Die göttlichen Böhmen

  • Salut,


    seit Klingsors gestrigem Eintrag im Vranický-Thread verhärtet sich mein Verdacht, der durch meine Erkundungen der Komponisten des 18. Jahrhunderts aufkam: Die Böhmischen Komponisten des 18. Jahrhunderts haben etwas „Besonderes“, was sie von ihren Zeitgenossen abhebt.


    Ich denke da beispielsweise an die Gebr. Vranický, auch Stamitz, Rosetti oder gar Joseph Myslivecek… deren Musik ist im Vergleich zu den Österreichern, „Teutschen“, Italienern und Franzosen so viel vorbehaltloser, einfach sprühend vor Freude, man möchte einfach nur mittanzen.


    Hingegen sind die Musiken von Mozart, Joh. Chr. Bach, Traetta oder Jommelli, Kraus, Gossec nach meinem Empfinden sehr viel gelehrter, bedeutungsschwangerer [?], spirituell, nachdenklich… was an sich natürlich sehr liebenswert ist und keine Bewertung sein soll. Ich mag sie alle uneingeschränkt – doch fiel mir verstärkt dieses Unbändige der Böhmen auf.


    Ist da was dran?
    Geht es jemandem ebenso?


    Der Threadtitel übrigens wurde dem Spitznahmen Mysliveceks - il boemo divino - entlehnt.


    Cordialement
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • ja, ulli,
    das sehe ich auch so .. das nennt man nicht zu unrecht die 'böhmische spiel- oder musizierfreude': viele anklänge an 'bäuerliche' oder 'volkstümliche' musik, viel tanz, intensiver gebrauch der harmonieinstrumente (bläser) ..das ist alles sehr auffallend und findet sich ja dann über smetana und dvorak sogar bis ins 20. jahrhundert hinein...


    :hello:

    --- alles ein traum? ---


    klingsor

  • Zitat

    Original von Ulli
    Ich denke da beispielsweise an die Gebr. Vranický, auch Stamitz, Rosetti oder gar Joseph Myslivecek… deren Musik ist im Vergleich zu den Österreichern, „Teutschen“, Italienern und Franzosen so viel vorbehaltloser, einfach sprühend vor Freude, man möchte einfach nur mittanzen.


    Hingegen sind die Musiken von Mozart, Joh. Chr. Bach, Traetta oder Jommelli, Kraus, Gossec nach meinem Empfinden sehr viel gelehrter, bedeutungsschwangerer [?], spirituell, nachdenklich… was an sich natürlich sehr liebenswert ist und keine Bewertung sein soll. Ich mag sie alle uneingeschränkt – doch fiel mir verstärkt dieses Unbändige der Böhmen auf.


    Ist da was dran?
    Geht es jemandem ebenso?


    Hallo Ulli,


    Gehören Krommer und Vanhall nicht auch dazu?


    Ich habe einen (ehemaligen) Tschechischen Freund, einen in Prag ausgebildeten Trompeter, mit dem schönen Vorname "Bedrich". Er flüchtete bei der Niederschlagung des Prager Lenzes nach Holland.
    Öfters hat er, als er dahin ging um Verwandten zu besuchen, LPs und später CDs für mich mitgebracht. Wir haben oft darüber diskutiert was die Böhmer so einzigartig machte.
    Ich gebe hier seine Meinung:
    Könnte es sein, daß bei der Böhmer etwas weniger "intellektuel" und was mehr "ländlich" oder "volksnäher" komponiert wurde?


    So wie Du es fühlst, empfinde ich es auch. Es ist, alsob es damals zwei Musikzentren gab: Wien und Böhmen. Und obwohl die Kontakte da waren und man gegenseitig Einfluß auf einander nahm, sind die Stile doch m.E. anders.


    Ich mag jedenfalls diese Musik sehr, sehr gerne.


    LG, Paul

  • Salut,


    volksnäher, also populairer empfinde ich diese Musik ebenfalls, ohne ihr jedoch einen Gehalt absprechen zu wollen.


    Ja, Krommer und van Hall :P [so schrieb das Mozart glaube ich einmal, ob aus Spaß oder Orthographieschwäche, weiß ich nicht] gehören auch dazu wie Dvorák und Zelenka...


    :hello:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Für einen der besten Böhmen, den ich im späten 18. Jh. kenne, nämlich J. Dussek, gilt das meines Erachtens nicht, die Frage ist aber, ob er wirklich als Vertreter eines "böhmischen Stils" anzusprechen ist, schließlich ist er wie die meisten in ganz Europa herumgereist und wurde dann zu einem Hauptvertreter der "Londoner Klassik" (die man betreffs spätklassisch-frühromantischer Klaviermusik eher als Gegenpol zu Wien sehen könnte als Böhmen).


