Ganz nett, aber konventionell

  • Liebe Forianer,


    Immer wieder findet man jenes (vernichtende? ) Urteil über Musikstücke, seien es Sinfonien unbekannter Haydn Zeitgenossen, Kunstlieder des 18. Jahrhunderts oder die Klavierkonzerte eines gewissen John Field....


    Ich frage mich, was ist es dann, das Musik hörenswert macht?
    Muss es immer skurrill - oder zumindest neuartig sein ?
    Muss es neuartig sein, muß die Welt auf den Kopf gestellt werden ?
    Oder ist es nicht vielmehr so, daß die Hörer vergangener Jahrhunderte gefällige Musik hören wollen ??


    Schon das Wort "gefällig" ist in heutiger Terminologie eine Beleidigung - ein Schimpfwort. Heutzutage wird ein Komponist danach bewertet - was er in Sachen Musik "weitergebracht" hat. Ob das Ergebnis für die Musikfreund "anhörbar war oder nicht - ist hier nur zweitrangig - bzw bedeutungslos.....


    Ich selbst lege Wert auf "schöne" Musik - unabhängig davon wie "progressiv" sie sei ...
    Musik soll unterhalten - nicht die Welt (um jeden Preis) verändern...


    mfg
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Salut,


    gefällige Musik ist schon wunderbar! Wenn man sie aber über den ganzen Tag verteilt hört, geht sie zumindest mir ab einem gewissen Zeitpunkt tierisch auf die Nerven. Dann brauche ich etwas aggressiveres - Dissonanzen [natürlich bis maximal 1828 :D ] oder kratzige HIP-Einspielungen. Manchmal stehe ich auch stundenlang vor dem Regal und finde nichts, worauf ich jetzt wirklich Lust hätte [wie jetzt zum Beispiel].


    Die Boccherini-Quintette op. 11 beispielsweise, die ich jüngst zum [gewünschten] Geschenk erhielt, finde ich derzeit ziemlich nichtssagend - einfach nur gefällig eben. Nicht langweilig, schon kurzweilig - aber mich langweilt es jetzt. Das ist schon der Beweis, dass 'langweilig' nicht das Gegenteil von 'kurzweilig' ist.


    Da lob ich mir jetzt doch wieder einen tiefgründigeren Mozart oder Kraus in g-moll...


    Muß denn Musik die Welt verändern? [Oouups, schon wieder ein neuer Thread...]


    Cordialement
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Hallo,


    auf die Frage, ob Musik immer die Welt auf den Kopf stellen muß, antworte ich für mich mit einem klaren Nein.


    Trotzdem habe ich mir abseits der großen Namen Haydn, Mozart und Beethoven in den letzten Jahren keine einzige CD aus dem Bereich zwischen Stamitz und Boccherini gekauft. Selbst mit Kraus kann ich als Hörer nicht viel anfangen. Um der Ketzerei die Krone aufzusetzen: Auch viele Werke von Haydn und Mozart (!) vermögen mich nicht im Geringsten zu begeistern. Mir erscheint der "konventionelle" homophone Rahmen dieser Musik oft gegenüber der Barockzeit als arg simplifizierender Rückschritt, ich bin nicht in der Lage, hinter der auf meine Ohren eintönig wirkenden Form die (oft fraglos vorhandenen!) raffinierten Inhalte herauzuschälen. Zu "konventionell" ist natürlich ein unscharfes Wort, es deckt mein Problem nicht komplett ab, aber ganz unpassend ist es in diesem Zusammenhang nicht....


    Witzigerweise geht es mir, wenn ich die Sachen selber spiele, völlig anders. Dann kann ich mich in fast alles, was mich als Hörer anödet, regelrecht verlieben - eine frühe Haydn-Sinfonie, die ich mir nie in den CD-Spieler legen würde, macht plötzlich ungeheuren Spaß.
    Diese merkwürdige Diskrepanz kann ich mir selber nicht richtig erklären.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Witzigerweise geht es mir, wenn ich die Sachen selber spiele, völlig anders. Dann kann ich mich in fast alles, was mich als Hörer anödet, regelrecht verlieben - eine frühe Haydn-Sinfonie, die ich mir nie in den CD-Spieler legen würde, macht plötzlich ungeheuren Spaß.
    Diese merkwürdige Diskrepanz kann ich mir selber nicht richtig erklären.


    Auf die Gefahr hin, von (noch dazu eigenen !!) Thema abzuweiche :


    Ich glaub, daß ich das erklären kann: Wenn Du spielst - bist Du gezwungen der Musik jene Aufmerksamkeit zu schenken, die ich ihr, als Hörer der sie liebt FREIWILLIG entgegenbringe.
    Mit Haydn-Sinfonien ist es wie mit Vivaldi-Konzerten und Bach-Kantaten. Nur dem Uneingeweihten erscheinen sie alle ähnlich......


    Ich habe natürlich andere geschmackliche Prioritäten:


    Ich benötige keinen Fortschritt in der Musik (schon gar nicht, wenn ich höre wohin der geführt hat) sondern ich liebe eine ungeheure Vielfalt von immer wieder neuen musikalischen Themen von hohem Wiedererkennungswert. Die "Originalität" ist IMO durch die "Unverwechselbarkeit" schon zur Genüge gegeben - da brauche ich keine "revolutionär neue" Tonsprache.


