Das Spätwerk

  • Theodor Wiesengrund Adorno meinte die Spätwerke bedeutender Komponisten wiefolgt einschätzen zu müssen:


    „Die Reife der Spätwerke bedeutender Künstler gleicht nicht der von Früchten. Sie sind gemeinhin nicht rund, sondern durchfurcht, gar zerrissen; sie pflegen der Süße zu entraten und weigern sich herb, stachlig dem bloßen Schmecken; es fehlt ihnen all jene Harmonie, welche die klassizistische Ästhetik vom Kunstwerk zu fordern gewohnt ist.“


    Geht für Euch von Spätwerken bestimmter Komponisten eine besondere Anziehungskraft/eine besondere Faszination aus? Meint Ihr, es handele sich um besonders verinnerlichte, kompromißlose Musik, die beim "breiten Publikum", im Vergleich zu vorangegangenen Werken, "oftmals auf Miß- und Unverständnis stößt?"

  • Hallo Tom,


    Es gibt zwei Kategorien von Komponisten.


    Die einen erleben ihre Blütezeit in der Jugend und sind danach ausgebrannt. Die anderen schichten in der Jugend ihren ersten Müll um dann im Alter zur Hochform aufzusteigen. Dann gibt es noch eine Gruppe, die mit nur einem einzigen Werk zu Weltruhm gelangt,
    obwohl der Einzelne quantitativ etliches geschaffen hat.


    Bezogen auf Opernkomponisten gehören zur ersten Gruppe Richard Strauss, der mit Salome, Elektra und Rosenkavalier zeitlose Meisterwerke hervorgebracht und zu Ende seines Lebens auf dem Gebiet der Oper vorwiegend Müll produziert hat.


    Für die zweite Kategorie nenne ich Verdi. Die Jugendwerke haben
    teils ein unerträgliches Libretto und der Kompositionsstil ist temperamentvoll und animalisch. Die beiden Spätwerke "Otello" und "Falsstaff" werden von vielen als seine besten gelobt.


    Leoncavallo und Mascagni begründen ihren Weltruf mit nur einem einzigen Werk. Beethoven gelang nur eine einzige Oper, wenn man von der Vorstufe Leonore absieht.


    Lustigerweise lenken einige Komponisten ihren Ehrgeiz so, wenigstens
    eine komische Oper zu produzieren: Tschaikowsky mit "Wakula der Schmied (Neufassung: Das Pantöffelchen) und Meyerbeer mit "L'Etoile du Nord".


    Häufig hängt die Qualität von Kompositionen davon ab, welche persönlichen Schicksalsschläge der Komponist erleidet, die er dann in der Schaffung eines überragenden Musikwerkes versucht, zu neutralisieren (Janacek).


    Grundsätzlich kann man nicht sagen, dass die Spätwerke die besseren sind. Der Jugend gehört das Temperament und dem Alter die Reife, sehr pauschal von mir formuliert.


    Gruß
    Engelbert

  • Hi


    Zitat

    Bezogen auf Opernkomponisten gehören zur ersten Gruppe Richard Strauss, der mit Salome, Elektra und Rosenkavalier zeitlose Meisterwerke hervorgebracht und zu Ende seines Lebens auf dem Gebiet der Oper vorwiegend Müll produziert hat.


    Entschuldige, aber das ist Unsinn. Bei allen diesen Werken war Strauss bereits über 40! Und Schubert, Mozart, Bizet, Mendelssohn etc. in diesem Alter längst tot! Da kann man wohl nicht von einem ausgebrannten Jugendlichen schreiben! ;)

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Salut,


    ich halte das Wort 'Spätwerk' auch nicht für bezeichnend und aussagekräftig:


    Im übertragenen Sinne müsste es wie 'Spätlese' etwas 'Besonderes' sein, wobei auch dies wiederum Geschmacksache ist - es ist maximal eine zeitliche Eingrenzung.


    Wäre Mozart beispielsweise 1826 gestorben, hätten wir ein ganz anderes 'Spätwerk' dieses Komponisten. Da er ja nicht wußte, wann er sterben wird, konnte er wohl kaum ein bestimmtes 'Spätwerk' kreieren.


