Im Dschungel der Begriffe

  • Der Begriff „Moderne“ wurde geprägt, als man die Musik dieser Zeit tatsächlich als modern empfand. Die Zeit schreitet voran. Kann ich im Jahre 2020 oder gar 2050 die Musik Hindemiths noch als modern bezeichnen?


    Für meinen Hausgebrauch verwende ich folgende Begriffe. Ich gehe nach dem Geburtsdatum des Komponisten vor. Alles ab 1950 nenne ich „Komponisten der Gegenwart“, Zwischen 1910 und 1950 wähle ich als Überschrift „Zeitgenössische Komponisten“. Von 1900-1910, eine Zeit, die sehr fruchtbar war, habe ich die Einteilung „Musik nach der Jahrhundertwende“ geprägt. Von 1870 bis 1900 wende ich die Bezeichnung „Klassische Moderne an“


    Irgendwann wird alles nicht mehr zutreffen. Dann kommt eine Kategorie hinzu, die heißen wird: „Musik um die Jahrtausendwende“


    Um aber bei dem eingefleischten Begriff „Moderne“ zu bleiben, erlebt jede Nation den Anfang seiner Moderne, gemessen an dem deutsch-österrechischen Modul, entweder etwas früher oder etwas später.


    DÖ. Würde ich mit Pfitzner beenden und mit Zemlinsky die „Moderne“ beginnen lassen. In Frankreich wäre mit d’Indy Schluss, mit Debussy begänne das neue Zeitalter. Bei Russland würde ich den Schnitt wischen Rachmaninoff und Strawinsky ansetzen. In Italien begänne die „Moderne“ mit Respighi. Für England würde ich Walton als ersten modernen Komponisten bezeichnen.


    Gegen diese Einteilung gibt es Einwände. Ist die Elektra von R. Strauss etwa nicht modern? Rachmaninoff ist erst 1943 gestorben. Was ist mit Puccini? Die meisten Premieren seiner Opern fallen ins 20. Jahrhundert. – Alle Einwände sind berechtigt.


    Dann muss man noch unterscheiden zwischen Epochen und Stilrichtungen. Man spricht von Impressionismus und Verismo. Diese haben eigentlich nur für eine Nation Gültigkeit. Szymanowski als polnischen Impressionisten zu bezeichnen ist schon sehr willkürlich.
    Wohin gehört Janácek? Viele Komponisten durchlaufen mehrere Stilrichtungen.


    Was soll man aber machen, wenn alles so kompliziert ist?
    Auf das Einrichten von Schubladen verzichten! ?(


    Engelbert

  • Lieber Engelbert,


    du beschreibst ja selbst, wie uneindeutig die Grenzverläufe zwischen "Moderme"und den "Restepochen" verlaufen. Man könnte auch noch zwischen "Moderne" und "Avantgarde" unterscheiden. Man könnte diese "Avantgarde" auch noch in diverse Strömungen unterteilen, nach Anknüpfungspunkten sortieren usw. usf....


    Ich finde, dass diese Unterteilungen für das heutige Musikschaffen weitgehend hinfällig geworden sind. Ich glaube, gegenwärtige Komponisten wählen ihre Bezugspunkte sehr individuell, ohne sich deswegen einer bestimmten "Schule" einer Epoche, einem Stil, einer Strömung zuzuordnen. Diese "Schulen" (wie ich das jetzt man dilletantisch nenne) fassten das Schaffen einzelner Komponisten zusammen, waren also stets stilbildend im wahrsten Wortsinn epochemachend. Der 2. Weltkrieg war eine entscheidende Zäsur - danach musste sich das Musikleben (zumindest das "moderne") neu organisieren. Nachdem wenigstens in Deutschland die Tradition anfänglich vehement abgelehnt wurde (und die Ultraavantgarde ausbrauch), ist man im Umgang mit klassischen Formen, der Tonalität, Bezügen zur "Folklore" und zur Unterhaltungsmusik und konventionellen Instrumenten wieder deutlich entspannter geworden. Ich höre in Berlin des öfteren Uraufführungen (denn die Berliner Orchester sind recht Auftragsfreudig) und kann nicht behaupten, dass es eine verallgemeinerbare Linie in der NeueSTEn Musik gibt. Vieles empfinde ich als sehr individuell, unvergleichlich. Mir fällt da auf Anhieb Unsuk Chin ein, von der ich kurz hintereinander ein exzellentes, recht traditionelles, harmonisch einigermaßen durchschaubares Violinkonzert und eine Art Klangperformance für Percussion nebst einer kiste mit bunten, raschelnden Seidenpapieren hörte... Zwei tolle, sehr gegensätzliche Stücke, die von zwei unterschiedlichen Komponisten stammen könnten- Die Überwindung von Kategorien (oder wenigstens der manchmal recht erfolgreiche Versuch der Überwindung) ist das eigentlich moderne an der Gegenwartsmusik.


    Ich denke, man muss bestehende Brüche und die gelegentliche Unmöglichkeit einer Zuordnung akzeptieren können und sollte Musik in erster Linie ganz einfach HÖREN.


    LG :hello:
    Daniel

  • Lieber Engelbert,


    "Zeitgenössisch" hätte ich mit "gegenwärtig" gleichgesetzt, das wären also alle, die noch nicht gestorben sind, egal wie alt sie sind (können auch über 100 Jahre alt sein oder erst 16). Ich glaube, dass das auch die allgemein übliche Verwendung dieser Wörter ist.


    Wo die Moderne offiziell beginnt, bin ich mir nicht so sicher. Man kann sich überlegen, ob man Strauss, Mahler, Debussy, Janacek und Busoni dazuzählt oder nicht (da gibt es, denke ich, keinen Konsens), diese zu trennen macht aber meiner Meinung nach keinen Sinn.


    In England gibt es mit Brian, Foulds, Bliss und Sorabji deutlich ältere Komponisten als Walton, die auf jeden Fall zur Moderne zählen, bei Vaughan-Williams und Bridge mag man ja beim Frühwerk unsicher sein, die späteren Vaughan-Williams-Symphonien sind meiner Meinung nach aber nur in der Moderne zu Hause.


    Die Zuordnung zu den Ismen ist einwandfrei sowieso nur in Einzelfällen möglich. Das liegt aber wohl schon am Ablegen gemeinschaftlich gültiger "Regeln" und Vorstellungen, wie denn Kunst zu sein habe im 20. Jahrhundert. Wo es nichts gibt, was alle bindet, so kann jeder seine persönliche Lösung zwischen hier und da entstehenden Ismen suchen. Diese sollten aber nicht zu weit aufgeblasen werden, damit sie nicht bedeutungslos werden. Zemlinsky und Szymanovsky hat man, glaube ich, versuchsweise mit dem Jugendstil in Verbindung gebracht.


    Mindestens genauso schwer scheint mir die Abgrenzung zwischen tonal und atonal. Allein die Vorstellung, die Komponisten der 1. Jahrhunderthälfte und ihre Werke da schubladisieren zu sollen, verursacht mir Magenbeschwerden (von eindeutig zuordnenbaren Ausnahmen natürlich abgesehen).