    Ich liebe "unbekannte Meister" und erkäre kurz wie ich dazu kam.
    Ich brauche relativ lange bis ich mich an was gewöhne, seien es Menschen, Melodien, Wohnungen etc.
    Ich fragte mich immer schon, warum Mozart nur so kurz leben durfte, warum Beethoven nur 9 Sinfonien schrieb. So begab ich mich auf die Suche nach Zeitgenossen - von denen ich mir eine ähnliche Tonsprache erwartete - und ich wurde fündig. Nicht alles ist wirklich hörenswert, aber es gibt zahlreiche Perlen und Ohrwürmer, die Mozarts, Haydns und
    Beethovens Tonsprache ähnlich sind - ja einige die sie sogar erweitern - selbstverständlich ohne die klassische Form zu verletzen....


    So sind mir beispielsweise Fields und Paisiellos Klavierkonzerte eine liebe Ergänzung zu jenen Mozarts - daß sie keine "Meilensteine" sind stört mich indes überhaupt nicht.


    mfg
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Ich liebe "unbekannte Meister"


    Zitat


    daß sie keine "Meilensteine" sind stört mich indes überhaupt nicht.


    Lieber Alfred,


    da rennst Du bei mir offene Türen ein!
    Die von mir in deinem Field-Thread gebrauchten Worte "ganz nett" waren nicht anmaßend, urteilend oder als antifortschrittlich meinerseits gemeint.
    Es war nur das, was ich als erstes empfand, als ich - ich hoffe ich irre nicht - den 3. Satz des 2. KK hörte. Nichts, was mich in entfernte Welten bringt - nchts was mein tiefstes inneres Empfinden aufrüttelt. Na und? Muss es gar nicht. Mein Problem war nur, daß es mich im Moment auch nicht wirklich zu begeistern wußte. Den Ausdruck der Musik empfand ich als "nett" - größtenteils harmlos, wie Douglas Adams sagen würde. Deswegen fand ich die Worte "ganz nett".
    Vanhal ist auch nicht wirklich tiefschürfend oder seiner Zeit voraus. So what?Als ich das erste mal seine g2 Symphonie hörte, war ich dermaßen angetan, daß ich mir gleich die Bamert-Einspielung zu Weihnachten schenken ließ (leider ist sie nicht ganz so gut wie die unter Vlcek bei Supraphon, aber egal)
    Es gibt da ein kurzes, witziges Stückchen Musik des völlig unbekannten Engländers Armstrong Gibbs (20. Jhd.): "The Peacock Pie". Dieses Stück ist sowas von gefällig und konventionell, so einfach in der Struktur - aber hey, sowas von entzückend, vor ein paar Monaten habe ich es fast jeden Tag einmal gehört.
    Wenn es nur um Skurilität oder Fortschritt ginge, müßte ich meinen heißgeliebten Dvorak fallen lassen.Den Teufel werde ich tun. :)


    Musik soll unterhalten - genau!!! Allein dadurch verändert sie ja schon die Welt, oder?
    Fazit: Ich persönlich schätze die weniger fortschrittliche, die nicht so skurille, die gefällige Musik (die von vielen "Großmeistern" geschrieben wurde... fairneshalber sollte man sich fragen, wie tiefschürfend das op.11 eines Mozart ist...) genau so wie die als "tiefschürfend" , fortschrittlich, provokant deklamierte Musik.
    Sie muß nur etwas haben, was mich anspricht, ja was mich vielleicht entzückt.
    Bei Kraus das Temparement, bei Vanhal die Melodie (schon mitr ersten böhmischen Einflüssen) etc.


    :hello:
    LG
    Wulf.

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  • Zitat

    Original von Wulf


    Bei Kraus das Temparement,


    Salut,


    das ist interessant, bei Kraus Temperament zu finden. Vielleicht abgesehen von den Eröffnungs- und Finalsätzen der cis-moll- und daraus entstandenen c-moll-Sinfonie, vielleicht noch e-moll-Sinfonie ist bei Kraus eher kein Temperament, sondern äußerste Zurückhaltung und Bescheidenheit zu finden, oder?


    Das was oft bei den "großen" Komponisten als "Meilensteinsetzung" angesehen wird, gab es zumeist weit früher schon bei anderen Komponisten. Da stellt sich dann die Frage, welcher nun wahrhaftig der "große" ist.


    Davon abgesehen gilt natürlich uneingeschränkt "Ruhm hat, wem Ruhm gebührt"...


    :rolleyes:


    Cordialement
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Hallo zusammen,
    ich kann weder bei Kraus noch bei Fields und Paisiellos wirklich mitreden, aber auch ich habe eine Meinung zur grundsätzlichen Fragestellung des Eröffnungsbeitrags


    Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Ich frage mich, was ist es dann, das Musik hörenswert macht?
    Muss es immer skurrill - oder zumindest neuartig sein ?
    Muss es neuartig sein, muß die Welt auf den Kopf gestellt werden ?
    Oder ist es nicht vielmehr so, daß die Hörer vergangener Jahrhunderte gefällige Musik hören wollen ??


