzug, Erfahrungen mit der Pest, die Belagerung von Reims durch die Engländer ( 1359/60 ) . In den letzten Jahren besorgte Machaut akribisch die Redaktion seines reichen Oeuvres, das deshalb als „Ausdruck einer pointierten Selbstdarstellung“ (Wulf Arlt) in einzigartiger Weise erhalten blieb – mindestens sechs Kopien seiner ungefähr 140 Partituren existieren nach wie vor.
    Obwohl diese Vita weniger durch sakrale als durch profane Kriterien ihre Bestimmung fand, ist Machauts bekanntestes Werk, die vierstimmige „Messe de Nostre Dame“. Deren Berühmtheit gründet sich darauf, dass ihr künstlerischer Rang einigartig ist, da sie die verschiedensten Kompositionsverfahren der Zeit eindrucksvoll in sich vereinigt. Überdies handelt es sich um die absolut erste erhaltene integrale Vertonung der Ordinariumsmesse durch einen einzigen Komponisten.
    Insgesamt sind 23 Motetten aus Machauts Hand bekannt. Deren Texte sind zu einem grossen Teil in französischer (ancien francais) Sprache geschrieben, die übrigen in lateinischer. Stilistisch schliessen die Motetten an die neuen Errungenschaften („ars nova“) des Philippe de Vitry ( 1291 – 1361 ) an. Pauschal formuliert entwickelt sich die Motette im 14. Jahrhundert aus einem Ausschnitt eines bekannten Chorals. Dieses Fragment gliedert der Komponist in eine langsame, rhythische Phrase ( der Choral wird gewissermassen gestreckt ), die im Verlaufe der Komposition immer wieder erscheint. Diese Stimme nennt man Tenor ( mit gesprochener Betonung auf der ersten Silbe ) , also „Haltestimme“. Sie bildet die Basis für die bewegteren Oberstimmen, deren jeweils unterschiedliche Texte zugewiesen sind: Über dem Tenor liegt zunächst der Motetus und wieder darüber das Triplum. Bei vierstimmigen Motetten kommt noch das Quadruplum dazu.
    Bei der Betrachtung der Tenores vieler Motetten Machauts, fällt auf, dass sie aus unserer gegenwärtigen Sicht den Textaussagen der Oberstimmen zu widersprechen scheinen, oder anders gesagt: Wir verstehen den textlichen Zusammenhang zwischen dem Choralausschnitt – selbst wenn er, um ihm Nachdruck zu verschaffen, ständig wiederholt wird – und der von Oberstimmen gesungenen Neudichtungen nicht mehr unmittelbar. Die Forschung interpretiert diese Schein-Kontradiktionen unterschiedlich, meistens gehen die Auslegungen in Richtung der Allegorie christlich-mystischer Prägung, wobei nolens volens der „Graubereich“ des Spekulativen tangiert wird.
    Da Machauts literarische Vorlagen sich inhaltlich in den profanen Bereich des Moralischen bewegen, weisen sie ihn nicht zuletzt auch deswegen als Wegweiser der französischen Chansons aus, indem er beispielsweise die höfische Liebe mit kontemplativem Zauber besingt. Dabei verknüpfen sich die mit Countertenören besetzten Stimmen zu einem deklamatorischen sowie höchst melodischen Stil, überlagern sich, um wieder auseinander zu treiben. Bei all der rhythmischen Komplexität, die das Fundament, bildet sind diese Motetten voll der faszienerend kostbaren Wendungen und Stimmungen, bis hin zu einer ergreifenden Ausgeglichenheit in den geistlichen und mitunter wieder lateinisch gesungenen Motteten seiner späteren Jahre.


    Auch wir möchten gerne die Aufnahme des englischen Hilliard Ensemble empfehlen;



    Herzliche Grüsse


    romeo&julia

  • Empfehlen kann ich auch eine Aufnahme aus dem Jahre 1961, die von dem Deller Consort unter der Leitung von Alfred Deller in der Stiftskirche in Fröndenberg aufgenommen wurde. Sie ist bei der deutschen harmonia mundi im Jahr 1988 erschienen und enthält u. a. auch noch zwei vierstimmige Organa von Perotinus Magnus (Lebzeit von ca. Mitte des 12. Jahrhunderts bis zu Beginn des 13. Jahrhunderts), was den Vorteil hat, dass ein direkter Vergleich der beiden Komponisten die (rasante) Entwicklung in der Vokalmusik ab dem 12. Jahrhundert verdeutlicht.


    Mignon :hello:

    Maybe the nation has found peace from its sins... I. A. a. W.E.B. Du Bois

  • Hallo!


    Machauts epochale Messe de Notre-Dame habe ich in dieser Einspielung kennen- und schätzengelernt:



    Was ist allerdings von den Verzierungen der Töne, die in dieser Aufnahme praktiziert werden, zu halten? (vibrato- oder trillerhafte Umspielungen der Silben)
    Im Booklet steht dazu:


    In der Verzierungskunst haben die Interpreten unserer Zeit wenig Erfahrung, und das ist sehr bedauerlich. Die Verzierung ist wesentlich, denn aus ihr bezieht das Werk seine Dynamik, durch sie wird die rhythmische Gestalt greifbar, sie bringt den Übergang von einer Harmonie zur anderen zustande und destabilisiert zuweilen einen Akkord, damit der nächste um so gefestigter klingt. In der Auszierung zeigt der Sänger, wie gut er sich in ein Werk einfühlen kann.


    Ist das Konsens, was die Interpretationen von Werken der Ars Nova betrifft, oder eher eine individuelle Meinung?


    Wie auch immer, die Aufnahme des Ensemble Organum entfaltet eine klangprächtige Wirkung, die der Großartigkeit der Messe sicher gerecht wird.
    Ich kann mir aber auch eine schlichtere Interpreatation mit weniger Verzierungen vorstellen.


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Empfehlen kann ich auch eine Aufnahme aus dem Jahre 1961, die von dem Deller Consort unter der Leitung von Alfred Deller in der Stiftskirche in Fröndenberg aufgenommen wurde. Sie ist bei der deutschen harmonia mundi im Jahr 1988 erschienen und enthält u. a. auch noch zwei vierstimmige Organa von Perotinus Magnus (Lebzeit von ca. Mitte des 12. Jahrhunderts bis zu Beginn des 13. Jahrhunderts), was den Vorteil hat, dass ein direkter Vergleich der beiden Komponisten die (rasante) Entwicklung in der Vokalmusik ab dem 12. Jahrhundert verdeutlicht.


    Mignon :hello:


    Diese Aufnahme ziehe ich allen anderen vor, weil sie von einer ungeheuren Expressivität ist, die mir bei den Hilliards, obwohl ich sie schätze, oft fehlt. Einen Teil der Deller-Aufnahme habe ich einmal einem Musikfreund vorgespielt, der sich in Alter Musik überhaupt nicht auskennt. Er hielt es für - Strawinski! Auf dem Kirchentag in Köln (ich glaube, das war 1965) wurde die Messe von Deller und seinem Ensemble live aufgeführt - unvergesslich. Die Perotinus-Platte vom Hilliard-Ensemble gefällt mir übrigens besser als die Messe, aber auch hier ist die Deller-Version ausdrucksstärker.

    Schönheit du kannst zwar wol binden...

    Schönheit machet viel zu blinden...

    Schönheit alle Freyer grüssen...

    Schönheit reitzet an zum küssen...

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

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  • Nach sechs Jahren geht es endlich hier weiter: Wer eine relativ schmucklose gradlinige Wiedergabe der Messe de Nostre Dame sucht, der wird vielleicht mit der hier gezeigten Naxos Einspielung glücklich. die Oxford Camerate hat diese Aufnahme für Naxos in Zusammenarbeit mit BBC Radio 3 und France Musique am 20. und 21. Februar 1996 in der Kathedrale in Reims eingespielt. Der Klang ist verhältnismäßig wenig hallig. Einerseits fehlt dadurch das "Flair", das andere Aufnahmen teilweise auszeichnet, andrerseits wird der Klang so durchhörbarer und direkter - eine Geschmacksfrage.

    In Booklettext wird darauf hingewiesen, dass der Überlieferung zufolge Machaut die Messe zur Krönung Karls V von Frankreich in Reims kompfoniert habe, allerdings eher als Legende zu sehen. Ungeachtet dessen hier eine Abbildung Karls V kurz nach der Krönung.



    Die CDs wird durch einige Songs from Le Voir Dit "aufgefüllt" Zu hören sind die Balladen Nr 4-13-17-18-32 und 33.
    Entgegen sonstiger Gepflogenheiten verfügt die CD nicht nur über einen ausgezeichneten deutschen Kommentar von Teresa Pieschacon Raphael, sondern auch über den abgedruckten Messtext in lateinischer und Englischer Sprache, die Balladen kann man im französischen Original und in Englisch nachlesen.


    Nicht nur wegen des günstigen Preises interessant ........


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !