Nur Opfer der Berieselung? - schöne Melodien als banal empfunden

  • Das Thema ist mir eingefallen, als ich in unserem Opernforum die Bemerkung über "Oh wie so trügerisch..." las: Gassenhauer.
    Das mag schon stimmen - aber ebenso stimmt, dass fast jede eingängige Melodie, die ein "E-Musik"-Komponist erfindet und die so etwas wird wie ein musikalisches Allgemeingut, sofort als Gassenhauer abgestempelt wird und mitunter auch gleich unter Kitschverdacht gerät.
    Die Opfer sind zahlreich. Ich nenne nur ein paar:
    Mozart: Kleine Nachtmusik, 1. Satz
    Beethoven: Na was schon... Die "Ode" natürlich. Aber auch der Anfang der 5. Symphonie
    Wagner: "Treulich geführt..."
    Verdi: "O wie so trügerisch...", "Lodern zum Himmel..."
    Tschaikowskij: "Blumenwalzer"
    Puccini: Musette-Arie
    Strauss: "Zarathustra"-Anfang
    Sogar das 20. Jahrhundert hat ein paar Beiträge zum Thema liefern:
    Gershwin: "Summertime..."
    Weill: "Und der Haifisch...", "O Moon of Alabama..."
    Orff: "O Fortuna"
    Rodrigo: Concerto d'Aranjuez
    Chatschaturjan: Säbeltanz aus "Gayaneh", Adagio aus "Spartacus"


    Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.


    Worum es mir geht, ist die Frage: Sind Melodien wie die genannten banale Gassenhauer und deshalb populär geworden - oder sind das einfach verdammt gute Melodien, die durch eine gnadenlose kommerzielle Ausbeutung ihres Potentials von Werbung, Festakten, Filmmusiken, Supermarktberieselung etc. totgespielt und damit banalisiert wurden?

    ...

  • Hallo Edwin,


    ich denke letzteres - es sind einfach verdammt gute Melodien!


    Gute Musik bleibt, sie überdauert Jahrhunderte und vermag, die Menschen immer wieder zu erfreuen.


    Dies hat natürlich auch die Industrie erkannt und nutzt dies für ihre Zwecke. Doch wen stört es? Ich höre z. B. die "Kleine Nachtmusik" immer wieder gerne.


    Und wenn Du in einer lauen samstäglichen Sommernacht über den Münsteraner Prinzipalmarkt schlenderst und eine Radfahrerin hörst, die laut "Summertime" singt, dann kann es sich dabei nur um mich handeln...


    Liebe Grüße


    Mignon :hello:

    Maybe the nation has found peace from its sins... I. A. a. W.E.B. Du Bois

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Worum es mir geht, ist die Frage: Sind Melodien wie die genannten banale Gassenhauer und deshalb populär geworden - oder sind das einfach verdammt gute Melodien, die durch eine gnadenlose kommerzielle Ausbeutung ihres Potentials von Werbung, Festakten, Filmmusiken, Supermarktberieselung etc. totgespielt und damit banalisiert wurden?


    Es hängt gewiß nicht nur daran. Ich würde nie auf die Idee kommen, eine wunderschöne und eingängige Melodie wie die des adagios aus KV 622 trotz "Out of Africa" für einen banalen Gassenhauer zu halten. Das Hauptmotiv von Beethovens 5. ist gar keine Melodie, das Motiv natürlich sehr einfach, aber niemand würde diesen Satz für simpel und banal halten.


    Verdi: "O wie so trügerisch...",


    Dazu habe ich ja schon was gesagt. Die Banalität ist auch unabhängig von der Pizza-Werbung ziemlich deutlich. Aber das Problem ist hier, wie überall, die Isolation. In der Oper ergibt die Banalität Sinn; das Stück paßt irgendwie zum Herzog. Aber als Bravourarie eines Tenors im Recital finde ich das Stück leider nur banal (auch keine besonders "schöne" Melodie.


    Weill: "Und der Haifisch...", "O Moon of Alabama..."


