Wir haben Zeit !?

  • Hallo Taminos,


    wir sind nicht auf mundgerechte 3minuten Häppchen, wie wir sie aus der Popmusik kennen, angewiesen. Wir haben Zeit!


    Ist das so?


    Ich habe heute vor meiner Fahrt auf den Hechselplatz zwei Adventskränze abgetakelt, sprich die Strohringe vom verdorrten Reisig befreit. Kann man ja wieder verwenden – diese Strohringe. Gut 20 Minunten habe ich vermutlich damit verbracht, den Draht abzuwickeln. Als ich da so stand und wickelte, da dachte ich daran, wie viel ich wohl in meinem Job in diesen 20 Minuten verdient hätte. Ich habe darauf verzichtet, dies genau auszurechnen, kam aber sehr schnell darauf, dass ich mir vom Verdienst wohl etliche dieser Strohringe leisten hätte könnte. Aber soll ich sie deswegen zusammen mit den Kränzen entsorgen und nächstes Jahr neue kaufen? Wirtschaftlich gesehen wäre dass vermutlich vernünftig gewesen, aber…


    …ich kam ins grübeln. Ich begann über Zeit nachzudenken. Ich nehme mir zwanzig Minuten um zwei Adventskränze abzutakeln. Ja. Und letztendlich fühle ich mich gut dabei. Denn ich stehe dabei in der Sonne und nehme Abstand von eben diesem Job, mit dem ich mir eine Vielzahl dieser Strohkränze verdienen hätte können. Gleichzeitig wirke ich unserer Wegwerfgesellschaft entgegen.


    Und wie ich da so stehe und die Adventskränze abtakle, kommt mir die Idee zu diesem Thread. Ich stelle fest, die Menschen nehmen sich immer weniger Zeit. Alles muss schnell gehen. Da passt die klassische Musik mit ihren „Überlängen“ so gleich gar nicht hinein. Oder doch? Für mich stellt sie einen herrlichen Ausgleich dar. Einen Gegenpol den ich mehr als schätze. Für die Klassik muss man sich einfach Zeit nehmen. Das ist nur selten was zum nebenher hören.


    Leider habe ich selbst immer noch viel zu selten Zeit mich wirklich zurückzulehnen um mich ausschließlich der Musik hinzugeben. Meistens lese ich dann doch irgendwas oder schreibe einen Beitrag im Tamino-Forum. Wie ist das bei Euch. Wie viel Zeit nehmt ihr Euch. Wie, wann und wie oft genießt ihr all die Wunderwerke der Musikgeschichte?


    Liebe Grüße aus Ulm
    Euer Gallo

    ... da wurde mir wieder weit ums Herz ... (G. Mahler)

  • Hallo Gallo,


    das ist ein sehr schönes Thema - oft habe ich diese Gedanken: 'Zeit verschwenden'... was ist das? Wenn ich an der Einkaufsschlange stehe, 'verschwende' ich die Zeit, die ich mit anderen lieben Menschen oder allein mit der Musik verbringen könnte. Oder ein Stau! Diese Zeitdiebe! Sie nehmen mir meine kostbare Zeit, ohne dass ich dies verhindern könnte! Und ich sehe das [noch immer] als einen persönlichen Angriff und als Einschränkung meiner Entfaltungsfreiheit. Wenn jemand irgendwo Parken möchte, soll er das woanders tun, die Welt ist groß genug! - und meine Zeit ist ganz sicher begrenzt!


    Wenn ich Musik höre, ist mir die Zeit sowas von total egal - eine Oper [im Regelfall] dauert mehrere Stunden, die Zeit ist einfach weg, ich versinke in einer anderen Welt und da holt mich auch niemand heraus.


    Zeit hat jeder Mensch [relativ zum fiktiven Lebensalter] gleich viel. Man muss [muss man das?] sie nur 'richtig' einteilen. Und: Es kommt immer neue Zeit nach... Ich lasse mich da einfach verleiten und verführen. Das ging natürlich auch nicht immer so. Im Arbeitsstress [der mir jetzt wirklich nicht fehlt!] war nicht einmal Zeit, sich um die Zeit Gedanken zu machen. Zeit ist Geld - aber Geld ist auch Zeit :D Und ohne Geld ist die Zeit am meisten.


    Liebe Grüße
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Sagitt meint:


    Wir haben ja nicht nur Klassikradio- Klassikhäppchen pur. Sondern auch classica- immer mehr Klassikhäppchen, eben zum Sehen.


    Aber auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk,zB N 3 spielt meist Häppchen, die natürlich eine bestimmte Länge nicht überschreiten dürfen,also nie Bruckner, seltenst Brahms, aber immer wieder Vivaldi, so 3.30, ideal.
    Natürlich gibt es auch noch Längeres, aber die kurze Formate stehen im Vordergrund. Keine Zeit !

  • Hallo Ulli,
    seit ich auch im Auto Klassik höre, freue ich mich manchmal sogar über einen Stau. :D Wenn ich z.B. auf dem Weg zum Kunde in einen Stau gerate, dann ertappe ich mich manchmal dabei, wie ich in mich hineinlache und denke: "Mensch, jetzt zahlen die Dich dafür, dass Du hier im Auto sitzt und dieser herrlichen Musik lauschen darfst."


    Die Frage ist, ob man sich Zeit wirklich immer einteilen muss. Ich könnte behaupten, solange Du Dir Deine Zeit noch einteilen musst, läuft etwas schief. Ich denke der Schlüßel zum absoluten Glück ist, wenn Du Dein Leben so im Griff hast, dass Du Dir die Zeit nicht mehr einteilen musst, sondern die, die Dir zur Verfügung steht einfach genießt. - Leider können die wenigsten davon leben - so auch ich. :(


    Henry Ford hat sinngemäß einmal gesagt: "Geld ist nur solange wichtig, solange Du keines hast" - für die Zeit gilt sicherlich ähnliches und ich möchte nicht wissen, wievliele Menschen mehr davon haben, wie ihnen lieb ist.


    Die Musik hilft mir (zwischenzeitlich) bei alledem. Entweder vergesse ich die Zeit oder die vermeintliche Zeitverschwendung (z.B. Stau) wird zum Hochgenuss.


    Liebe Grüße
    Gallo

    ... da wurde mir wieder weit ums Herz ... (G. Mahler)

  • Salve Gallo,


    Zitat

    Original von GalloNero


    seit ich auch im Auto Klassik höre, freue ich mich manchmal sogar über einen Stau. :D Wenn ich z.B. auf dem Weg zum Kunde in einen Stau gerate, dann ertappe ich mich manchmal dabei, wie ich in mich hineinlache und denke: "Mensch, jetzt zahlen die Dich dafür, dass Du hier im Auto sitzt und dieser herrlichen Musik lauschen darfst."


    Tja, das funktioniert eben nur, wenn man angestellt ist und die Zeit tatsächlich bezahlt bekommt.


    Zitat

    Die Frage ist, ob man sich Zeit wirklich immer einteilen muss. Ich könnte behaupten, solange Du Dir Deine Zeit noch einteilen musst, läuft etwas schief.


    Ganz meine Meinung.


    Zitat

    Ich denke der Schlüßel zum absoluten Glück ist, wenn Du Dein Leben so im Griff hast, dass Du Dir die Zeit nicht mehr einteilen musst, sondern die, die Dir zur Verfügung steht einfach genießt. - Leider können die wenigsten davon leben - so auch ich. :(


    Es geht schon - indem man sich für alles einfach 'Zeit nimmt'. Klingt einfach, ist es auch.


    Zitat

    Henry Ford hat sinngemäß einmal gesagt: "Geld ist nur solange wicht, solange Du keines hast" -


    Da kann ich aus Erfahrung das Gegenteil behaupten. Es gibt genügend geldgeile Unternehmer, denen nichts wichtiger ist als die Kohle!


    Aber der Musik ist die Zeit [wie lange sie dauert und wann sie entstanden ist] völlig egal und das macht sie so furchtbar interessant und wichtig!


    Liebe Grüße
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

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  • Momentan gehts mir mit meiner Zeit sehr gut:


    Am Morgen 1 Stunde im Auto zur Arbeit : WDR3 Mosaik und eventuell Klassikforum...es ist für mich mittlerweile spannend, Musik zu hören und zu versuchen, eine Zuordnung zu treffen. Gestern Trefferquote 75 % ( 3 von 4 den richtigen Komponisten erwischt !! Yippie!!!)


    Tagsüber darf ich als programmierender Informatiker permanent meine
    (legal) gerippten CDs über Kopfhörer geniessen. Macht in Summe ca. 8 Std. KAA ( Klassik am Arbeitsplatz ) ...täglich :D
    (Mittlerweile machen mir auch Überstunden wieder Spaß... )



    Und abends gehts wieder eine Stunde nach Hause mit WDR 3 Resonanzen( allerdings dann in der Hauptsache Jazz-Musik, ist aber auch nicht schlimm....macht den Kopf frei für den nächsten Tag .... :D )


    Auf der Autobahn habe ich mittlerweile Zeit....

    Musik ist die Sprache der Seele. Und der wird man nie müde.(Hille)

  • Zeit zu haben ist aber auch ein Privileg. In der mir zu Verfügung stehende Zeit kann ich mich als Gestalter dieser Zeit erleben und etwas Gestaltbares tun. Hierbei erlebe ich dann oft ein Sich-Dehnen der Zeit, hier kann die Zeit, die subjektiv erlebte Zeit auch stehenbleiben, hier vergesse ich die " objektive " Zeit, die Minuten oder auch Stunden. Zeit zu haben hat also etwas damit zu tun, in wieweit ich bei mir bin und mich als ein " Zeit - Gestalter " erlebe.
    Insofern kann Musik-Hören die subjektiv zur Verfügung gestellte Zeit ausfüllen und die Zeit wird hier mit etwas Immateriellem gefüllt und erfüllt, das tut gut. Und etwas das einem gut tut, hat positive Effekte auf mein Innenleben, sie lässt mich auch vergessen, dass Zeit auf der anderen Ebene eine endliche ist. Im Gegensatz zur verlorenen Zeit steht somit die erfüllte Zeit. Irgendwo spricht man dann auch von einer Fülle der Zeit.. Sie macht einen reicher und ich würde glauben auch gleichzeitig in sich ruhender. Denn die erfahrene Ruhe in der gedehnten Zeit hat auch etwas Kontemplatives an sich.

  • Moin,


    wenn man so dasitzt und Musik hört, hört man zwangsläufig auch der Zeit zu; man hört sie nur in diesem Fall nicht wie bei einer Uhr ticken, sondern sie tönt. Mir hat das eine Zeitlang fast schon die Lust am Musikhören verleidet, ich dachte, dass ich mit meiner Zeit doch etwas Spannenderes, Aktiveres anfangen könnte.


    Das ist mittlerweile anders. Jede Sache muss nur ihre Zeit haben. Also, man sollte sch im Klaren darüber sein, was man will, und sich die Zeit dafür einräumen. Wichtig ist für mein Empfinden nur, dass man bewusst seine Zeit verbringt. Im Stau stehen kann durchaus ein Gewinn sein - wenn man nicht nur bedauert, dass man nicht vorankommt, man kann ja (dem Handy sei Dank) allerorten telefonieren oder eben Musik hören.


    Gruß, l.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • Hallo Gallo,


    im Prinzip geht es mir wie dir: meistens lese ich nebenbei. Derzeit weitaus mehr in Büchern als im Forum.
    Das konzentrierte und ausschließliche Musikhören kommt bei mehr eher selten vor - oftmals aber, um ein Werk sehr genau kennen zu lernen. Dazu zähle ich auch, wenn ich mir die Partitur zur Hand nehme, wie zuletzt bei Mozarts Don Giovanni.



    Aber haben wir tatsächlich mehr Zeit?
    Ich denke nein, wir verbringen sie einfach anders!


    Zwei Dinge:


    1) Ich bin Schüler und da ich an sich fertig mit dem ABI bin, ist mein Schulleben total entspannend.
    Nachmittags ist noch viel mehr Zeit als sonst.
    Doch als ich in den Ferien arbeiten ging war dem nicht so. Morgens raus, 10Stunden später erst wieder daheim. Abends ging es dann auch fast immer weg. Es blieb trotzdem noch ein bisschen Zeit für die Musik.


    2) Was hätte ich gemacht, wenn ich nicht klassische Musik höre!?
    Ferngesehen oder sinnloses im Netz...wie zu der Zeit, als ich eben noch keine klassische Musik gehört habe.
    Man kriegt die Zeit zur Not schon totgeschlagen. Früher hab ich enorm viel vorm Fernseher gehangen. Mittlerweile beschweren sich meine Eltern aber darüber, dass ich nur noch im Zimmer sitze und Musik höre.


    Die Sache ist also eigentlich nur: Was mache ich mit der mir gegeben Zeit? Das lässt sich auf viele bereiche beziehen. Was mache ich mit Dingen, die mir zur Verfügung gestellt wurden. Nutze ich sie 'sinnvoll' (aus unserer Sicht ist klassische Musik sinnvoll, aber fragt mal woanders...) oder schlage ich sie letztlich nur tot.



    Wenn ich zu meiner Oma fahre (normalerweise einmal in der Woche), dann freue ich mich, wenn es mal ne Minute länger dauert, denn so schaffe ich auch mal bei Hin- und Rücktour ein 35-40min Werk.
    Da lasse ich mir gerne auch mal Zeit und fahre nach Vorschrift, wie man es in der Fahrschule beigebracht bekam :wacky:


    Lieben Gruß, Maik

    Wie ein Rubin auf einem Goldring leuchtet, so ziert die Musik das Festmahl.


    Sirach 32, 7

  • Lieber Gallo Nero, hallo liebe ForianerInnen,


    Wieder ist Adventszeit. Ein und ein halbes Jahr ist vorübergeweht, seit Du damals die alten Adventskränze abgetakelt und Dich gefragt hast, welchen Sinn dieses zeitintensive Tun denn eigentlich hat.


    Wie viel Musikzeit hast Du seither er-lebt?
    10 Stunden, 100 Stunden, 1000 Stunden...?


    Wie auch immer: Musik ist hörbares Altern! Oder etwa nicht?...Schrecklich! Wunderbar!

    Durch das Anhören von Karl Ignaz Weigls (1881-1949) fünfter Sinfonie, der ich gegenwärtig verfallen bin, werde ich jedesmal 49 Minuten und 03 Sekunden älter...bin ich jedesmal 49 Minuten und 03 Sekunden näher am Tod.
    Ich habe mir Weigls „Apocalyptica“ in den vergangenen Tagen mindestens 10 Mal angehört: Ich bin also unter „weiglscher“ Beschallung 8 Stunden, 10 Minuten und 30 Sekunden älter gewodern.


    Bei welcher Tätigkeit sonst, als eben beim Musikhören, bin ich so bewusst bei meinem Lebensprozess dabei, „höre“ ich mein eigenes Altern, bin hörender Teilhaber am Absterben meiner Körperzellen...


    Es ist manchmal zum Verzweifeln: Es gibt so viel Musik, die ich noch nicht kenne, und die ich gerne so „schnell“ wie möglich kennenlernen möchte: Sinfonien von Felix Draeseke, Richard Wetz, Howard Hanson, Nicolaij Miaskowskij, Mieczyslaw Weinberg, Granville Bantock..., aber das braucht ZEIT, geht nicht schneller als die ZEIT, meine Lebens-ZEIT, unmöglich das "Lebenstonband" schneller zu stellen, um mir die noch unbekannte Musik schneller anzueignen.

    Durch eine Kunstgalerie kann ich durchaus beschleunigten Schrittes hindurcheilen und die Betrachtung der einzelnen Bilder auf 10, oder 5 oder 2 Sekunden beschränken..., das ist bei der Musik unmöglich:


    Die Musik erlaubt keine Abkürzung!


    (Die Aufnahme von Weigls Fünfter dauert bei Thomas Sanderling und dem RSO Berlin 49 Minuten und 03 Sekunden, nicht mehr und nicht weniger. Dass sie in 2 Aufnahmesessionen entstand, im Februar 2000 und Juli 2001 (sic!), macht die Sache noch viel komplizierter: Welche Zeit höre ich eigentlich, beim Hören von Tonkonserven...)


    Musik und Zeit: eine Symbiose (ein staunenswerter Gemeinplatz!)


    Adventszeitliche Grüsse von
    Walter

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  • Während man Musik hört, dann macht man im Prinzip nichts fürs Leben produktives. Verschwendet man daher während dem Musikhören seine Lebenszeit ? Naja, zum Glück kommts ja nicht immer auf die nackte Produktivität an...Der Hausputz kann warten :P

  • Lieber Walter,


    es ist schon komisch, dass Du gerade jetzt diesen Thread herauskramst. Der eine oder andere mag bemerkt haben, dass ich zur Zeit sehr wenig Zeit für das Forum aufbringen konnte.


    Konnte?
    Wollte?
    Hätte ich sie mir nehmen können?
    Was wäre gewesen wenn?


    Es geht einem leicht über die Lippen. Ein "Ich bin beruflich der Zeit so unter Damp, dass überhaupt keine Zeit mehr für Musik und Forum bleibt?"


    Zeit haben ist relativ. Ist auch eine Frage der Priorisierung. Was ist mir wichtig? Job? Familie? Musik? Ich selber? Tamino? Die Menschen hinter Tamino? Alle? Bestimmte? Muss ich arbeiten? Will ich arbeiten? Brauche ich Geld, oder ist es die Gier die mich Treibt?


    Louis spricht von Produktivität. Schnell ist man versucht Produktivität mit Sinnhaftigkeit gleichzustellen. Ich komme aus einem (Bundesland) in dem "Schaffe, schaffe heissle baue" mehr ist wie ein Spruch. Da fällt es sehr schwer sich von oben erwähnter Formel zu lösen. Ich für mich ist Musikhören das Gegenteil von Zeitverschwendung. Oscar Wilde hat neben vielen anderen schlauen Dingen einmal gesagt: "Der Kultiverte bedauert nie einen Genuß.Der Unkultivierte weiß überhaupt nicht, was ein Genuß ist."


    Für mich ist Genuß das Ziel. Und wenn ich den Genuß mit anderen Teilen kann, dann macht das für mich hochgradig sinn. Ist Freude nicht das eigentlich erstrebenswerte im Leben. Der eine hat Freude an einem ordentlichen Vorgarten oder einer Stilvoll eingerichteten Wohnung, der andere Immateriellem, wie der Musik, der Liebe oder der Natur.


    Und, lieber Walter, ich bin davon überzeugt, dass das Baumeln lassen der Seele, die Hingebung das Nachgeben einer Versuchen, das Leben eher verlängert, denn es zu verkürzen.

    ... da wurde mir wieder weit ums Herz ... (G. Mahler)

  • Gibt es eine bessere Gelegenheit, auf Hugo von Hofmannsthal zu verweisen?


    Die Zeit, sie ist ein sonderbar' Ding.
    Wenn man sie anschaut,
    ist sie rein gar nichts.
    Aber dann auf einmal...


    Die Zeit ist das gerechteste Element überhaupt, denn solange wir sie haben, verfügen alle über die gleiche. Das Problem ist also nicht die unveränderliche Zeit, sondern ihre Wahrnehmung und Ausfüllung. Nicht von ungefähr wird man sich dessen mit zunehmendem Alter bewusster und versucht mehr oder weniger erfolgreich, sie sich nicht von anderen stehlen zu lassen - wohl wissend, dass man selbst Anderen auch solch ein Anderer ist.


    Tamino ist, nein, wäre solch ein massiver Zeiträuber, wollte man es nicht nutzen um aus der ihm gewidmeten Zeit Gewinn zu schlagen, sei es in Form von Informationen oder zur Gewinnung von Aufmerksamkeit. Schlimm wird es erst, wenn man z. B. nur noch Musik hört um darüber berichten zu können. Insofern bin ich heilfroh, dass es Tamino in meiner Jugend noch nicht gab. :D


    Was man vermeiden sollte: bereuen, wie man die Zeit verbracht hat. Man kann sie ohnehin nicht zurück holen, und wer weiß, wozu es gut war? Sogar passives Unterhaltungsfernsehen oder Computerspielen glotzen kann der Rekreation müder Zellen dienen, wenn es nicht überhand nimmt. Das gilt auch für Tamino. Jemand kann durch einen Beitrag ins Nachdenken, sogar Nachforschen und vielleicht auch für eine Minute zum Lachen gekommen sein oder sich auch nur bestätigt oder zum Widerspruch gereizt fühlen, was auch eine kreative Tätigkeit ist.


    Jede Tätigkeit, die das Leben eines anderen bereichert, verbessert auch das eigene und ist deshalb gut verbrachte Zeit.


    Nur schade, dass man soviel davon mit Dingen verbringen muss, die unvermeidlich sind, wie Geld verdienen, Schlafen, im Stau stehen, an der Bürokratie verzweifeln, wenigstens ein Minimum an Ordnung und Sauberkeit aufrecht erhalten...


    Andererseits: was würden die meisten Menschen machen, wenn sie nicht wenigstens das hätten?


    Womit wir wieder bei uns selbst und dabei sind, was wir mit diesem gerechtesten aller Geschenke anfangen. Verbringen wir nicht zu viel Zeit damit, darüber nachzudenken und halten wir es mit Erich Kästner:


    Es gibt nicht Gutes,
    Außer man tut es.


    Einen frohen Adventssonntag wünscht


    :hello: Rideamus


    dem gerade auffällt, dass daraus auch ein Adventstürchen hätte werden können. Jetzt brauche ich also wieder Zeit für ein neues. :D

  • Hallo zusammen,


    zu dem Thema fällt mir ein Spruch ein, den ich vor nicht allzu langer Zeit hörte:


    „Der größte Feind des Menschen? – Die Zeit, deswegen wird sie auch so oft totgeschlagen.“


    Zeit zu haben bedeutet für mich auch, auch scheinbar unnütz zuzubringende Zeit für mich sinnvoll zu nutzen.


    Zitat

    Original von Rideamus
    Nur schade, dass man soviel davon mit Dingen verbringen muss, die unvermeidlich sind, wie Geld verdienen, Schlafen, im Stau stehen, an der Bürokratie verzweifeln, wenigstens ein Minimum an Ordnung und Sauberkeit aufrecht erhalten...


    Wer sagt denn, das ich mich darüber ärgern muss – was ich gerade nur „notwendiges“ tue. Über den Stau kann ich mich ärgern – oder mich einfach über die Musik freuen, die ich dabei gerade hören kann. Aufräumen und Putzen – wunderbar, entweder um mal in Ruhe über etwas nachzudenken (ich räume also sowohl innerlich als auch äußerlich auf) oder aber auch wieder, um dabei schöne Musik oder ein Hörbuch zu genießen.


    Ein Zitat aus der MOMO von Michael Ende geht mir seit Kinderzeiten nicht aus dem Kopf:
    „ Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen. Und je mehr die Menschen daran sparen, desto weniger haben sie davon.“


    Eine Antwort, die ich gerne gebe, wenn ich gefragt werde, ob ich für jemanden oder etwas Zeit habe: „Ich nehme sie mir“.


    In diesem Sinne einen schönen zweiten Advent


    LG, Elisabeth

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  • Ich habe mir so gewünscht, nach einem Leben voller Arbeit, dann Zeit zu haben.
    Aber ... ich muß sie mir abknapsen,wie früher.
    Immer kommt etwas, was wichtiger ist, als das, was ich machen wollte, jetzt der süße Enkel, der Anspruch auf meine ganze Aufmerksamkeit und Zeit hat.
    Richtig Zeit habe ich eigentlich nur beim Arzt, wenn ich warten muß, dann schmökere ich in einem meiner Beethoven-Bücher, der Geräuschpegel würde Musik vom iPod nicht zum Genuß werden lassen.
    Und so ist das Musikhören beschränkt auf das Auto ( fahre deswegen schön langsam) und wenn ich ins Bett gehe, Kopfhörer auf, dunkel, hören.


    Und wenn es mir dann passiert, daß plötzlich Zeit da ist ... dann muß ich wirklich überlegen, was ich dann tue, was noch gemacht oder erledigt werden muß.
    Irgendwie ist man doch eine "ärm Sau", wie man hier sagt. Irgendetwas macht man falsch.
    Und in meinem Alter fängt man dann doch noch an zu rechnen - wie viele Jahre.....
    Die Zeitfrage ist zur Zeit für mich eine unbefriedigende Geschichte, eine selbst eingerührte Geschichte, bin selbst schuld. ?(


    Lieben Gruß aus Bonn :no:

    Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem andern zu

  • Lieber GalloNero, lieber Audiamus, liebe Elisabeth, liebe Stabia,


    Eigentlich wollte ich mit meinem Beitrag nicht unbedingt einstimmen ins allgemeine Klagelied vom Keine-Zeit-Haben.


    Ich bedaure keine Sekunde, die ich „verlebt“ habe, insbesondere nicht, wenn ich sie musikalisch erlebt habe.


    Ich wollte einfach auf den lapidaren Umstand hinweisen, dass aufmerksames Musikhören die GANZE Zeit braucht.


    Natürlich kann man/frau zu den Klängen der Jupitersinfonie aus dem Lautsprecher auch abwaschen, putzen, Zeitung lesen oder was auch immer.


    Nur hören wir dann eigentlich keine Mozartsinfonie mehr, sondern eine „Ajaxart“- Sinfonie, eine „Meister-Properart“- Sinfonie, eine „Spiegelart“- Sinfonie...


    Man kann zwar schneller putzen, schneller abwaschen, schneller Lesen, aber man kann nicht schneller Musikhören (oder man begnügt sich mit dem JPC-Geschnipsel).


    Musik will die GANZE Zeit! Musik ist hörbare Zeit. Zeit ist unhörbare Musik.
    (Ich bin mir bewusst, dass das gemeinplätzige Floskeln sind, und dennoch finde ich etwas Bedenkenswertes daran.)


    Ich wünsche einen bedächtigen 2. Advent und grüsse alle aus dem verregneten Bern,
    Walter

  • Lieber Walter (ich nehme an, Du hast mich angesprochen, als Du meinen "Cousin" audiamus nanntest)


    Ich sehe eigentlich keinen Widerspruch in dem, was wir alle sagen, Stabia vielleicht ausgenommen.


    Zeit will genutzt sein, und die Zeit für die Musik - nun außerhalb des Konzertes oder der Oper hat sie halt den "Nachteil", dass sie nur einen der Sinne besonders beansprucht. Klar, Musik "nebenbei" funktioniert eher nach dem Prinzip des Nürnberger Trichters, aber das ist nicht zwangsläufig etwas Schlechtes. Solange man nicht nur nebenbei hört, sondern auch mal seine ganze Aufmerksamkeit auf ein Stück richtet - und wer, der Musik liebt, tut das nicht -, ist sie keine Frage des Vergehens der Zeit, sondern von deren Bereicherung. Zum Glück schließt das eine das andere nicht aus.


    :hello: Rideamus

  • Lieber Walter,


    Zitat


    Eigentlich wollte ich mit meinem Beitrag nicht unbedingt einstimmen ins allgemeine Klagelied vom Keine-Zeit-Haben.


    So hatte ich Deinen Beitrag auch nicht verstanden.


    Zitat

    Ich wollte einfach auf den lapidaren Umstand hinweisen, dass aufmerksames Musikhören die GANZE Zeit braucht.
    Natürlich kann man/frau zu den Klängen der Jupitersinfonie aus dem Lautsprecher auch abwaschen, putzen, Zeitung lesen oder was auch immer.
    Nur hören wir dann eigentlich keine Mozartsinfonie mehr, sondern eine „Ajaxart“- Sinfonie, eine „Meister-Properart“- Sinfonie, eine „Spiegelart“- Sinfonie...


    Ja und nein – für mich gibt es viele Werke, die – gerade wenn ich sie mir neu erschließen will – wirklich meine ungeteilte Aufmerksamkeit brauchen. Aber es gibt auch vieles, was über die Jahre fast den Weg ins Unterbewusstsein gefunden hat und nun einfach Freude macht, auch wenn ich nicht mit 100%er Aufmerksamkeit zuhöre.


    Deine Argumentation erinnert mich ein weinig an die Geschichte eines kleinen Mönches, dessen Beichtvater entsetzt darüber ist, dass er beim Beten Rauchen wolle – nein, das gehe auf keinen Fall. Aber beim Rauchen Beten? – Selbstverständlich! ;)


    Für mich persönlich bedeutet das Hören von Musik bei anderen Tätigkeiten keinesfalls, dass ich der Musik deswegen weniger Bedeutung beimesse. Sondern ich leiste mir den Luxus, mich auch bei anderen Tätigkeiten an der Musik zu erfreuen!


    LG, Elisabeth

  • Zitat

    Original von Walter Heggendorn
    Musik will die GANZE Zeit! Musik ist hörbare Zeit. Zeit ist unhörbare Musik.


    Lieber Walter,


    insbesondere den letzten Teil dieses Zitats moechte ich mal deutlich unterstreichen. Als aktive Musikerin fehlt mir naemlich manchmal etwas ganz Wichtiges: Stille.
    Diese Zeit brauche ich viel mehr, und sie laedt ach meine Akus (um mal den abgedroschenen Vergleich zu bemuehen) viel mehr auf als ALLE (hoerbare) Musik, und mag ich letztere noch so lieben.


    Musik habe ich genug in meinem Leben, manche kann ich nur "aktiv" hoeren (also ohne etwas anderes dabei zu tun), bei anderer geht das auch passiv - "berieseln lassen" nennt man das wohl, dabei kann ich auch putzen ;)


    Leider geht gerade Stille in der heutigen Zeit immer mehr verloren, daher halte ich es mittlerweile so, dass ich ausserhalb des selber aktiv Musizieren nur noch zu bestimmten Zeiten Musik hoere und mir lieber mal die Zeit nehme, im wahrsten Sinne des Wortes ABZUSCHALTEN ...

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  • Hallo Gallo, ich habe derzeit dasselbe Problem bzw. stelle mir die selben Fragen.
    Zeit wird bei mir zur immer knapperen Ressource.
    Eine Antwort habe ich aber noch nicht gefunden.
    Zumindest merke ich u.a., daß ich weniger Musik höre, als ich eigentlich möchte...
    Mal sehen, wie sich das entwickelt...


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Alban Berg


    WOYZECK

    von Georg Büchner


    Ort der Handlung: Eine deutsche Stadt mit Militär und Universität um 1820


    ERSTER AKT


    ERSTE SZENE
    (Zimmer des Hauptmanns. Frühmorgens.
    Hauptmann auf einem Stuhl vor einem Spiegel.
    Wozzeck rasiert den Hauptmann.)


    HAUPTMANN
    Langsam, Wozzeck, langsam! Eins nach dem Andern!
    (unwillig)
    Er macht mir ganz schwindlich.
    (bedeckt Stirn und Augen mit der Hand.
    Wozzeck unterbricht seine Arbeit. Hauptmann wieder beruhigt)
    Was soll ich denn mit den zehn Minuten anfangen,
    die Er heut' zu früh fertig wird?

    (energischer)
    Wozzeck, bedenk' Er, Er hat noch seine schönen dreissig Jahr' zu leben!
    Dreissig Jahre: macht dreihundert und sechzig Monate
    und erst wieviel Tage, Stunden, Minuten!
    Was will Er denn mit der ungeheuren Zeit all' anfangen?

    (wieder streng)
    Teil' Er sich ein, Wozzeck!


    WOZZECK
    Jawohl, Herr Hauptmann!


    HAUPTMANN
    (geheimnisvoll)
    Es wird mir ganz angst um die Weit, wenn ich an die Ewigkeit denk'.
    Ewig´, das ist ewig! Das sieht Er ein. Nun ist es aber wieder nicht ewig,
    sondern ein Augenblick, ja, ein Augenblick! - Wozzeck, es schaudert mich,
    wenn ich denke, dass sich die Welt in einem Tag herumdreht:
    drum kann ich auch kein Mühlrad mehr sehn, oder ich werde melancholisch!


    WOZZECK
    Jawohl, Herr Hauptmann!


    HAUPTMANN
    Wozzeck, Er sieht immer so verhetzt aus! Ein guter Mensch tut das nicht.
    Ein guter Mensch, der sein gutes Gewissen hat, tut alles langsam ...


    ;)

  • @ Rideamus (natürlich),
    Bitte entschuldige die Namensvelwechsrung.


    Elisabeth: Das Rauchen-Beten Bonmot ist köstlich. Danke!


    Ich hüte mich, jemanden fundamentalistisch zu belehren, nach dem Motto: Du bist kein wahrer Musikfreund, wenn du noch andere Göttinnen daneben hast...
    Ich persönlich kann einfach zu anderen Tätigkeiten nicht Musik hören, auch z.B. beim Autofahren nicht.


    „Musik zum“ geht für mich nicht. Ich bedaure das zuweilen, weil ich auf diese Weise viel mehr Musikwerke kennenlernen könnte (zumindest oberflächlich, besser „oberwelliglich“)


    Nicht, dass ich elitär vermeiden möchte, die Musik mit anderen Tätigkeiten zu „beschmutzen“, nein, sie nimmt mich einfach zu sehr gefangen und lenkt mich zu sehr ab. Ich würde also viel zu langsam Putzen und noch langsamer Autofahren, als ichs eh schon tue. Alles hat seine Zeit.


    Eponine
    Du sprichst mir aus dem Herzen! Her mit mehr Stille!!!


    Eine andere Frage ist, ob wir die „Musik“ überhaupt abstellen können, ob nicht subliminal in unserem Lymbischen System immer irgendwelche Klangmuster empfangen werden und die „Musik“ all unser Sein und Tun permanent begleitet, vielleicht sogar generiert?
    (Huch: dünnes Eis für einen „Kein-Esoteriker-sein-Wollenden“...)



    Mehr stille Zeit wünscht Walter

  • Hallo zusammen,


    in Afrika hat mir einmal ein Mann gesagt:


    "Als Gott die Welt erschuf, gab er den Afrikanern die Zeit und den Europäern die Uhr."


    Das hat mich sehr nachdenklich gemacht und heute, viele Jahre später, weiß ich: Der Mann hatte recht.

    Freundliche Grüße Siegfried