    Bei Vanhal frage ich mich, ob der nicht als "Wiener" angesprochen werden sollte, besonders "tänzerisch" ist der aber im Vergleich zu Haydn auch nicht.


    Und bei den Stamitzen ist nur Johann ein Böhme, Carl ist in Mannheim geboren. Johann Stamitz sollte wohl eher mit Wagenseil oder Monn in Wien verglichen werden (er starb 1757). Monn ist sicher mit seiner Polyphonie etwas "bedeutungsschwangerer", aber Wagenseil?


    Also ich erkenne das jetzt nicht mit den tanzenden Böhmen, kenne aber sicher nicht so viel Material wie Ulli ...

  • Salut,


    ich kenne wahrlich nicht alle böhmischen Komponisten und von jenen, welche ich kenne, nicht alles Werke. Es geht mir auch nicht prinzipiell um eine "Schubladisierung" - es ist mir nu aufgefallen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob nicht mein Empfinden alles andere als Zufall ist, dass es nämlich eine Steuerung durch die Vorauswahl der entsprechenden Werke durch die Lables sind, die ein solches Empfinden jedenfalls suggerieren lassen.


    Auf die Werke jedoch, die ich kenne, insbesondere Kozeluch, Myslivecek und Vanhal - ist mein Empfinden unumstösslich zutreffend. Mir kommt diese Musik irgendwie "freier" vor, wenn sie auch in eben solche "Formen gepresst wurde" - mir kommt es so vor, als hätte jemand gerade gedacht und das Gedachte spontan und voller Freude, ohne Zwang, niedergeschrieben. Das mag auch täuschen - ich war nicht dabei. ;)


    Cordialement
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Hallo!
    Aufmerksamkeit verdienen auch die heute völlig unbekannten synagogale Stücke der Tschechen. Die böhmisch-jüdischen Kantoren (ich komme aus der Ecke, dadurch kenne ich das bisschen) haben eine geniale Mischung aus tiefer Frömmigkeit und purer Lebenslust, die ich einfach faszinierend finde. Dadurch entstehen wirklich schöne Werke!


    Mit lieben Grüßen,
    momo

    "Orgel spielen heißt, einem mit dem Schauen der Ewigkeit erfüllten Willen offenbaren!"
    Charles-Marie Widor

  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister
    Und bei den Stamitzen ist nur Johann ein Böhme, Carl ist in Mannheim geboren.


    Warum wird der Name Carl ja auch als Karl geschrieben?
    Gerade weil er auch zu den Böhmer gezählt wird (von Tschechen jedenfalls). Und das gilt mutatis mutandis auch für seinen Bruder.


    LG, Paul

  • Man ist 2006 zu keinem Schluss gekommen - vermutlich, weil es gar keinen gibt. Böhmische Musik hat eben ihre Eigenart, ebenso wie die italienische. Das kann man nicht lernen - man hat es oder man hat es nicht. Wenngleich böhmische Musiker (oft herabwürdigend als Musikanten bezeichnet) im allgemeinen recht beliebt waren, so hat man sie stets in das Bild derber Volkstümlichkeit gepresst - ein Verdikt, das nicht nur bösartig - sondern noch dazu falsch ist. Was macht aber nun den göttlicher, böhmischen Klang aus ? Wer weiß das schon. Vermutlich ist es eine gewisse Weichheit und Geschmeidigkeit im Klang, wie er oft den Orchestern dieser Gegend nachgesagt wird...


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Alfred! Du BIST ein Moderator!
    Holst alte Themen vor und suchst, sie lebendig zu halten.
    Schön!


    Dieser Tage, natürlich im Zusammenhang mit "Tamino", dachte ich an die "Böhmen.
    Auf vielfältigste Weise.
    Las den Thread um Händels Orgeleien und kann mir die Konzerte ohne Opus ohne "böhmische" Hornisten nicht vorstellen.
    Zelenka!!!!
    Ihn als Komponisten, aber noch weiniger ohne die Musiker, die diese waghalsigen Partien seinerzeit bewältigt haben.
    Die Benda-Brüder, Richter, Brixi....
    Dachte an das, was man "Nationalmusik" nennt und war innerlich wieder verstummend.


    Womöglich ist es auch weniger ein Stil als ein Klang?
    Fasse aber einen Klang in Worte!
    Nur: Weichheit kann es nicht sein. Siehe Zelenka. Eher eine geradezu "abnormale" Beherrschung des jeweiligen Instruments.
    Und: eine gewisse Leidensfähigkeit.
    Welcher dieser Böhmen hat in seiner Heimat Fuß gefasst?
    Wer so komponiert und musiziert wie es ihm von Herzen ging?
    Wo sind all diese Böhmen abgeblieben? Berlin, Dresden, Straßburg, Mannheim.....vielleicht spielt das eine wichtige Rolle?


    Na, ob Fragen zur Klärung beitragen?
    Herzliche Grüße,
    Mike

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Eigentlich ist ja die Geschichte der Musik des 18. Jahrhunderts ohnedies weitgehend eine Geschichte der böhmischen Musik. Oft wird uns das nicht bewusst, weil ja zahlreiche Komponisten ihre Namen italienisiert oder eingedeutscht haben. Das Besondere an der böhmischen Musik ist - das wurde schon weiter oben angesprocen - der klang und auch ein gewisses "volkstümliches" Element. Des letzteren hat sich ja auch Haydn gelegentlich in seinen Werken bedient - wenngleich seine Musik dennoch etwas "gelehrter" und "ausgeklügelter" war. Vollmundiges böhmisches Musikantentum ist eben eine "nationale Eigenart" die man kaum erlernen kann. Dieses "böhmisch-musikantische" Element wurde zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich beurteilt. Ich werde noch diese Woche beginnen vereinzelte Komponisten (nur einer pro Beitrag) hier zu nennen, nebst einer Nennung und Verlinkung zu einem seiner Werke. Wenn schon ein Spezialthread existiert, so werde ich ebenfall einen Link dorthin setzen. Der Sinn DIESES Threads sollte sein, möglichst viele böhmische Komponisten hier zu nennen, damit man eine Übersicht hat - Details werden dann in Spezialthreads - so sie bestehen - abgehandelt. Sollte ein Komponist dieser Gruppe derzeit keinen Spezialthread besitzen - so gilt es abzuwägen ob es sinnvoll sei, einen solchen zu starten. Wenn nicht, so ist der Name dieses Komponisten wenigstens durch seine Nennung hier, dem Vergessenwerden vorübergehend entrissen worden...
    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Liebe Forianer und Freunde der böhmischen Musik,


    ich möchte im Kontext von Alfreds Thread Jan Dismas Zelenka (1679 - 1745) vorstellen, einen Zeitgenossen Bachs. Er studierte bei Johan Joseph Fux in Wien. Er wirkte in Prag und in Dresden am Hof August des Starken unter den Hofkapellmeistern Johann David Heinrichen und Johann Adolf Hasse. Seine bekanntesten Werke sind die Triosonaten und die drei späten (erhaltenen) Messen Missa Die patris, Missa Die Dilii und Missa Omina Sanatorium.


    Ich muß gestehen, dass ich nur ein Stück von Zelenka wirklich kenne, das allerdings aufgrund eigener Erfahrung als Chorsänger in allen Facetten - die Missa Dei Patris - und die hat es in sich. Vergesst, dass hier ein barocker Komponist am Werke war und hört Euch das Stück einfach mal an. Schon der Rahmen ist mit 70 Minuten bei zügigen Tempi gewaltig. Die Messe sprüht vor dem Musikantentum, dass wir bei den böhmischen Komponisten so oft finden. Seine Einfälle sind so zahlreich wie originell. Man höre nur die Einleitung zum Kyrie: Es beginnt mit einer konzertanten Orchesterpassage, dann setzt der Chor in einem langsam Tempo ein und baut ein großes choralartiges Klanggebäude aus getragenen Tönen auf. Daran schließt sich eine Fuge an, die für ein "Kyrie" schon sehr beschwingt ist. Den zweiten Teil des Kyrie bildet ein Terzett, an das sich eine verkürzte Fassung des einleitenden Chores anschließt. An vielen Stellen klingt die Frühklassik eines Stamitz oder CP.E. durch. In den punktierten Passagen und Modulationen des Domine Deus höre ich für Augenblicke eine noch fernere Zukunft - Klänge aus Messen der Hochklassik.


    Meine Aufnahmeempfehlung lautet Friedet Bernius (Carus), der für meinen Geschmack eine genauso leichte wie kraftvolle Interpretation abliefert, die dem Charakter der Messe wunderbar gerecht wird.



    Weil sie mich gerade wieder so gefesselt hat, gibt es demnächst weitere Werke von Zelenka in meinem CD-Regal.

    “Music is enough for a lifetime, but a lifetime is not enough for music”
    Sergei Rachmaninov

  • Ja - es gibt einen eigenen Thread - Aber nichts desto weniger muß er hier natürlich auch erwähnt werden, da er in diesen Thread hineinpasst. Ansonst wäre der Thread ja nicht komplett. Umgekehrt wird es gelegentlich auch so sein, daß ein Komponist, der bis dato - vielleicht mangels an verfügbaren Aufnahmen - ausschließlich hier vertreten ist - eines Tages ZUSÄTZLICH einen eigenen Thread bekommt.


    Aber die gegenseitige Verlinkung von Threads zum selben oder ähnlichen Thema ist natürlich begrüßenswert


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !