Meine Aufnahme:
Orchestre de Chambre de Lausanne unter Antal Dorati
Jessye Norman (Armida), Norma Burrowes (Zelmira)
Claes H. Ahnsjö (Rinaldo), Samuel Ramey (Idreno), Robin Leggate (Ubaldo), Anthony R. Johnson (Clotarco)
Ich vergleiche die Besprechung von Ulrich Schreiber (Opernführer für Fortgeschrittene, Band 1) mit meinen Eindrücken.
Schreiber schreibt, die Oper entbehre des dramaturgischen Fadens:
- umständliche und psychologisch unscharfe Rezitative
- Rinaldo wird am Ende verkündet ("Moral von der Geschicht"), dass niemand seinem Schicksal entgehen könne, wobei aber leider nur Rinaldos Schicksal bekannt sei, das der anderen bleibe im Dunkeln.
Das kann ich nicht nachvollziehen. Ich finde die Rezitative relativ klar verständlich und ganz sicher nicht umständlich. Der sollte mal Verdi lesen. Die "psychologische Unschärfe" sollte an Beispielen erklärt werden. Mir sind die Beweggründe der einzelnen Personen relativ klar.
Die von Schreiber zitierte "Moral von der Geschicht" kann ich nirgends entdecken. Wovon redet er??? Dass in einer Oper das Schicksal der beteiligten Personen klar sein muss, ist mir neu. Wo ist denn diese Forderung erfüllt, außer wenn die betreffende Person zufälligerweise am Ende stirbt?
Der Inhalt dieser Oper ist doch wohl ganz klar der Zwiespalt bei Rinaldo zwischen Pflichterfüllung/Ehre/Ruhm und der Liebe zu einer Frau bzw. der Hingabe zur körperlichen Liebe allgemein (man kennt das auch von Tannhäuser), und das kommt in der Oper relativ klar rüber, wenn auch nicht so spannungsgeladen und formvollendet wie bei Mozart.
Im zweiten Abschnitt (von leider nur dreien) weist Schreiber auf einige Schönheiten hin. Die Aufzählung ist leider sehr unvollständig (man könnte auch sagen: lieblos). Warum wird z.B. das Schlussduett des ersten Aktes, bei dem selbst ein Laie wie ich 8 unterschiedliche Teile erkennt, nicht analysiert, nicht mal erwähnt? Wenn Schreiber fachlich Ahnung hat, dann erwartet man doch gerade solche Dinge von ihm. Pahlen macht das jedenfalls. Unverzeihlich ist auch, dass nirgends auf die vielen Haydn-typischen Lautmalereien hingewiesen wird (außer in Form von Kritik, das sei nicht "dramatisch"). Überhaupt ist der letzte Akt ein kleines Meisterwerk, fast komplett durchkomponiert. Das einzige Secco-Rezitativ (kurz vor dem Finale) könnte man sogar als dramaturgischen Effekt gelten lassen, da nach dem Höhepunkt (Fällen des Myrtenbaums) erst mal wieder Ruhe einkehren muss.
Im letzten Abschnitt kritisiert Schreiber nochmal dramaturgische Mängel:
(1) Idreno hat den Unterhändlern einen Hinterhalt gelegt. Zelmira kritisiert dies. Aber man erfährt nicht, wie die Sache ausgeht, d.h. die Christen kommen trotzdem unbeschadet ins Lager, man würde gern wissen, warum. Hat Zelmira sie tatsächlich gewarnt, wie vorher von ihr angekündigt? Das ist auch in meinen Augen eine kleine Schwäche.
(2) Man erfahre nichts über die "ideologische Zugehörigkeit" von Zelmira.
Zu (2): Lieber Herr Schreiber, Sie haben wohl noch keine Vorlesungen am Institut für Frauenforschung der Fachhochschule Kiel gehört, und ein VHS-Kurs "Frauen verstehen für Anfänger" ist unter Ihrer Würde. Daher ein kurzer Crashkurs von mir:
Für Frauen ist die "ideologische Zugehörigkeit" nicht nicht so wahnsinnig wichtig. Sie streben auch nicht so sehr nach militärischem oder sonstigem Ruhm. Manche, wie z.B. die besagte Zelmira, hängen gar an so altmodischen Tugenden wie Liebe und Mitleid. Zu deutsch: Sie findet es uncool, Leute hinterrücks zu ermorden, selbst wenn es Feinde sind. Mit Frauen kann man echt nicht vernüftig Krieg führen.
Die letzte Aussage (mit Anführungszeichen umschlossen, der Autor bleibt leider ungenannt) kann ich wiederum akzeptieren:
Haydn beschreibe mit seiner Musik die aktuelle Situation (ähnlich wie in seinen späten Oratorien), erzeuge aber keine dramatische Spannung.
Ich werde daher überprüfen müssen, inwiefern z.B. Gluck das besser macht. Nichtsdestotrotz werden zu meinen bisherigen Haydn-Opern ("Lo speziale", "Il mondo della luna", "L'incontro improvviso", "Armida") mindestens noch "Orlando paladino" und "Orfeo ed Euridice" kommen.
Mit der Aufnahme (siehe ganz oben) bin ich sehr zufrieden, nicht nur die beiden Hauptrollen (Jessye Norman, Claes H. Ahnsjö), sondern auch die restlichen Figuren werden sehr gut interpretiert.
Überhaupt würde ich mir wünschen, dass auch die Haydn-Opern hin und wieder auf dem Spielplan der Opernhäuser auftauchen. Dabei könnte man die Secco-Rezitative übersetzen, den Gesang aber auf Italienisch belassen. Außerdem sollte man die Zuschauer auf der Homepage des Theaters und im Booklet mit dem Stoff vertraut machen (hier: eine in Musik und Malerei (Bsp.: http://www.artchive.com/artchi…oussin/rinaldo_armida.jpg) vielfach interpretierte Episode aus Tassos "Gerusalemme liberata"). Gegen moderne Interpretationen wäre auch nichts einzuwenden: http://www.operapiccola.de/kritiken.htm
Thomas Deck