    Auch ich mag es gerne „schön“. Und auch mich hat es zunächst verwundert, dass wenn immer im Radio zeitgenössische Musik angesagt wurde, Dissonanzen, Atonalität, aufreibende, grässliche, abgedrehte Musik folgte. Ja man bekommt das Gefühl, der zeitgenössische Komponist des späten 20ten und 21ten Jahrhundert möchte sich bewusst von den „Erfolgskonzepten“ der alten Meister abheben. Neues muss auffallen um wahrgenommen zu werden bzw. eine andere Hörerschaft bedienen. Denn die, die es wie Alfred, ich und viele andere gerne „schön“ haben, greifen auf einen nahezu unerschöpflichen Fundus an Kompositionen, den uns die Komponisten der letzten Jahrhunderte hinterlassen haben, zurück.


    Zeitgenössische Komponisten, die sich den Schönklang auf die Fahne schreiben (gibt es außer Ulli noch andere?), werden vermutlich gar nicht wahrgenommen. Ausgehend von mir selber, bin ich vermutlich noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte damit beschäftigt, die Werke der bekannten und weniger bekannten Komponisten des 17ten, 18ten und 19ten Jahrhunderts kennen zulernen. Der Markt des „Schönen“ ist gesättigt. Wer es gerne Skurril mag, darf auf weitere Neuerscheinungen hoffen.


    Doch das war (Gott sei Dank) nicht immer so. Wenn ich mal in die vergangenen 4 Jahrhunderte zurückblicke, dann gab es dort etliche Revolutionäre, die trotzdem „schön“ klangen und klingen. In ihrer Zeit zählten sie nicht immer zu den erfolgreichsten. Denn soviel habe ich gelernt. Das meiste was heute als klassische Musik bezeichnet wird, wurde früher schlicht und einfach zur Unterhaltung komponiert. Zunächst zu Hofe und für den Adel, doch später auch für ein breiteres Publikum. Auch heute wird für die Unterhaltung der Massen komponiert (oder oft auch nur produziert). Will sagen, das „gefällige“ von damals wurde von Pop, Rock, Soul usw. abgelöst. Und so wie seiner Zeit ein Franz Liszt, ein Richard Wagner und ein Anton Bruckner die Hörerschaft spaltete, so blickt ein Großteil aller Musikhörenden des 21ten Jahrhunderts argwöhnisch auf das herab, was wir zeitgenössische Klassische Musik nennen.


    Ich kann und will klassische Musik nicht nur hören. Mich interessieren auch sehr die geschichtlichen Hinergründe. Und da ist revolutionäres, was die Welt veränderte natürlich erst mal von größerer Bedeutung. Vielleicht stehe ich ja irgendwann dann doch mal am Scheideweg – unbekanntes „Schönes“, wenn auch „nur Gefälliges“ oder Skurriles, Aufreibendes?


    Liebe Grüße aus Ulm
    GalloNero

    ... da wurde mir wieder weit ums Herz ... (G. Mahler)

  • IMO kann Musik alles sein: schön oder hässlich, gefällig oder skurril, harmonisch oder atonal, neuartig oder altmodisch, konventionell oder ungewohnt, laut oder leise, beruhigend oder aufregend, sanft oder schroff etc etc etc. Hauptsache sie berührt oder bewegt mich - das macht Musik für mich hörenswert. Ich hab es gerne, wenn Musik unterhaltsam ist oder meinen Ohren schmeichelt - aber deswegen bin ich nicht der Meinung, daß Musik generell unterhaltsam sein "soll" - (wie Kunst überhaupt in meinen Augen nichts "soll" oder "muss" - das wäre ja furchtbar dogmatisch und einschränkend), ich mag es aber auch, wenn Musik mich fordert, sogar anstrengt und über meine "Hörgewohnheiten" hinausreicht. Ich kann auch in "hässlicher" Musik Schönheit entdecken - genauso wie in einer schroffen oder urbanen Landschaft. Und es gibt wiederrum auch von Mozart Stücke, die ich absolut schauderhaft finde...


    Kann Musik die Welt verändern? Ja!
    Kann Musik unterhaltsam sein? Na klar!
    Kann Musik schön, hässlich, skurril etc etc sein! JAA!


    Und das Tolle dabei ist: das muss sich IMO alles nicht mal gegenseitig ausschließen :beatnik:

  • Hallo,


    Zitat

    Muss es immer skurrill - oder zumindest neuartig sein ?

    Zitat

    Oder ist es nicht vielmehr so, daß die Hörer vergangener Jahrhunderte gefällige Musik hören wollen ??


    1. Was gestern skurril oder neuartig war, gefällt heute. Dies betrifft einen großen Teil heute beliebter Musikstücke.


    2. Natürlich hast Du recht: Die meisten wollen gefällige Musik hören; leichtfüßig, einfach und schnell fasslich. Deshalb wurde und wird auch sehr viel Gefälliges komponiert, meist aus dem äußeren "Gefallen Wollen" heraus. Und das ist bei mir ein wesentlicher Punkt, warum mir häufig "gefällige" Musik überhaupt nichts sagt: Man merkt sehr vielen Kompositionen den Zwang nach Gefälligkeit an.


    Diese Kompositionen sagen mir überhaupt nicht zu. Die gefällige Art kommt in diesen Fällen nicht von innen heraus. Sie dient nicht dem Organismus der Komposition, sondern dient dem Beliebtheitsgrad des Komponisten. Ich kann dies gut verstehen, kritisiere überhaupt nicht diesen Beweggrund - aber ich höre diese Musik höchst ungern. Insofern ist das Wort "gefällig" für mich zwar kein Schimpfwort, aber ein abwertendes Urteil bezüglich der Qualität des Musikstückes.


    Zitat

    Heutzutage wird ein Komponist danach bewertet - was er in Sachen Musik "weitergebracht" hat.


    Das sagt man häufig so, aber ich glaube das nicht; zumindest gilt das für heute nicht mehr als für vergangene Zeiten.


    Zitat

    Ob das Ergebnis für die Musikfreund "anhörbar war oder nicht - ist hier nur zweitrangig - bzw bedeutungslos.....


    ...


    Zitat

    Musik soll unterhalten - nicht die Welt (um jeden Preis)
    verändern...


    Musik muss die Welt verändern, auf jeden Fall. Und wenn sie meine Stimmung oder meine Faszination verändert...ich gehöre schließlich auch zur Welt.


    Schönen Gruß,


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • @Alfred Schmidt


    Ich würde mich mal als ungeweihten bezeichnen, aber mir scheint keine Bach-Kantate wie die andere 8o Beim Himmel NEIN!!!

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

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  • Ich glaube man muß erstmal zwei Dinge einräumen:


    Erstens, dass ohne Konventionen Musik nicht existieren würde und obendrein unverständlich wäre. Die gesamte Musik, Tonysteme, Formen usw. beruhen auf Konventionen, die sich historisch herausgebildet haben. Auch er originellste oder revolutionärste Komponist bezieht sich irgendwie darauf.


    Aber das dürfte wohl nicht gemeint sein, wenn man von konventionell spricht, daher behaupte ich


    zweitens, dass die allerwenigsten von uns wirklich wissen, was 1670, 1785 oder 1855 konventionell und was wirklich originell gewesen ist (Ulli vielleicht oder andere Experten, ich nicht). Ich jedenfalls kenne viel zu wenig der "vergessenen" Musik aus den jeweiligen Epochen, um einigermaßen zuverlässig zu urteilen, was nun konventionelle Züge sind.
    Man ist also auf das wenige, was man kennt, angewiesen und auf recht leicht oder immanent erkennbare Verstöße gegen Konventionen.
    Aber es fängt bei Kleinigkeiten an: der Beginn von Beethovens 1. galt als außerordentlich kühn ("dissonanter D7-akkord, wenn ich recht erinnere); man muß heute m.E darauf hingewiesen werden und sich selbst trainieren, um die damals wahrgenommene Schärfe wenigstens ansatzweise nachzuvollziehen. Ähnlich ist der Kopfsatz von Mozarts Prager Sinfonie ca. doppelt so lang wie ein "konventioneller" Satz der Zeit, aber das merkt man als an Bruckner oder Mahler gewöhnter Hörer des 21. Jhds. ja kaum.
    Und es kommt auch immer darauf an, wieviel Spielraum Konventionen lassen, ein Stück in manchen Hinsichten sehr konventionell, in andern hochoriginell sein usw.


    Ungern möchte ich auf Gallos Anmerkungen eingehen, in früheren Zeiten seien Komponisten revolutionär und dennoch "schön" gewesen ein, weil das eine andere Frage ist. Kurz gesagt, halte ich sie aber für historisch unhaltbar. Artusi fand Monteverdis Dissonanzen vermutlich wirklich inakzeptabel häßlich, Beethovens Zeitgenossen die Große Fuge "chinesisch" usw. Und natürlich ist Musik des 20. Jhds. schön.


    Bernd Schulz Es ist ja ok, Mozart und Haydn nicht besonders zu mögen, aber auch das ist m.E eine andere Baustelle. Es gibt kaum einen Fortschritt, ohne dass auch etwas verlorengeht. Aber dafür wird anderes gewonnen, und Mozarts & Haydns Musik kann ebenso Dinge, die Bachs & Händels nicht kann, wie umgekehrt.


    Schließlich, unter allen oben angesprochene Vorbehalten, zu "ganz nett, aber konventionell". Ob konventionell oder nicht, "ganz nett" ist für mich selten eine ausreichende Motivation, mich mit einem Musikstück intensiver zu befassen. Irgnedwas muß mich schon emotional, intellektuell oder sonstwie packen. Wenn der Ruf des Stücks entprechend ist (oder ich andere Stücke des Komponisen schätze), dann bekommt es auch eine dritte oder vierte Chance. Manches erhebt sich eben aber nicht sehr viel über ganz nett, auch wenn man evtl. zu hohe Erwartungen korrigiert und mehrfache 2. Chancen eingeräumt hat.
    (Ich versuche z.B. seit einiger Zeit zu verstehen, was den 1. Akt vom Elisir d'Amore über "ganz nett und etwas albern" erhebt. Bei einem so berühmten Stück, muß da ja was sein, aber bei mir funkts nicht wirklich...)


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Dies ist ein sehr interessantes Thema. Es ist, oh Himmel, nicht so, dass Musik immer die Welt auf den Kopf stellen muss, um mir zu gefallen. Musik muss mich berühren. Dies kann sie auf verschiedenste Art und Weise tun! Man kann weder sagen, dass Musik progressiv sein muss, noch dass sie gefällig sein sollte. Dass sind nur Mittel, die der Künstler, respektive Komponist, verwenden kann, um seine Zuhörer auf irgendeine Weise zu rühren. Daher sollte man dies nicht zur Voraussetzung machen. Sicher gibt es Sachen, wo ich sage, dass dies oder jenes revolutionär, bahnbrechend oder aber eben progressiv ist, doch rührt mich dann die Musik nicht unbedingt der Progressivität wegen, sondern weil sie mich gefangen nimmt. Das Spätwerk Haydns, die Jahreszeiten, rührt mich, weil es einfach unbegreiflich schön ist.


    Über meine Lippen würde daher niemals "ganz nett, aber konventionell" gehen, weil "konventionell" für mich einfach kein Kriterium darstellt, ob mich Musik berührt oder nicht.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Ungern möchte ich auf Gallos Anmerkungen eingehen, in früheren Zeiten seien Komponisten revolutionär und dennoch "schön" gewesen ein, weil das eine andere Frage ist. Kurz gesagt, halte ich sie aber für historisch unhaltbar. Artusi fand Monteverdis Dissonanzen vermutlich wirklich inakzeptabel häßlich, Beethovens Zeitgenossen die Große Fuge "chinesisch" usw. Und natürlich ist Musik des 20. Jhds. schön.


    Hallo Johannes,
    vielleicht war ich an dieser Stelle nicht präzise genug. Ich hätte nicht schreiben sollen:


    Zitat

    ...dann gab es dort etliche Revolutionäre, die trotzdem „schön“ klangen und klingen.


    Was ich meinte ist:
    "...dann gab es dort etliche Rvolutionäre, die aus heutiger Sicht schön klingen."


    Und die Diskussion was "schön" ist und was nicht schön ist möchte ich auch nicht führen. Dem geneigten Leser dürfte über die Zeit nicht entgangen sein, was unser lieber Alfred, dem wir ja diesen Interessanten Thread zu verdanken haben, unter "schöner" Musik versteht.


    Und natürlich gibt es auch im 20 JH "schöne" Musik (vereinzelt :P).


    Darüber hinaus möchte ich mich noch dem wonnigen Laller und Masetto anschließen. Auch mich muss die Musik in aller erster Linie berühren. Und was ich schön finde, findet meine liebe Frau oft grässlich. Ist mir dann aber auch egal. :beatnik:


    Liebe Grüße aus Ulm
    Gallo

    ... da wurde mir wieder weit ums Herz ... (G. Mahler)

  • Salut,


    es ist, das weiß ein jeder, äußert schwierig, bei einem solchen Thema objektiv zu urteilen. Das liegt vor allem daran, dass es vermutlich [außer Alfred, natürlich!] keinen Menschen auf der Welt gibt, der sich jemals in einem Zustand reiner und absoluter Objektivität befindet. Leichtes Naselaufen wirkt auf die Beurteilung von [jetzt mal nur] Musik weitaus verheerender, als affenartige Halsschmerzen. Genauso ist ein Urteil in großer Freude durchaus ein wenig zu überschwänglich. Daher haben sich auch heute meine Ansichten zu Boccherinis Quintetten op. 11 wieder relativiert – hinzu kam, was auch normal ist, eine musikalische Übersättigung – Vernichtend für alle Musik!


    Nun, ich glaube, dass es nur eine Hand voll Werke aus dem 18. Jahrhundert gibt, die wirklich astrein konventionell sind. Konventionell bedeutet „die Regeln des Umgangs, des sozialen Verhaltens, die für die Gesellschaft als Verhaltensnorm“ gilt. Eine Regel als Norm ist bereits ein Widerspruch in sich, es gibt also mehr Ausnahmen, als Regelbefolgungen. Allerdings gab es einen Menschen, der Johann David Heinichen hieß, der lebte von 1683 bis 1729. Seine Worte galten in aller Regel. ;-) So meinte er zum Beispiel, dass in einem Opernwerk nicht eine einzige Melodie zu wiederholen sei [außer innerhalb einer Arie natürlich, vgl. da-capo-Arie]. Damit wurde Melodienvielfalt zur Pflicht – umso verständlicher ist die Aussage Josephs II. zu Mozarts ‚Entführung’ – bekannt. Joseph II. war ein Aufklärer, der gesellschaftlich, politisch und musikalisch [als quasi Medium] zu Neuem aufbrach. Heinichen legte auch dar, dass ein gebrochener Quintakkord ein Ausdruck der Entschlossenheit war, sowie Tonleitern Erregung anzeigten und gebrochene Intervalle für Spannung zu sorgen hatten. Eine Sinfonia [zur Oper] hatte dreiteilig zu sein: Dabei mussten die ersten beiden Teile [i.d.R. Schnell-Langsam] die Grundstimmung der ganzen Oper wiedergeben und der dritte Teil hatte das Publikum auf die Stimmung der ersten Szene vorzubereiten. Eine Opera Seria eröffnete mit einem Chor und endete rund zwei bis drei Stunden später mit einem Chor. Zwischendurch konnte sich der Chor die Zeit mit Knibbelbildchen vertreiben. Eine Opernsinfonia musste auch als „normale“ Sinfonie dienen können [ohne die lästige Oper als Anhängsel]. Somit waren fließende Übergänge vom 3. Teil der Sinfonia in den Eröffnungschor wenig gebräuchlich und nicht gerne gesehen [was ich persönlich sehr bedauere]. Für einen Mozart beispielsweise war das ziemlich wurscht, er komponierte alternative dritte Sätze und fertig war der Lack. Die Ouvertüre zu Joseph Martin Kraus’ Oper ‚Proserpin’ losgelöst vom Werk zu hören, ist unmöglich – da sie als Ausnahme direkt in den Eröffnungschor übergeht. Bei späteren Opernouvertüren zur ‚Entführung’ und zum ‚Don Giovanni’ musste Mozart auch eingreifen und einen separaten ‚Konzertschluss’ komponieren, weil das Volk die Ouvertüren in Akademien [ = Konzerten] hören wollte.


    Das Tongeschlecht ‚moll’ war gesellschaftlich nicht angesehen. Natürlich von ganz oben betrachtet - - - es suggerierte Aufruhr, und das wollte man nicht. Entsprechend findet man wenige Werke, die ausschließlich im Tongeschlecht moll stehen, in Opere Serie kaum eine einzige Arie. Man musste sich mit Heinichens Ausführungen behelfen und ein ‚Jerusalem ingrata’ im Oratorium durch Tonleitern – rauf und runter – darstellen: in Dur, natürlich.


    Konventionell bedeutet also hier, dass eine Werkgattung in der Regel allen Vorgaben entsprach, das Publikum wollte es offenbar so und fand sich darin sehr gut zurecht. So klingen dann auch viele dieser Werke einigermaßen ähnlich, der Ablauf ist fast immer der gleiche, nur das musikalische Material und – sofern dies möglich war - die Besetzung verändern sich. Vielfalt war gefragt und unter Beachtung aller Regeln wohl nachvollziehbar äußerst schwierig umzusetzen.


    Ganz konventionell – eigentlich wirklich klassisch ‚konservativ’ – hat beispielsweise Joseph Myslivecek gearbeitet. Seine Oper ‚Il Bellerofonte’ hält sich wirklich ausnahmslos an alle Regeln:


    Die Sinfonie ist dreiteilig: Allegro-Andante-Presto und als Sinfonie für den Konzertgebrauch verwendbar [gewesen]. Die erste Szene im ersten Akt ist ein Chor. Es folgen Rezitative und 6 Arien, der erste Akt endet mit einem Duett, was üblich / konventionell war. Der zweite Akt besteht aus 8 Arien und – natürlich – jede Menge Rezitativen, er endet mit einer Arie [so auch z.B. in Mozarts ‚Mithridate’: Vado, il contro]. Es hätte aber durchaus auch ein Terzett sein können, wenn der Stoff das hergegeben hätte. Der dritte Akt ist der kürzeste, hat auch nur drei Arien und als Höhepunkt endlich das ersehnte Terzett, bevor der nur sehr kurze Schlußchor einfällt.


    Die Oper erfüllt also alle Konventionen – dennoch ist sie ein Meisterwerk des nicht umsonst so genannten ‚Il Boemo divino’, der mit Melodienvielfalt nur so um sch wirft. Warum nur?


    Man wollte möglichst schnell möglichst viele „neue“ Opern haben – die Folge davon war [und ist], dass kaum eines dieser 40-80 Werke pro Komponist haften blieb, denn dies konnte letztlich nur der Bruch mit den Konventionen [Entführung, Idomeneo, Doktor und Apotheker usw.] erreichen.


    Bei der Kammermusik gab es nur bedingt ‚Regeln’ – diese wurden, wenn überhaupt, von den auftraggebenden Verlegern erfunden [oder sie waren zur Gewohnheit eines Komponisten geworden]. In der Regel waren die Regeln, dass das Werk für den Otto-Normal-Musikkonsumenten spielbar sein musste und [damit] gute Laune verbreitete [und somit volle Kassen – beim Verleger]. Beliebt waren insbesondere Variationssätze, begleitende Violine, gelegentlich verstärkendes Cello. Die heute so beliebten Kammermusiken von Haydn und insbesondere Mozart wurden in der Regel zum Privatgebrauch komponiert, z.B. musizierten Haydn, Mozart, Dittersdorf und Kozeluch [alternativ Boccherini] als Streichquartett in Wien – im Wohnzimmer bei Mozart ohne großes Publikum, ein paar Liebhaber vielleicht. Diese Werke sind sehr unkonventionell im Vergleich zu dem oben Geschilderten und veranlassten die Komponisten zu interessanten Experimenten. Für ein öffentliches Publikum war diese Musik nicht gedacht – daher gab es auch keine Konventionen in diesem Sinne; allerdings setzten sich nach und nach praktikable Dinge durch, was man wiederum als ‚Konvention’ betrachten kann. Das macht sie uns heute so beliebt, oder? Früher war das der reinste Müll – unbrauchbar, viel zu schwer…


    Cordialement
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Konventionen mögen dafür herhalten können, die Fülle von Musik zu kathalogisieren und zu ordnen, um Musik aber zu beurteilen, taugen sie - wie gesagt - in meinen Augen recht wenig.


    Da spielen Konventionen eher eine Rolle, um Gefühlen, die Musik hinterlässt Ausdruck zu verleihen - die Konvention als sprachliches Mittel zur Beschreibung von Gefühlen/Höreindrücken quasi. Insofern haben sie ihren Zweck als feste Größen um so etwas unausdrückbares wie Gefühle ausdrücken zu können, aber zur Beurteilung sind sie ungeeignet, eher zum Beschreiben.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

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  • Ganz vorsichtig möchte ich anmerken, daß in der Musik der Gegenwart weniger der C-Dur-Dreiklang als die absichtliche Erzeugung von Mißklängen (damit meine ich nicht Dissonanzen) das Konventionelle ist.

    ...

  • Hallo,
    es ist ja schon sehr viel kluges zu Alfreds schwieriger Frage geschrieben worden, auch nichts, was mich jetzt sofort zu einem Widerspruch reizen würde.


    Ich habe mir, um mal meine Einstellung zum Thema grob zu umreißen, einen Satz aus Johannes Posting herausgegriffen:


    Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Ob konventionell oder nicht, "ganz nett" ist für mich selten eine ausreichende Motivation, mich mit einem Musikstück intensiver zu befassen. Irgnedwas muß mich schon emotional, intellektuell oder sonstwie packen.


    Zunächst volle Zustimmung. Es ist das "intensive Befassen", um welches sich meine Gedanken drehen. Weil: Will ich das wirklich immer, wenn ich Musik höre? Für mich kann ich diese Frage eindeutig mit Nein beantworten. Und in der Phase, wo ich das nicht möchte, kann es dann nicht nett genug und darf es auch sehr gern ganz konventionell sein. Hier bin ich der Genußmensch, der nicht aus seiner Seelenruhe geschüttelt werden möchte. Möglicherweise mag bei der Musik, die ich dann vorzugsweise höre auch welche dabei sein, die für iihre Zeit höchst unkonventionell, wenn nicht gar revolutionär war. Davon merke ich aber (glücklicherweise) nichts mehr.


    Und dann gibt es natürlich auch Zeitpunkte, da möchte ich - wie Johannes schreibt - intellektuell und emotional gepackt werden, da höre ich auch Musik, die mit dem Anspruch kommt, die Welt verändern zu wollen. Das sind für mich aber zwei ziemlich verschiedene Paar Schuhe.


    Daß zur ersten Kategorie vorwiegend ältere Musik gehört, mag an Hörgewohnheiiten liegen. Ich werde aber auch den Verdacht nicht los, daß wir Heutiigen die Differenzierung zwischen Kunst und Kommerz, die uns für Produkte unserer Zeiit so leicht fällt, nicht ebenso leicht in die Vergangenheit übertragen können (oder wollen).

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

  • Danke für diese Erfrischung!
    Das lässt sich aber auch nicht so einfach in die Vergangenheit übertragen, da die Möglichkeiten heute ganz ander sind als früher. Heute ist vieles einfacher als früher. Heute kann einer, der überhaupt keine einzige Note kennt, einen "Hit" landen. Mit Grauen denke ich bspw. an Schni Schna Schnappi. Ein Hit war dies anhand der Verkaufszahlen erschreckenderweise schon. Ich weiss nicht, wie damals die Leute bei einer musikalischen Aufführung reagiert hätten, auf ein ganz kleines Kind, welches Schni Schna Schnappi gesungen hätte.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Zitat

    Original von Masetto
    Ich weiss nicht, wie damals die Leute bei einer musikalischen Aufführung reagiert hätten, auf ein ganz kleines Kind, welches Schni Schna Schnappi gesungen hätte.


    Begeistert!! :D:jubel:


    Mal ernsthaft: Warum machten "Konzertagenten" der Vergangenheit wissenlich falsche Angaben über das Alter der von ihnen "vermarkteten" Künstler?
    Das Phänomen ist alt, nur Methoden, Vokabular und Inhalte haben sich verändert.
    ok, off topic :stumm:

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

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  • Zitat

    Original von Ulli
    Salut,


    das ist interessant, bei Kraus Temperament zu finden. Vielleicht abgesehen von den Eröffnungs- und Finalsätzen der cis-moll- und daraus entstandenen c-moll-Sinfonie, vielleicht noch e-moll-Sinfonie ist bei Kraus eher kein Temperament, sondern äußerste Zurückhaltung und Bescheidenheit zu finden, oder?


    Hallo Ulli,


    zugegeben: genau an die mußte ich denken, als ich diese Zeilen schrieb. Genaugenommen an den Finalsatz der c-moll. :)
    Du hast natürlich recht.


    LG
    Wulf.

  • Schöner Ausdruck, der aber am Kern des Problems IMO vorbeigeht. Was Mahler mit der Symphonie macht ist ebenfalls eine erweiterte Struktur und keineswegs identisch mit der krampfhaften Klangerfindung etwa der Lachenmann-Jünger.

    ...

  • Zitat

    Original von Ulli
    ....Nun, ich glaube, dass es nur eine Hand voll Werke aus dem 18. Jahrhundert gibt, die wirklich astrein konventionell sind. Konventionell bedeutet „die Regeln des Umgangs, des sozialen Verhaltens, die für die Gesellschaft als Verhaltensnorm“ gilt. Eine Regel als Norm ist bereits ein Widerspruch in sich, es gibt also mehr Ausnahmen, als Regelbefolgungen. Allerdings gab es einen Menschen, der Johann David Heinichen hieß, der lebte von 1683 bis 1729. Seine Worte galten in aller Regel. [.....] Heinichen legte auch dar, dass ein gebrochener Quintakkord ein Ausdruck der Entschlossenheit war, sowie Tonleitern Erregung anzeigten und gebrochene Intervalle für Spannung zu sorgen hatten. Eine Sinfonia [zur Oper] hatte dreiteilig zu sein: Dabei mussten die ersten beiden Teile [i.d.R. Schnell-Langsam] die Grundstimmung der ganzen Oper wiedergeben und der dritte Teil hatte das Publikum auf die Stimmung der ersten Szene vorzubereiten. Eine Opera Seria eröffnete mit einem Chor und endete rund zwei bis drei Stunden später mit einem Chor....



    Wenn einer der Regelmacher ist, dann sind doch alle, die diesen Regeln folgen die Konventionellen, nicht aber der Regelmacher selbst.


    Und trotzdem (oder grade deswegen?) hat der Herr Heinichen umwerfend schöne Musik geschrieben. Die Opera seria war schon recht strengen Vorgaben bezüglich des Aufbaus unterworfen (ich kenne keine von ihm, nur das opernähnliche Oratorium La Pace di Kamberga). Die könnte man eventuell als konventionell bezeichnen, was aber ganz generell für die Zeit gilt (und weshalb mich diese Opern oft langweilen), für die Instrumentalmusik oder auch die Lamentationen und Psalmvertonungen von Heinichen gilt das aber ganz gewiß nicht.


    liebe Grüße,
    Thomas

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

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  • Salut,


    ich sehe das erst jetzt:


    Zitat

    Original von salisburgensis


    Wenn einer der Regelmacher ist, dann sind doch alle, die diesen Regeln folgen die Konventionellen, nicht aber der Regelmacher selbst.


    Heinichen hat die sicherlich die Regeln nicht gemacht, sich nur um deren Einhaltung eingesetzt.


    :D


    Zitat

    [...] was aber ganz generell für die Zeit gilt (und weshalb mich diese Opern oft langweilen), für die Instrumentalmusik oder auch die Lamentationen und Psalmvertonungen von Heinichen gilt das aber ganz gewiß nicht.


    Wie kommt es, dass Dich die Opern langweilen? Die Musik - die musikalischen Themen und deren Verarbeitung - ist idR dieselbe... Bei Sinfonien ist ähnliches der Fall: ital. Sinfonia-Stil: 3 Sätzig, Wiener klass. Sinfonie-Stil: idR 4-Sätzig. Der Aufbau ist im Prinzip auch immer derselbe - und trotzdem unterscheidet sich Mozarts Jupiter-Sinfonie von seiner "großen" g-moll-Sinfonie... oder Sinfonien zeitgenössischer Komponisten, die auch keineswegs langweilig sind.


    Ich glaube, die Menge an Konsum macht vieles aus: Wenn ich einen Tag lang ausschliesslich Sinfonien der gleichen Epoche höre - so unterschiedlich sie sein mögen - geht's mir auf die Nerven. Zur Abwechslung mal eine Oper, ein Oratorium, Lieder, Kammermusik...


    :hello:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)


  • Ich glaube daher nicht, dass Heinichen der Regelmacher ist, sondern er stellt die anerkannten Regeln nur explizit zusammen (häufig ein sicheres Kennzeichen dafür, das eine Form ihren Zenith überschritten hat...)


    Zumindest bei Händel gibt es durchaus Erweiterungen/Abweichungen zu dem oben skizzierten Schema; Ouverturen sind keinesfalls immer dreiteilig, sondern eher franz. Ouverturen gemischt mit anderen Elementen, oft folgt auch direkt noch ein Menuett o.ä. Mindestens Ariodante hat Ballettmusik. Arien haben unterschiedliche Formen, es gibt Fälle, wo jemand mit seiner Arie nicht "fertig wird", weil ein unvorhergesehenes Ereignis eintritt usw. Die besten Opere serie sind m.E. deutlich besser alls ihr Ruf und keineswegs endlose Abfolgen von Arien und Rezitativen.
    (Vermutlich gilt hier wie so oft quod licet Iovi...)


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl


    Ich glaube daher nicht, dass Heinichen der Regelmacher ist, sondern er stellt die anerkannten Regeln nur explizit zusammen


    Schrieb ich doch...


    :yes:


    LG
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)