Portamento - Zauber alter Aufnahmen? - bewußt unsauber?

  • Das Thema beschäftigt mich schon lange, weil ich den Besonderheiten der großen SängerInnen auf die Spur kommen möchte, jedoch auch bei Streichermusik spielt es eine Rolle - daher unter "Allgemeine.."



    die gefundenen Zitate im Forum weisen darauf hin, daß Portamento oft als etwas Störendes empfunden wird, als technischer Mangel, obwohl man den Ausdruckswert doch nicht verleugnen kann.



    Zitat

    Im Unterschied zum Capet Quartett, dessen Stil noch den Traditionen des 19.Jahrhunderts verpflichtet war und das auch durch den nur minimalen Gebrauch von Vibrato leicht altmodisch klang, schufen Calvet und seine Mitstreiter ein modernes Klangbild. Wer heute ihre Aufnahmen hört, muß das expressive Portamento billigend in Kauf nehmen, das den Gepflogenheiten der Zeit entsprach. Aber selbst heute will es scheinen, als ob die Musik Ravels oder Debussys ohne dieses Stilmittel falsch klingt. So merkwürdig das Portamento heutigen Hörern auch vorkommen mag, bei ausgezeichneten Musikern wie denen des Calvet Quartetts hat es oft eine strukturelle Funktion, die bestimmte Phrasierungen verbindet und der Interpretation Zusammenhalt gibt.


    Zitat

    Peter Anders ( 1908 bis 1954-Autounfall-) war ein Sänger, der bis heute eine deutsche Fan-Gemeinde hat. Ich gehöre dazu und überlese, was Jürgen Kesting weniger Freundliches über ihn schreibt. Man hört, dass Peter Anders nicht die beste Technik hat, gelegentlich zu etwas viel Portamento neigt.


    Zitat

    Recht schnelle Tempi, in einem Duktus durchgesangen, wenig Kontraste, leichtfüssig auf Schönklang bedacht, wenig Portamento, grosses Orchester und Chor, gute Pamina und Monostatos, das Orchester verhält sich eher im Hintergrund. Insgesamt eine recht schöne Aufnahme.


    1.
    Ich bin überzeugt, daß - abgesehen von den Anweisungen, die in den Partituren zu finden sind (!) - das Portamento unverzichtbarer Bestandteil in einigen Stilen darstellt.


    Vor allem natürlich in der gesamten italienischen Opernmusik des 19.Jh. Aber je mehr ich mich mit "schönem Gesang" beschäftige, desto mehr erscheint es mir fraglich, daß diese Gesangskultur nur auf italienisches Repertoire beschränkt sein sollte.
    Gesangskultur bedeutet IMO, daß nicht beliebig hinauf und hinunter geschliffen wird, sondern daß gezielt Portamenti an wichtigen Stellen eingesetzt werden, um den Ausdruck zu vervollständigen.


    Einer meiner Zukunftspläne besteht darin, verschiedene Interpretationen berühmter Arien auf Portamenti zu untersuchen - mir sind die Unterschiede schon aufgefallen, wo die Callas einen Ton direkt ansetzt, wo sie Halbton- und GanztonPortamenti macht oder wo auch größere Intervalle vorkommen...


    Mein Gedanke ist, daß diese Singweise einen Großteil der Qualität der Stimme ausmacht - nicht umgekehrt, daß man sich das erst wegdenken müßte...



    2. die Aufnahmen von Casals werden von Fachleuten oft belächelt oder heftig kritisiert. Auch wenn ich zugeben muß, daß mancher "geschmierte" ton ein bißchen weinerlich klingt, gefällt mir diese Spielweise viel besser als das nüchterne trockene Spiel moderner Cellisten.


    Das Problem liegt wahrscheinlich darin, daß Portamento sofort als Schwäche und technischer Mangel ausgelegt wird - wenn jemand das anwendet, heißt es: er kann es nicht besser!


    Für mich liegt die wahre Kunst in der gezielten Anwendung eines Stilmittels.


    Schließlich will ich auch selbst entscheiden, welche Aufnahme mir gefällt und gebe nicht soviel auf den "Konservatoriumsgeschmack." (auf jene Richtlinien, die man befolgen muß, um die Endprüfungen positiv zu absolvieren)
    Technische Vorstellungen innerhalb der Ausbildung verselbständigen sich gerne - so entsteht innerhalb dieser Bildungsstätten ein eigenes Schönheitsideal - natürlich ein bequem meßbares... - nach dem auch die berühmtesten Könstler nicht bestehen könnten.


    Oft liegt ja die Besonderheit darin, unakademisch zu spielen.

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

  • Der von Dir zitierte Auschnitt aus meinem Beitrag zum Calvet-Quartett stammt von Tully Potter, dem Chefredakteur des Classical Record Collector, der das Booklet zur CD geschrieben hat.


    "Für mich liegt die wahre Kunst in der gezielten Anwendung eines Stilmittels."


    Das dürfte die entscheidende Aussage sein, denn man kann Portamento nicht einfach pauschal als störend abqualifizieren. Selbst wenn man den unterschiedlichen Zeitgeschmack berücksichtigt, so muß doch mindestens konzediert werden, daß - wie bei jedem Stilmittel - es allein darauf ankommen kann, ob es an der entsprechenden Stelle musikalisch "paßt".

  • mich würde die allgemeine Tamino Meinung zu diesem Thema sehr interessieren!


    ich oute mich als absoluter Fan dieser kleinen Schleifer und werde mal dran arbeiten, daß junge SängerInnen lernen, wie mans richtig macht...


    Ist das eurer Meinung nach vegeudete Energie und sind euch die sterilen Ton für Ton-Melodien lieber, bei denen alles sauber und überlegt angesetzt wird, ohne störende Emotionsbeigabe...?


    Nicht daß ich mich abhalten ließe...ich halte es eben für eine Kunst.


    die Streicher halten die Idee wahrscheinlich für ketzerisch...

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

  • Hallo,


    ich halte dies überhaupt nicht für ketzerisch.
    Man muß zwei weiter auseinander liegende Noten ja miteinander verbinden.
    Ich benutze kleine Schleifer recht häufig, allerdings habe ich mir vorher sehr gut überlegt, wo ich sie einsetze.
    Es gibt ja auch die verschiedensten Abstufungen.


    Viele Komponisten haben außerdem für Streicher diese Schleifer bereits in den Noten vorgeschrieben(Mahler z.Bsp.).


    Allerdings bedeutet dies nicht automatisch, daß der Ton dann mit einer dicken Schleimspur angesteuert wird.
    Es gibt sehr viele Schattierungsmöglichkeiten, zum Beispiel kann ich einen Halbton ab oder aufwärts abgreifen, oder- was ich persönlich sehr mag- mit demselben Finger fast unhörbar "anschleifen".


    Man sollte sich aber immer im klaren sein, in welcher Musikepoche man sich befindet.
    Was für Debussy und Ravel toll ist, kann bei Bach einfach nur geschmacklos sein.


    Letztendlich bin ich aber kein Freund von "steril" abgegriffenen Tonfolgen, man verschenkt m.E. die Möglichkeit zu mehr Lebendigkeit in der Phrasierung.


    Generell bin ich der Meinung, daß man zuallererst in der Lage sein sollte, auch schwierigste Lagenwechsel fast ohne Schleifer zu beherschen.
    Danach sollte man sich überlegen, welche Lagen und Tonwechsel unter Umständen von einem "Schleifer" gewinnen und daraufhin die Intensität dieser Schleifer ergründen.


    Beste Grüße,


    Michael

  • Vielen Dank!


    Das Einsetzen des Stilmittels setzt ja voraus, daß man auch "anders" könnte.


    Ist es nicht oft so, daß man in der technischen Entwicklung zuerst in eine Richtung gehen muß - z.B. im Rhythmus bleiben - wenn man sich des Tempos dann sicher ist, kann man sich Freiheiten erlauben.


    Beim heißdiskutierten Rubato ist es ja ähnlich, daß es nicht bloß eine rhythmische Schwäche darstellt, die man nicht ganz ausgemerzt hat, sondern um absichtliche Veränderungen.


    Gerade fällt mir auf, daß Alfred manchmal bei jüngeren Künstlern charakteristische Eigenheiten vermißt und z.B: den Wettbewerben Gleichschaltung der Interpretationen vorwirft.


    Vielleicht können wir jene unverwechselbaren Eigenheiten genauer definieren, um eine Diskussion zu beginnen.

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Lieber Tastenwolf,


    ein interessantes Thema, über das ich neulich anlässlich eines recht miesen Kantorei-Konzerts nachdenken musste...


    Meine Überlegungen galten nicht nur den "kleinen Schleifern", sondern auchdem (angemessenen) Vibrato (zwei Gestaltungsmittel, die von Geigern nicht seltener ge- oder missbracht werden als von Sängern...).
    Ich glaube schon, dass man eindeutig erkennen kann, ob diese Mittel mit künstlerischer Absicht eingesetzt werden, oder dem Musiker aus Unvermögen "entfleuchen". Die Anforderung an eine saubere Intonation, an ein reines Singen sind ja stetig gestiegen - Wenn ein Sänger im Allgemeinen "sauber" singt und Portamenti nur gelegentlich und gezielt einsetzt, dann kann das durchaus seinen Reiz haben (zu viel davon wirkt aber unerträglich schmalzig, dann klingt's einfach nur getrickst!) . Selbst das sogenannte "Knödeln" kann in Maßen recht einschmeicheld klingen (Goerne und Prey sind Beispiele für Sänger, die mit viel Kehldruck arbeiten/gearbeitet haben, beide bewegen/bewegten sich gekonnt auf dem schmalen Grat zum "Knödeln"). Auch das Vibrato kann sehr bewusst als gestalterisches Mittel eingesetzt werden, gerne auch in der Altem Musik - allerdings dort mit ausgesprochener Behutsamkeit.
    Diese und andere Stilmittel sind in den letzten Jahrzehnten anscheinend in Veruf geraten - die Präferenzen verschoben sich eindeutig zugunsten eines "obejektiveren" Singens.


    Der Vergleich mit dem Rubato ist mir übrigens auch in den Sinn gekommen. Ebenfalls ein Stilmittel, das kaum objektivierbar ist. Chopin-Interpretationen ohne subtiles Rubato (besonders bei den Mazurken) sind ein echter Graus. Aber wo ist die Grenze zur Geschmacklosigkeit, zum billigen Effekt? Die Kunst liegt darin, den Puls der Musik zu spühren, ihre "Bedürfnisse" zu erahnen. Das Rubato erinnert mich irgendwie an diese Hundeleinen, die man per Knopfdruck arretieren bzw. freigeben kann - das soll natürlich nicht heißen, dass Chopin-Mazurken Hündchen sind... Aber ein untrügliches Gefühl für die perfekte Balance zwischen Freiheit und Strenge ist schon nötig, um die "subjektiven" Gestaltungsmittel geschmackvoll und schlüssig einzusetzen...
    Als Faustregel könnte gelten: Ohne gestalterische Freiheit ist Musik leblos, aber Freiheit in der Musik verpflichtet (wie auch im echten Leben) zur Verantwortung.


    LG! :hello:
    Daniel

  • Hallo Daniel,


    danke für deine Ergänzung.


    Natürlich ist auch das Vibrato ein wichtiges Ausdrucksmittel, bei dem es auf richtige Dosierung ankommt.
    Obwohl die Versuche, das Vibrato für verschiedene Stilrichtungen ganz zu verbieten, IMO unberechtigt sind. Auch auf alten Orgeln findet sich der Registerzug Tremulant, der die zugeführte Luft in SChwingungen versetzt. Ebenfalls das italienische Voce umana - Register, das mit dem SChwebungsphänomen arbeitet (eine um wenige Hertz "verstimmte" Pfeifenreihe - die Differenz ergibt die SChwebungsfrequenz...)
    das wären meine Argumente, um einen "natürlich schwingenden" Gesangston auch in Vorklassischen Zeiten zuzulassen...
    "Gerade" Töne haben einen eigenen Audruck, etwas zurückgehaltenes...


    Objektive Interpretation ist für mich ein längst überholtes Schlagwort aus den 20er Jahren...


    Daß die Anforderungen gewaltig gestiegen sind, sehe ich ebenfalls; daraus ergibt sich folgendes Problem: wieder am Beispiel Casals: man kann erstmal alles als romantisch abtun, als technisch nicht sauber...dann muß man die Bedeutung in einer "Bedeutung" suchen, die die Musik für ihn gehabt haben muß, in einer Einstellung zum Musizieren...also in eher "metamusikalischen" Eigenschaften, z.B: "Ehrfurcht vor dem Werk"
    Aus der Sichtweise eines Idealismus hat die Musik ganz andere BEdeutung - bishin zur Vermittlung philosophischer Überzeugungen (R.Strauss: Zarathustra...) können wir diese Sichtweise heute wirklich noch ähnlich anwenden?


    Ich bemühe mich nur, die Bedeutung früherer Interpreten herauszufinden, die die besten ihrer Zeit waren, aber auch uns als Vorbild dienen sollen, obwohl sie unseren Kriterien nicht so recht entsprechen...(Stilistik, Perfektion...)
    Zuerst möchte ich mich doch auf die tatsächlichen Unterschiede konzentrieren, bevor ein Vergleich von Weltanschauungen gewagt wird. (der IMO kein Ergebnis bringen kann...)
    Als wichtiger Vertreter einer philosohischen Musizierweise nenne ich Albert Schweitzer, IMO ein nebenberuflicher Orgelinterpret, dessen historische Bedeutung allzusehr auf die musikalische abgefärbt hat. (Ich nehme an, eine neutrale Diskussion ist schwierig...)


    Oh, jetzt bin ich wo anders gelandet...



    Zurück zum Portamento:


    Nachdem ich kein Aufnahmensammler bin,
    bitte ich alle um Beispiele: bei welchen Lieblingssängern gefallen euch die "Schleifer" am besten?
    wer überschreitet die Kitschgrenze?


    z.B: sind ja italienische Sänger - auch wenn sie das von sich behaupten - nicht die allerbesten Mozartinterpreten... - zuviel des Guten!

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

  • Zitat

    Original von tastenwolf
    Als wichtiger Vertreter einer philosohischen Musizierweise nenne ich Albert Schweitzer, IMO ein nebenberuflicher Orgelinterpret, dessen historische Bedeutung allzusehr auf die musikalische abgefärbt hat. (Ich nehme an, eine neutrale Diskussion ist schwierig...)


    Oh, jetzt bin ich wo anders gelandet...


    In der Tat, bei der zumeist praktizierten Heiligenverehrung für Schweitzer werden seine vielfältigen anderen Leistungen oft verdeckt und eine neutrale Diskussion ist schwierig. Während aber sein Lambarene-Engagement inzwischen vielfach kritisch als bestensfalls wohlmeinend herablassender Paternalismus gesehen wird (gerade aus der Sicht von Afrikanern gibt es z.T. noch viel weiter gehende Kritik), wird er m.E. als historisch bedeutende Persönlichkeit im Bereich des Orgelbaus, der Musikästetik (Monographie Bach) und als Orgelvirtuose bleiben. Auch wenn er nie Hauptberuflich Organist war, war er aber alles andere als ein Amateur, eine solchen Charakterisierung wäre weder seiner Ausbildung bei herausragenden Organisten seiner Zeit, u.a. Charles-Marie Widor, noch seinem Können gerecht.



    Nun aber zurück zum Thema Portamento


    Das sängerische Portamento wird m.E. immer noch am besten in der geliebten Gesangsschule von Niccolo Vaccai 1790-1848 ) mit zwei Gesangsstückchen und einem Erläuterungstext beschrieben (Lektion XIII, Beispiel 1: Vorei spiegar, Beispiel 2: O placido il mare):


    "Das Portamento der Stimme darf man nicht so verstehen, als sollte dieselbe, wie dies mißbräuchlich zu geschehen pflegt, von einem Ton zum anderen durch die Zwischenstufen hindurch gezerrt werden, es ist vielmehr ein Ton mit dem anderen vollständig in der Abgrenzung zu vereinigen.[...] Man kann das Portamento der Stimme (das Tragen der Töne) auf zweierlei Weise ausführen: Man nimmt erstlich fast unmerkbar mit dem Vokale der vorhergehenden Silbe den folgenden Ton voraus, wodurch namentlich bei Melodien von großer Grazie oder von tiefem Ausdruck eine gute Wirkung erzielt wird, sofern man, einen manirierten und monotonen Gesang vermeidend, den Vortrag hiermit nicht überladet. Oder zweitens (die weniger gebräuchliche Art): man verzögert fast unmerklich den Ton und setzt auf ihm schon die Silbe des folgenden Tones mit an".


    Beste Grüße


    Manuel García