    Das sind natürlich völlig absichtlich bis zur Karikatur banale Gassenhauer. Der Haifisch gewinnt im Original durch die von Strophe zu Strophe variierte Instrumentation, aber eine Moritat muß ein Gassenhauer sein. Ein noch brillanteres Beispiel, das leider bei den meisten Coverversionen meist an Reiz verliert, ist die Seeräuber-Jenny: Hier entwickelt sich in den letzen Strophen fast eine Art düsterer Marsch, die den Ernst und die Grausamkeit der Rachevision deutlich macht.
    Was Morrison genau mit dem Moon of Alabama wollte, weiß ich nicht. IMO ist das Original (wie einige mehr dieser Songs) quasi seine eigene Parodie.
    (Einige andere nehme ich dagegen durchaus für ernst, z.B. Surabaya Johnny oder Matrosen-Song)


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Hallo Johannes,


    was heißt hier "trotz "Out of Afrika" ?



    In meiner Gegenwart bitte nichts gegen diesen Film... ;(



    Liebe Grüße


    Mignon :hello:

    Maybe the nation has found peace from its sins... I. A. a. W.E.B. Du Bois

  • Es kommt schon sehr darauf an... Die wirklichen Verdi-Gassenhauer (auch das Pizzawerbelied aus der Traviata :stumm: ) tendieren doch mehr zur Banalität denn zum verdammt guten Musikstück. Anders das Walzerlied der Musetta bei Puccini, das hat, wie bei diesem Komponisten allgemein üblich, dramaturgische Funktion und ist aus dem zweiten Akt nicht wegzudenken. Es ist aber eigentlich keine Arie, sondern ein Ensemblestück, und die Isolation der Arie aus diesem Ensemble und die alleinige Darbietung derselben bei einem Arienabend ist wirklich grober Kitsch!


    Orff... naja... die Musik der Carmina Burana besitzt mit Sicherheit mehr Wirkung als Qualität, aber banal ist sie deshalb noch lange nicht. Ähnliches gilt auch für Khachaturijan mit seiner Polyrhythmik. Das Concerto de Aranjuez mag ein bisschen zu neoklassizistisch geraten sein; ich mag es indes trotzdem. Die Originalversion hat nämlich durchaus ihre Reize, die "Kitschversion" hingegen ist in der Regel auf ein Drittel der ursprünglichen Länge zusammengekürzt (analog Bolero).

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  • Mich würde ja mal bei diesem Thema interessieren, warum die einfache, eingängige Melodie bei z.B. Verdi "brilliant" ist, während eine andere einfache, eingängige Melodie (die z.B. Herrn Schlechtriem nicht aus dem Kopf geht) von Khrennikov "schlecht" ist.
    Ich will, muss und möchte hier nicht die Lanze brechen für Khrennikov, es würde mich nur prinzipiell mal interessieren, warum eine nette kleine Melodie einmal brilliant und einmal schlecht ist.

  • Meiner Meinung nach sind Verdis "nette, kleine Melodien" alles andere als brilliant, insbesondere, da mich bedünkt, dass seine Opern sich von netter, kleiner Melodie zur nächsten hangeln, und dazwischen hängt das Werk für mindestens eine halbe Stunde sowohl musikalisch als auch dramaturgisch ziemlich durch. Aber vielleicht sollte jemand, der ein positiveres Verdi-Bild hat als ich, deine Frage beantworten.


    (Anmerkung: Opern, in denen Verdi auf nette, kleine Melodien verzichtet, wie z. B. Simone Boccanegra, finde ich sehr schön!)

  • Hallo,


    ich möchte, um Edwins Ausgangspunkt heranzuführen, gar nicht bewerten, ob ein eingängiges Thema möglicherweise kitschig ist oder nicht. Dafür haben wir ja den hinlänglich bekannten Thread zum Kitsch. Wenn ich die Definition von "Gassenhauer" für mich mal vereinfache, fallen in diese Rubrik all jene Melodien, die die vielzitierten Spatzen von den Dächern pfeifen, also auch jene, die mit Klassik sonst nicht viel am Hut haben.


    Meiner Erfahrung nach fallen alle von Edwin erwähnten Melodien darunter. Darüber hinaus fallen mir noch folgende ein:


    Strawinsky - Feuervogel (Wiederbelebung der versteinerten Ritter ff.)
    Copland - Fanfare for the common Man
    Bizet - so ziemlich jedes zweite Stück aus den Carmen-Suiten, respektive aus Carmen
    Bach - Orchestersuite Nr. 3 - Air
    Barber - Adagio for Strings
    Elgar - Pomp and Circumstance
    Grieg - Peer Gynt - Morgenstimmung


    Alles Themen, die nahezu alle Freunde und Bekannte von mir, die keine Klassik hören, erkannten, wenn auch nicht bennen konnten. Was das jetzt über die musikalische Qualität aussagt? Ehrlich gesagt: Keine Ahnung.


    Grundsätzlich meine ich, dass die Schöpfung eines solchen "Gassenhauers" erst einmal nicht zum Nachteil gereicht. Jeder für sich sollte individuell betrachtet werden. Schon bei Beethovens Geklopfe der Fünften geht's los: Ich liebe diesen Satz und freue mich jedes Mal aufs Neue über die Kunstfertigkeit mit der Beethoven dieses simple Thema einen ganzen Satz lang durchexerziert. Aber schon da gehen die Meinungen bekanntlich auseinander. Barbers Adagio ist für mich der Inbegriff einer dynamisch spannenden hocherregenden Musik. Dass sich Film- und Fernsehschaffende, und schlimmer noch die Werbeindustrie der Musik angenommen hat, um die Byzantiner Königsnüsse mit Elgar oder ein lecker Bierchen mit Grieg an den Verbraucher zu bringen, schmälert zwar meinen Genuss der Werke manchmal. Doch für diese Vereinnahmung können die Komponisten ja nichts. Außerdem stehen die berühmten Melodien zumeist im Zusammenhang größerer Werke, aus deren Zusammenhang sie gerissen wurden. Innerhalb dieser machen sie für mich oftmals Sinn, dienen herausgenommen aber anderen, vordergründigen Zwecken. (Gayaneh und Peer Gynt z.B.)


    Außerdem erfüllen solche Kracher insofern ihren Sinn, als dass ich mit ihnen immer wieder klassikfremden Menschen einige leicht zugängliche Showpieces als Zugang anbiete. Mir ging's ja früher nicht anders. Mit dem Sacre, der Jupiter oder dem Paukenschlag hätte man mich wahrscheinlich auch nicht geködert für die Klassik. (Bei mir war es Vaughan Williams' Lark Ascending - noch so ein Gassenhauer....)


    Gruß
    B.

  • Lieber Herr van Rossum,


    es geht mir bei Chrennikow nicht um eine Melodie, die Melodien in seiner 2.Sinfonie sind weniger als banal und nicht mit den hier angeführten Beispielen vergleichbar,
    aber das ist überhaupt nicht das Problem, welches ich damit habe.


    Er versüßt das ganze mit Rückungen, chromatischen Durchgängen und übermäßigen Tonschritten, die so geschickt ausgewählt sind, daß sich ein gewisser Effekt einstellt, welcher aber verlogen und nicht authentisch ist.
    Und diese wohldosierten Effekte gehen mir nicht aus dem Kopf.


    Ich habe überhaupt nichts gegen eingängige Melodien, solange diese aus einem ehrlichen und "netten"(um Ihre Worte zu zitieren)Antrieb komponiert sind.
    Eingängige und einfache Melodien zu schreiben kann eine große Kunst sein, was ist denn mit Beethoven's Fünfter?


    Das ist noch nicht einmal eine Melodie!


    Herr van Rossum, ich kenne die Violinkonzerte von Chrennikow nicht!
    Höchstwahrscheinlich sind dies unverzichtbare Meisterwerke, die ich zu meiner Schande noch nicht kennengelernt habe.


    Ich habe auch nie geschrieben, daß mir eine Melodie von Chrennikow nicht aus dem Kopf geht, sondern es war so gemeint, daß die Verarbeitung so derartig geschickt und gekonnt ist, daß man bestimmte Passagen nicht vergißt.


    Können wir es bitte dabei belassen, daß ich meine Meinung betreffend Herrn Chrennikow habe?
    Ich lasse Ihnen auch mit Freuden Ihre Meinung und möchte Sie auch gar nicht umstimmen.
    Ich meine das wirklich ernst.
    Mir liegt überhaupt nichts daran, ihnen die Freude an diesen Violinkonzerten zu nehmen.
    Und wenn Sie kein Problem mit Chrennikow haben ist dies ja wunderbar.


    Alles Gute,


    Ihr Herr Schlechtriem

  • Zunächst mal Edwin ein herzliches Dankeschön für diesen Thread:
    Ich selbst habe einen Augenblick an einen ähnlichen gerdacht - brachte aber keinen zustande, weil ich noch in Agonie lag, nachdem ich gelesen hatte, wie eine der größten Opernarien der Welt von Guiseppe Verdi, ja ich möchte sogar sagen eine akustische Ikone der Opernwelt als "Gassenhauer" bezeichnet wurde. So war ich momentan emotional ausser Gefecht gesetzt und brachte nur ein vernehmliches KRRRRRR (ein Knurren - dem einer Dogge nicht unähnlich) zustande.......


    Ich kann schwer nachvollziehen, warum ein Werk von hohem Wiedererkennungswert mit eingängiger Melodik unbedingt heruntergemacht werden muß, wobei gesagt werden muß, daß "Gassenhauer" quer durch die Jahrhunderte durchaus unterschiedliche Bedeutungen hatte, so beispielsweise eine derbe, volkstümliche, eingängige Melodie - bis hin zu unsererZeit, wo man damit triviale schlechte Musik bezeichnet.....


    Ich kann auch Philhellene nicht beipflichten, daß sich "Verdis Opern von einer netten kleinen Melodie zur nächsten hangeln" - ich sehe genial kalkulierte Meisterwerke darin, wo Verdi die Synthese zwischen überdauernder Qualität uind Popularität offensichtlich perfekt gelungen ist. Das beweist einerseits sein überragender Ruhm zu Lebzeiten - und andererseits sein Nachruhm, ist er doch neben Richard Wagner und Mozart der wohl meistgespielteste Opernkomponist der Musikgeschichte.


    Verdi hat seine "Schlager" (das passt wohl eher) wohlkalkuliert in seine Opern eingebaut un ihnen so das Publikumsinteresse über Jahrhunderte gesichert.


    Van Rossuim will wissen, "warum eine nette kleine Melodie mal gut und mal schlecht ist" - ich will mich bemühen das zu beantworten.


    Das ist in wahrheit wahrscheinlich gar nicht der Fall - es hat mit der Kompatibilität der Zuhörerschaft zu tun:


    Als Beispiel: Als Verdi-Anhänger LIEBE ich seine "netten kleinen Melodien" (in Wahrheit Genial kalkulierte Arien, denen nur wenig nahekommt, es sei denn die netten kleinen Melodien von Rossini, Bellini und Donizetti, sowie die eines Herrn Pacini) - somit fällt mein Urteil positiv aus. Leute die indes lieber sperriges hören erscheinen diese Arien - wir wir heute schon mehrfach gehört haben -banal.


    Diese Leute werden auch Khrennikovs "nette kleine Melodien" ablehnen -weil sie von einem Vertreter der zeitgenössischen Musik was anderes erwarten. Ich hingegen werde sie ablehnen zu hören - weil ich einem zeitgenössischen Komponisten gar keine "netten" kleinen Melodien erwarte. Somit ist Herrn Khrennikov jede Chance verdorben seine nette kleine Melodie zu einem günstigen Urteil kommen zu lassen......


    Freundliche Grüße aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Lieber Alfred,


    tut mir leid, wenn ich wiederspreche, aber Genosse Chrennikow hat bei mir jegliches Wohlwollen durch seine absolut verachtenswerten Umtriebe während der Stalin-Diktatur verspielt.


    Er ist nicht nur niemals zur Rechenschaft gezogen worden, sondern hatte auch noch das Privileg, seine hohe Machtposition bis zuletzt zu halten.
    Es ist zu viel verlangt, die Musik eines solchen Menschen objektiv zu hören, jedenfalls für mich.


    Ich brauche wirklich keine sperrigen Melodien, sonst wäre ich nicht Barber-Fan.


    Ich wünsche allen eine gute Nacht und hoffe sehr, daß sich jetzt keine Animositäten entwickeln.
    Das ist Herr Chrennikow mir nicht wert.


    LG,


    Michael

  • MichaelSchlechtriem:


    Zitat

    Höchstwahrscheinlich sind dies unverzichtbare Meisterwerke, die ich zu meiner Schande noch nicht kennengelernt habe.


    Ich kann dich trösten, denn DAS sind sie ganz gewiss nicht. Sie sind konventioneller Kram, harmonisch rückwärts gewandt auf Wunsch der Partei-und Staatsführung. Man muss schon ein eher schlichtes Gemüt sein, um nicht durchschauen zu können, WEN der Gen. Chrennikow damit "becircen" wollte.
    Ich denke da an einen freundlich dreinblickenden Herrn mit ziemlich großem Schnurrbart. :baeh01:

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • van Rossum:


    Zitat

    Ich trage gar keinen Schnurrbart


    Du bist, so hoffe ich zumindest, auch nicht Stalin. An den nämlich dachte ich bei dem "freundlich dreinblickenden Herrn" ! :hello: :hello:

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Zitat

    Original von van Rossum


    Ich trage gar keinen Schnurrbart! :hello:


    Er meint mich...
    Aber ich kenne die Musik des Genossen Chrennikow gar nicht, da ich nur Marschmusik unserer glorreichen Roten Armee höre 8)


    Aber zum Thema: Ich habe das Gefühl, die Welt geht an mir vorbei. Die Mehrzahl der bisher aufgelisteten Titel habe ich nur selten gehört, viele überhaupt nicht. Da ich schon seit langem so gut wie kein TV sehe, bleibe ich von diesen Verhunzungen klassischer Musik verschont. Wenn Sie hier und da im Soundtrack eines Films verwendet wird, stört mich das nicht, denn ich seh den Film ja nicht so oft, daß aus seiner Musik ein Gassenhauer wird. An Kitsch habe ich persönlich noch bei keinem der Stücke gedacht...


    Von früher her kann ich mich noch daran erinern, daß bestimmte Teile der "4 Jahreszeiten" Abwehrreaktionen in der Magengegend auslösten. Aber ich hatte auch die Jahre nicht gehört, bis mir - auf eine Empfehlung im Forum - dann Carmignolas Einspielung in die Hände fiel. Seitdem höre ich Vivaldis Werk wieder mit Begeisterung.


    Um Edwins Frage zu beantworten: Es sind idR verdammt gute Melodien, die totgespielt werden. Sofern man sich aber nicht "totrieseln" läßt, bleiben sie eingängig, aber nicht banal.

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  • In der Popmusik gibt es das sogenante "Songplugging": Ein Stücklein wird in allen Medien immer wieder gespielt, bis jeder es gehört hat, durch die Wiederholung es für einen tollen Schlager hält und die CD kauft. Ich habe da so ein Liedlein einer gewissen Enya leider noch immer im Ohr...


    Das ist, damit ich jetzt endlich selbst wertend in die Diskussion einsteige, für mich der grundlegende Unterschied zwischen Verdi und Chrennikow - um einmal bei diesen Namen zu bleiben. Verdi hat aus seinem Temperament und Können und aus seiner Verbundenheit mit dem italienischen Volk heraus einfach eine tolle Melodie erfunden. Ganz subjektiv: Ich bin eher kein Anhänger der italienischen Oper, aber dem Brio solcher Melodien kann ich mich nicht verweigern. Zumal sie die Person wunderbar charakterisieren: Elegant, leichtfertig, ein wenig schmierig, aber auch charmant. Wie gesagt: Ich mag italienische Opern nicht so sehr - aber so etwas zu schreiben, ist hohes Können.
    Chrennikow (lassen wir sein Denuntiantentum und seine feige Despotie im Komponistenverbad einmal beiseite) macht das genaue Gegenteil: Er schuf nicht auf dem Boden des russischen oder meinetwegen sowjetischen Volkes, er schuf auf dem Boden, Stalin und der nachfolgenden KPdSU-Krepüle imponieren zu wollen. Seine Melodien haben, reduziert man sie auf sich selbst, keinen Charakter. Es sind Tonfolgen, die man sich mit ein bisschen Begabung jederzeit auf dem Klavier zusammensuchen kann, am besten, man beginnt mit einer auftaktigen Quart oder Quint und setzt dann in Gegenrichtung fort, eventuell den Leitton erniedrigen und, in Dur, die Terz beim ersten Mal nach Moll wenden, beim zweiten Mal nach Dur. Danach wird das mit harmonischen Kniffen und einer Filmmusik-Instrumentierung aufgeplustert und anlässlich eines Parteitags den Bonzen und etwas später dem "Volk" vorgeführt.
    Diese Verlogenheit, die ja den genau umgekehrten Weg geht, hat mit Verdi nichts zu tun. Chrennikow war der Star des sowjetischen Symphonie-Plugging, man hat diese Musik von oben herab verordnet, obwohl niemand sie hören mochte - nicht zuletzt, weil die meisten gebildeten Sowjetbürger wussten, was für ein Dreckskerl dieser Chrennikow ist.
    Das genaue Gegenteil bei Verdi: Die Akzeptanz seiner Melodien ist so hoch, dass sie keines Pluggings bedürfen, sondern selbst zu Trägern gewisser Inhalte werden. Sprich: Mit Verdis Musik verkaufe ich diese Pizza besser. Ob eine Reklame für Stolichnaya von Chrennikows Musik profitieren würde, wage ich hingegen zu bezweifeln.

    ...

  • Lieber Edwin!


    Absolut d'accord! Da ich kein Werk Chrennikows kenne und nach Deiner Einführung über diesen Mensch auch nicht sonderlich gewillt bin, diesen Zustand zu ändern, bleibt van Rossums Frage IMO doch nicht ganz unberechtigt.
    Ich sag mal so. Angenommen einer Deiner weiteren absoluten "Lieblinge" good ol' Edward Elgar würde durch eine DNA-Analyse als Jack the Ripper überführt. Zeitlich dürfte das ja hinhauen.
    Müßte ich dann die Pomp and Circumstances nicht nur also patriotisches Imperialismus-Gehabe hören, sondern auch noch als Freudenfest eines wahnsinnigen Serienmörders? Ich will nicht Jack the Ripper mit einem Verbrecher-Regime und seine Repräsentanten aufwiegen, keineswegs.
    Vielleicht so: Kann man Musik anhören, wie verdorben der Charakter des Komponisten hinter ihr war - wenn ich vorher nichts über genau diesen Charakter wusste? Kann Musik richtig verlogen klingen? Wann wird aus einer gefälligen Melodie eine Portion Schleim für die du am liebsten die Ghostbusters zu Hilfe rufen würdest, würde es sie denn geben?
    Da ich absolut kein Werk des heiß diskutierten Chrennikows kenne, ist die Frage meinerseits nicht rhetorischer Natur.


    LG
    Wulf

  • Ich möchte nochmal betonen, dass es mir sehr ferne liegt, Verdi als Komponisten netter kleiner Melodien abzustempeln.
    Wie schon gesagt, im Zusammenhang und als Charakterisierung des Duca (ich mag ein Spießer sein, aber ich finde ihn eine der widerlichsten Figuren der gesamten Literatur), paßt sie. Zu seiner Großspurigkeit, Banalität und der Perfidie, mit der er die Frauen, die ihm aufgrund ihre Naivität verfallen, als wankelmütig darstellt. Im Grunde ist er ein charmanter Zuhältertyp und dazu paßt das Lied perfekt. (Um bei ähnlichen Typen zu bleiben, in Mozarts Don Giovanni gibt es kein einziges Stück, das ähnlich banal wäre wie dieses, nicht von weitem!) Aber eine der größten Opernarien der Literatur? Eine "schöne" Melodie? Ich bitte doch sehr. (das wäre in Rigoletto vielleicht Caro nome) La donna e mobile ist hart an der Grenze der Karikatur italienischer Oper als Leierkastenmusik. (selbst Questa o Quella ist nicht halb so banal) Und es würde mich gar nicht wundern, wenn das Absicht gewesen wäre.
    Das Trinklied als La Traviata soll ebenso ein mitreißendes, munteres Trinklied sein, den Zweck erfüllt es perfekt. Isoliert man es davon, wird es schnell zu Bravourgeblöke oder Leierkasten. In diesen Fällen aht das auch gar nichts damit zu tun, wie oft man die Stücke gehört hat. Die sind genauso als Schlager beabsichtigt, deshalb eignen sie sich für die Pizzawerbung. Zum Glück erschöpfen sich Verdis Opern nicht in solchen Stücken, daher halte ich das Urteil von Philhellene auch für ziemlich überzogen.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

  • Hallo Wulf,
    ein heikles Thema, das Du da ansprichst.
    Ich kann es Dir nur mit meiner eigenen Erfahrung beantworten. Als ich vor nun schon sehr langer Zeit zum ersten Mal ein Werk Chrennikows hörte, wusste ich von seinem biografischen Hintergrund absolut nichts. Der Schallplattencover gab in der englischen Version keine Auskunft, und mein Russisch reichte damals nicht für die ausführlichere Originalversion, in der, wie ich jetzt weiß, Chrennikows Verdienste um die sozialistische Musik nachdrücklich gewürdigt werden. Bei dem Werk handelte es sich um das Ballett "Husarenballade".


    Diese Musik verstimmte mich nachhaltig. Ich fand sie geschmacklos, weil aufgedonnert, maßlos banal in der melodischen Erfindung; was ich feststellte, war ein völliges Missverhältnis zwischen Erscheinungsbild und Inhalt. Das nannte ich damals (ohne mir der Kriterien so sicher zu sein wie heute) "verlogen".


    Auf solche verlogene Musik trifft man in allen Nationen, von Norwegen (wo der Meister der Verlogenheit Oddvar Kvam heißt) bis in die USA (wer es nicht glaubt, höre sich die unsägliche Musik eines Douglas Moore an, der mit Michael glücklicherweise nichts zu tun hat).


    Wenn ich dann nachträglich aber auch noch erfahre, dass Chrennikow ohne mit der Wimper zu zucken seine Konkurrenten auch physisch aus dem Weg geräumt hätte, hätte das kluge Taktieren einiger weniger das Überleben von Schostakowitsch, Schnittke, Prokofjew, Popow, Karamanow etc. ermöglicht, dann stelle ich nachträglich durchaus eine Beziehung zwischen dem Charakter Chrennikows und seiner von mir bereits als verlogen eingestuften Musik her und komme zum Schluss, dass diese Musik eben ein klingender Charakterfehler ist.


    LG



    P.S.: Auf die Idee, dass Elgar der Messermann sein könnte, wäre ich nie gekommen. Aber wenn ich mir "Pomp & Circumstance" anhöre: Du hast recht, es klingt wirklich danach... :D

    ...

  • Hallo Edwin,


    nun, ich liebe heikle Themen :) Umso interessanter Deine Erfahrungswerte. Die Frage, ob Musik auch ohne Hintergrundwissen als verlogen emfunden werden kann, kannst Du also mit einem eindeutigen Ja beantworten.


    Ich habe mich mal bei jpc auf die Suche nach den beiden anderen von Dir genannten Komponisten gemacht, jedoch Fehlanzeige.
    (Apropos Moore: Auch Michael Moore finde ich in dem Zusammenhang nicht ganz unproblematisch, aber das führt zu weit weg vom Thema).


    Ich würde Dich bitten einen kurzen Blick in Deine PN-Box zu werfen.


    LG
    Wulf

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  • Hallo JR


    Zitat

    (Um bei ähnlichen Typen zu bleiben, in Mozarts Don Giovanni gibt es kein einziges Stück, das ähnlich banal wäre wie dieses, nicht von weitem!)


    Ich würde meinen, dass die sogenannte Champagner-Arie um keinen Deut besser ist, eher schlechter (was sie aber keineswegs schlecht macht, da ich eine hohe Meinung von Verdi habe).



    Zitat

    Aber eine der größten Opernarien der Literatur?


    Wie soll dieser Begriff eigentlich definiert sein? Sie ist mit ziemlicher Sicherheit die bekannteste, und ein besseres Kriterium will mir eigentlich nicht einfallen. Alles andere wird entweder zu kompliziert oder ist zu subjektiv.



    Zitat

    Eine "schöne" Melodie? Ich bitte doch sehr.


    Da sie der überwiegenden Anzahl von Hörern gefällt, wird man sie trotz der einen oder anderen Gegenstimme so bezeichnen können. ;)



    Zitat

    La donna e mobile ist hart an der Grenze der Karikatur italienischer Oper als Leierkastenmusik.


    Die latent vorhandene Nähe zur Leierkastenmusik ist ein Wesenszug der italienischen Oper. Es war dieser Nähe zuzuschreiben, dass sogar Verdi in nördlicheren Gefilden lange Zeit unter seinem Wert wahrgenommen wurde (die Wende kam erst 1926(!) durch eine Operntournee der Mailander Scala unter Arturo Toscanini). Es gilt hier für die Interpreten, der Versuchung zu widerstehen und die Musik wirklich ernst zu nehmen. Dann entwickelt sie ganz von selbst ihre Qiualität.


    Übrigens: Nichts passt so gut für Kurkapellen wie Richard Wagner. Dort zumeist deutlich zu schnell gespielt eröffnet sich dem erstaunten Zuhörer die oft fast italienisch anmutende Melodienseligkeit des Bayreuther Meisters. Es gibt bissige Stimmen, die die Kurkapelle ohnehin als ureigenste Bestimmung für Wagner ansehen... :stumm:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Zitat

    Original von Theophilus


    Ich würde meinen, dass die sogenannte Champagner-Arie um keinen Deut besser ist, eher schlechter (was sie aber keineswegs schlecht macht, da ich eine hohe Meinung von Verdi habe).


    Ich halte sie für deutlich weniger banal ("besser" habe ich nicht geschrieben). Sie ist überdies absolut ungeeignet für Leierkästen und Bravourgeblöke


    Zitat


    Wie soll dieser Begriff eigentlich definiert sein? Sie ist mit ziemlicher Sicherheit die bekannteste, und ein besseres Kriterium will mir eigentlich nicht einfallen. Alles andere wird entweder zu kompliziert oder ist zu subjektiv.


    Wer so anfängt hat schon verloren. "Dann ist Blau, blau, blau blüht der Enzian" eh noch besser. Den Begriff hatte überdies Alfred eingeführt. mag ja durchaus sein, dass da gar kein Widerspruch besteht, natürlich hat etwas möglichst Banales gute Chancen auf extreme Popularität, also sind wir nach Deinem Kriterium schon fertig.
    Ich würde von einer herausragenden Opernarie nicht nur Popularität sondern die treffende und ergreifende Charakterisierung einer bestimmten dramatischen Situation erwarten. Oder wenigstens witzig zu sein, wie z.B. Leporellos Registerarie oder Figaros Faktotum. La donna e mobile ist nichts von alledem. Es zeigt nur nochmal, was wir längst wissen, dass der Duca die Weiber, die ihm so leicht verfallen, dafür auch noch verachtet, und entsprechend behandelt.

    Zitat


    Da sie der überwiegenden Anzahl von Hörern gefällt, wird man sie trotz der einen oder anderen Gegenstimme so bezeichnen können. ;)


    Es ist eine eingängige Melodie. Eine schöne Melodie wäre z.B. das Adagio aus Mozarts Klarinettenkonzert oder um bei Rudolf Schock zu bleiben zur Not Ombra mai fu...oder Una furtiva lagrima, Mio babbino caro. Aber nicht um-tata mobile.

    Zitat


    Die latent vorhandene Nähe zur Leierkastenmusik ist ein Wesenszug der italienischen Oper. Es war dieser Nähe zuzuschreiben, dass sogar Verdi in nördlicheren Gefilden lange Zeit unter seinem Wert wahrgenommen wurde (die Wende kam erst 1926(!) durch eine Operntournee der Mailander Scala unter Arturo Toscanini). Es gilt hier für die Interpreten, der Versuchung zu widerstehen und die Musik wirklich ernst zu nehmen. Dann entwickelt sie ganz von selbst ihre Qiualität.


    Wie ich weiter oben nochmal explizit schrieb, ging es mir keineswegs um eine allgemeine Bewertung oder Herabwürdigung Verdis. Und insofern die Arie den Herzog charakterisiert, paßt ja die Banalität aufs Haar. Davon wird sie nicht weniger banal und außerhalb des Zusmamenhangs für mich ziemlich unerträglich. Dann lieber "Granada" :D


    Der Wagner, der sich für Kurkapellen eignet, dürfte sich auf Auszüge aus Holländer, Tannhäuser und Rienzis Gebet beschränken. Gewiß nicht das Tristan-Vorspiel oder Wotans Abschied...


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Wer so anfängt hat schon verloren. "Dann ist Blau, blau, blau blüht der Enzian" eh noch besser.


    Wer kennt das in Chile oder Papua-Neuguinea? Den Verdi kennen sogar dort noch einige!
    Man sollte ein bißchen über den eigenen Tellerrand hinausschauen. :D
    (Aber eigentlich habe ich Opernarien gemeint!)



    Zitat

    Ich halte sie für deutlich weniger banal ("besser" habe ich nicht geschrieben). Sie ist überdies absolut ungeeignet für Leierkästen und Bravourgeblöke


    Da sind wir bereits sehr auf subjektivem Terrain. Und wenn du die Champagner-Arie noch nicht als Bravourgeblöke gehört hast, beweist das nur, dass du nicht allzuviele Aufnahmen davon kennst, bzw. dass du die Oper noch nicht sehr oft gehört hast. Es dürfte am Opernsektor das mit Abstand am schlimmsten mißhandelte Stück Mozarts sein.



    Zitat

    Es ist eine eingängige Melodie. Eine schöne Melodie wäre z.B. das Adagio aus Mozarts Klarinettenkonzert oder um bei Rudolf Schock zu bleiben zur Not Ombra mai fu...oder Una furtiva lagrima, Mio babbino caro. Aber nicht um-tata mobile.


    Was eingängig und was schön ist, ist sehr subjektiv. Der Rest beweist aber in erster Linie auch nur, dass du etwas gegen um-tata hast...



    Zitat

    Gewiß nicht das Tristan-Vorspiel oder Wotans Abschied...


    Das gerade nicht, aber da fällt mir schon noch einiges ein...


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!