Schostakowitschs Zweite Symphonie "An den Oktober" entstand zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution. Das Werk ist einsätzig und mündet in einen Chor auf Worte von Alexander Bezimenskij (ein Pseudonym? - übersetzt würde der Nachname "der Namenlose" bedeuten; russische Dichter liebten es, sich Pseudonyme zuzulegen, siehe auch Gorkij - der Bittere). Bezimenskijs Verse preisen die Errungenschaften des Kommunismus nebst der Sowjetunion und ihren wundervollen Menschen.
Und welche Musik würde man zu einem solchen Anlaß und einem solchen Text erwarten?
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Was wir heute gemeinhin unter der Kultur der Sowjetunion verstehen, ist die von Stalin verordnete Primitivkultur, die ihre übelriechende Hochblüte in den Machwerken Tichon Chrennikows findet.
In der jungen Sowjetunion war die erwünschte Kultur jedoch primär antibürgerlich. Überlegung: Was den Bürger abstößt, muß zwangsläufig die Kultur des Antibürgerlichen sein.
Damit ist die Ästhetik der jungen Sowjetkunst sehr nahe dran an der mitteleuropäischen Avantgarde. Erst um 1935 verlieh Stalin der Sowjetkunst eine neue Richtung: Heroismus, Erbaulichkeit, Optimismus.
Mit Schostakowitschs Zweiter Symphonie sind wir aber erst im Jahr 1927 - und der 21-jährige Komponist begeistert sich für den Expressionismus und den Neoklassizismus. Es ist die Zeit, in der er auch die Oper "Die Nase" komponiert, und zwar in einem scharf dissonanten, praktisch atonalen Idiom.
Das ist auch die Sprache der Zweiten Symphonie: Das Werk ist ein Höhepunkt des sowjetischen Futurismus. Der Klang ist brutal dissonant, die Rhythmik exzessiv. Die Themen bestehen aus wenigen Tönen, die immer wieder den "tonalen" Zielton verfehlen. Auch das Chorfinale entbehrt des hymnischen Anstrichs. Eher ist es ein stilisiertes Abbild einer Menschenmenge, die die Vorteile des Kommunismus in wilder Begeisterung herausbrüllt. Nicht die musikalische Ordnung dominiert, sondern die Inszenierung einer chaotischen jubelnden, johlenden, kreischenden, durcheinander sprechenden Menschenmenge.
Schostakowitsch verleugnete später das Werk - ich bin aber der Überzeugung, daß das nichts mit dem Thema zu tun hatte (er hätte sonst auch das "Lied der Wälder" verleugnen müssen), sondern mit dem in der neuen Sowjetästhetik geradezu verbrecherischen ästhetischen Ansatz.
Schostakowitschs Zweite Symphonie ist das sehr wilde Werk eines sehr wilden jungen Mannes.
Viele Aufnahmen des Werkes gibt es naturgemäß nicht, es wird meistens
im Rahmen einer Symphonien-Gesamtaufnahme als unwillkommene Pflichtübung eingespielt (völlig indiskutabel: Haitink). Und wenn dann einmal ein Dirigent doch darüber hinaus etwas zum Werk sagen will, macht das Orchester nicht so recht mit und bleibt in der Bläserattacke einiges schuldig (Barschai, Kitaenko).
Wie immer, so ist auch hier Kyrill Kondraschin eine ausgezeichnete Wahl. Aber es geht in diesem Fall noch besser: Gennadij Roschdestwenskij hat für das Werk ein großes Faible. Und das merkt man seiner Einspielung mit dem Orchester des Kulturministeriums der UdSSR auch an: Exzessiv, aggressiv, mit ungeheurer fast gewalttätiger Energie aufgeladen, dokumentiert seine Einspielung den einzigartigen Feueratem des jungen Schostakowitsch.
Problem: Sowohl Kondraschin als auch Roschdestwenskij sind nur als extrem hochpreisige Gesamtausgaben über Internet-Versand zu bekommen.
(Ich empfehle dennoch jedem, der sich einen wirklich guten Schostakowitsch-Zyklus zulegen will, sich Kondraschin zu leisten oder, wenn man eher von den Werken richtiggehend niedergeprügelt werden will, Roschdestwenskij. Die derzeit erhältlichen West-Aufnahmen kommen da, meistens orchesterbedingt, einfach nicht mit.)
Dennoch gibt es auch eine verhältnismäßig erschwingliche Aufnahme, die sehr gut ist: Mariss Jansons dirigiert das Werk detailfreudig, aber man spürt doch die ungestüme Bewegung, den Sog, den diese Musik entwickelt. Eine exzellente Aufnahme, in das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks auch die nötige Schärfe beisteuert, wenngleich man merkt, dass diese Symphonie nicht zum Kernrepertoire des Orchesters gehört.