    Dass sogenannte Spätwerke in aller Regel 'reifer' sind, als Jugendwerke, ergibt sich zwangsläufig. Einen Mangel an Süße kann ich Mozarts 'Zauberflöte' beispielsweise nicht entnehmen.


    Cordialement
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Zitat

    Original von Ulli


    Wäre Mozart beispielsweise 1826 gestorben, hätten wir ein ganz anderes 'Spätwerk' dieses Komponisten. Da er ja nicht wußte, wann er sterben wird, konnte er wohl kaum ein bestimmtes 'Spätwerk' kreieren.


    Hallo,


    bezogen auf Mozart mag das möglicherweise zutreffend sein. Aber z.B Bach, Beethoven, Bruckner, die ja auch Werke im Bewußtsein eines zuende gehenden Lebens komponiert haben? Was mag z.B Beethoven dazu veranlaßt haben ein Werk wie seine "Große Fuge" op. 133 zu schreiben?


    Möglicherweise verhält es sich auch so, daß gerade das Spätwerk von nachfolgenden Komponisten zum Anlaß genommen wurde, ihre eigenen Kompositionsansätze zu entwickeln, sozusagen das Spätwerk als Herausforderung zu begreifen.


    LG

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  • Theophilus


    Ich habe Richard Strauss nicht als "ausgebrannten Jugendlichen" bezeichnet, sondern gesagt dass drei Frühwerke: Salome, Elektra und Rosenkavalier seine Hauptwerke sind. Danach ging es im Zickzack bergab, soweit es das Opernschaffen betrifft.


    Bis auf Danae und Friedenstag, die es zur LP-Zeit noch nicht gab,
    besitze ich alle. Die individuelle Wertschätzung der Straussopern in folgender Reihenfolge: Elektra, Daphne, Salome, Rosenkavalier, dann weniger Arabella und Ariadne, wo mir die Textbücher nicht gefallen.


    Zum Schönsten was jemals überhaupt komponiert wurde: Erkennungsszene aus Elektra, Schlussgesang Daphne, Überreichnung der silbernen Rose, Schlussgesang Salome. In Arabella sind auch zwei schöne Sachen. Frau ohne Schatten hat ein sehr symbolträchtiges Libretto, und zum Aufnehmen der Ariadne gehört sehr viel Bereitschaft.


    Das Liedschaffen schätze ich sehr noch ein. Leuchtkräftiger Sopran allerdings erwünscht. Im Ohr haften: In diesen Wintertagen und
    Ich trage meine Minna vor Wonne stumm.. :)


    Die Sinopoli-Einspielung der "Josephs-Legende" muss ich mir noch zulegen. Es gibt kaum abendfüllende Handlungsballette deutscher Komponisten. Im Prinzip ist meine Einstellung zu Richard Strauss: pro.


    Gruß
    Engelbert


    Anmerkung
    zweites Mal editiert, da erstes Mal Übertragungspanne, mit Ullis Beitrag kollidiert und automatisch gelöscht.

  • Salut,


    im Sinne dieser Interpretation von 'Spätwerk' müsste dann ein jedes Werk von Mozart ein solches sein:


    ich lege mich nie zu bette ohne zu bedenken daß ich vielleicht /:so Jung als ich bin:/ den andern tag nicht mehr seyn werde


    [04. April 1787]


    :hello:


    Cordialement
    Ulli

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    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Hi


    Zitat

    Aber z.B Bach, Beethoven, Bruckner, die ja auch Werke im Bewußtsein eines zuende gehenden Lebens komponiert haben? Was mag z.B Beethoven dazu veranlaßt haben ein Werk wie seine "Große Fuge" op. 133 zu schreiben?


    Ich gestehe zu, bei Beethoven von einem Spätwerk zu sprechen. Immerhin war er einmal schwer krank und sich der Todesnähe bewusst. Man sehe das kompositorische Ergebnis im großen Satz von Op.132. Dennoch starb er dann letztlich unerwartet, nachdem er sich bei einem Ausflug - von Schlechtwetter überrascht - so schwer verkühlt hatte, dass sein geschwächter Körper die folgende Lungenentzündung nicht mehr bewältigen konnte. Er konnte also nicht auf sein Ende hin komponieren, wie etwa Bach oder Bruckner.


    Nur wenigen Komponisten war es vergönnt, ihr Werk bewusst abgeschlossen zu haben. Vor allem dort kann man guten Gewissens von echten "Alterswerken" sprechen. Verdi und Haydn fallen mir da als erste ein, Wagner dürfte auch dazu gehören. Der Großteil wurde aber aus seinem aktiven Schaffen herausgerissen, und dann kann es späte Werke geben, die man als Alterswerke bezeichnen kann, wie etwa bei Beethoven. Mozart wäre ein Grenzfall, obwohl jung an Jahren war er als Komponist ein "alter Hase", und eine Jupitersymphonie würde wohl in jeder Hinsicht als ein reifes Spätwerk durchgehen können...

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Hallo Engelbert



    Salome, Elektra und Rosenkavalier sind keine Frühwerke, sondern Ergebnisse im reifen Mannesalter in seiner höchsten Schaffenskraft. Deine Charakterisierung stimmt hier einfach nicht. Nimmt man zu dieser Trias richtigerweise noch Ariadne und FroSch dazu, sind wir bei Strauss im Zentrum seines kompositorischen Lebens und nicht in einer "jugendlichen Blütezeit".

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Soweit ich weiß ist die Idee des "Spätwerks" erst in der Beethoven-Rezeption entstanden. Hier paßt Adornos Aussage ja auch einigermaßen und wenn man diese Idee einmal hat, findet man ähnliche Züge vielleicht auch im "Spätwerk" einiger anderer Komponisten (wie üblich in solchen Fällen sieht man großzügig über die Fälle, in denen es gar nicht paßt, hinweg...), z.B. bei Bach, Brahms oder gar Schubert.
    Auf jeden Fall müßte man unterscheiden zwischen den letzten Werken eines schwerkranken Komponisten, der davon ausgehen kann, nicht mehr lange zu leben, aber noch recht jung ist (Schubert, vielleicht Chopin) und einen tatsächlich alten Künstler. Obwohl bei Beethoven das "Spätwerk" relativ klar abtrennbar und einigermaßen plausibel charakterisierbar ist, war der weder besonders alt noch lange krank; er hätte also durchaus noch 10 weiter Jahre leben können, wer weiß wie wir dann die heute als Spätwerk bezeichneten Stücke nennen würden. Beispiele tatsächlich alter Künstler mit charakteristischen Alterswerken sind wohl Verdi und Strauss. Haydn dagegen paßt m.E. ganz schlecht. In den letzten ca. 5-7 Jahren war er zu schwach zum komponieren, in den Werken davor, besonders den Quartetten op. 76 und 77 kann ich wenig Altersweisheit erkenne, sondern einen ungebrochene Experimentierfreude (o.k. das gilt auch für Beethovens späte Quartette...) erkennen. Bei Bach verstärkt sich einfach das schon lange vorhandene Interesses an "reiner" Musik und kontrapunktischen Künsten.



    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
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  • Hallo JR


    Zitat

    Auf jeden Fall müßte man unterscheiden zwischen den letzten Werken eines schwerkranken Komponisten, der davon ausgehen kann, nicht mehr lange zu leben, aber noch recht jung ist (Schubert, vielleicht Chopin) und einem tatsächlich alten Künstler.


    Chopin passt meines Erachtens. Er litt an Schwindsucht, was einen typischen Krankheitsverlauf besitzt. Schubert eher nicht. Zwei Monate vor seinem Tod konnte er noch nicht damit rechnen. Ihm erging es ähnlich wie Beethoven (und vielleicht auch Mozart?). Eine geschwächte Konstitution kann einer neuen Krankheit nicht mehr Herr werden, die ein gesunder Körper möglicherweise überstanden hätte, oder sogar gar nicht erst bekommen hätte.


    Bei Haydn ist mein derzeitiger Wissensstand, dass er sich "aktiv" in den kompositorischen Ruhestand begeben hat. ;) Tatsächlich wurden seine späten Symphonien und seine beiden großen Oratorien schon zu Lebzeiten als krönende Alterswerke eines bedeutenden Komponisten gefeiert. In dieser Form vielleicht überhaupt erstmals in der Musikgeschichte.


    Strauss fällt natürlich auch in diese Kategorie. Seine Beurteilung schwankt in der Musikwelt. Manche meinen, er habe seinen kompositorischen Zenit in der Mitte seines Lebens überschritten, andere finden seine letzten Werke als die gehaltvollsten. Offenbar eine Frage des Standpunkts des Betrachters...

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Zitat

    Original von Theophilus


    Chopin passt meines Erachtens. Er litt an Schwindsucht, was einen typischen Krankheitsverlauf besitzt. Schubert eher nicht. Zwei Monate vor seinem Tod konnte er noch nicht damit rechnen. Ihm erging es ähnlich wie Beethoven (und vielleicht auch Mozart?). Eine geschwächte Konstitution kann einer neuen Krankheit nicht mehr Herr werden, die ein gesunder Körper möglicherweise überstanden hätte, oder sogar gar nicht erst bekommen hätte.


    Ich bin mit Chopins Werken nicht gut genug vertraut, aber er ist ein Fall, wo ich nicht leicht einen wesentlichen Unterschied zwischen relativ frühen (von ganz frühen mal abgesehen wie andannte + polonaise brillante) und späten Werken finde....aber er war ja auch jahrelang schwindsüchtig...
    Bei Schubert sind zumindest Legenden im Umlauf, die deiner Aussage widersprechen, ich weiß es nicht. Problematisch scheint mir sein Fall eher, weil er (selbst wenn z.B. die C-Dur-Sinfonien schon von 1825 stammt, wie man wohl inzwischen vermutet) erst in den letzten ca. 4 Lebensjahren zur vollen Ausprägung seines Personalstils (jedenfalls in der Instrumentalmusik) gefunden hat. Die ersten herausragenden reifen und individuellen Werke sind gleichzeitig die "Spätwerke"?!?! Diese Kategorisierung bringt m.E. einfach nicht viel (irgendwie fürchte ich, dass das allgemein für "Spätwerk" gilt, von ein paar Ausnahmen abgesehen).


    Zitat


    Bei Haydn ist mein derzeitiger Wissensstand, dass er sich "aktiv" in den kompositorischen Ruhestand begeben hat. ;) Tatsächlich wurden seine


    Ich weiß nicht, ich habe irgendwo gelesen, dass er (worauf u.a. das unvollendete Quartett op. 103) deutet, zwar noch gerne weiterkomponiert hätte, aber einfach wohl konzentrationsmäßig (?) nicht mehr in der Lage war, seine Einfälle auszuarbeiten (Rosen schließt das u.a. daraus, dass bei diesem Quartett nur die Mittelsätze,die anscheinend leichter fielen als der Kopfsatz fertiggestellt wurden).
    Gewiß wurden die Londoner Sinfonien und die Oratorien als Höhepunkt und Abschluß empfunden. Ich finde aber, dass die übliche (eben von Beethoven und vielleicht noch Bach) abgeleitete Charakterisierung von "Spätwerk" als hermetisch nicht zutrifft (Im Gegenteil ist z.B. dei Sinfonie #94 gewiß populärer als #44 oder 49, nicht nur weil sie heute bekannter ist, sondern weil sie volkstümlicher komponiert ist). Als "Resumée" dagegen kann man die Oratorien wohl durchaus verstehen.


    viele Grüße


    JR

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  • Zitat

    Original von tom
    bezogen auf Mozart mag das möglicherweise zutreffend sein. Aber z.B Bach, Beethoven, Bruckner, die ja auch Werke im Bewußtsein eines zuende gehenden Lebens komponiert haben? Was mag z.B Beethoven dazu veranlaßt haben ein Werk wie seine "Große Fuge" op. 133 zu schreiben?


    Das Quartett brauchte halt noch ein Finale :D
    Im Ernst, praktisch nichts von Beethovens "Spätwerk" klingt für mich nach einem Todeskandidaten, der damit rechnet, demnächst zu sterben. Werke von großer Radikalität hat er auch schon vorher geschrieben (und es gibt wohl auch Belege dafür, dass er sich der Herausforderung für Interpreten und Rezipienten bewußt war "Wird ihnen schon noch gefallen").
    Bei Bruckner (aber da mögen die Experten widersprechen), der ja ohnhin ein Spätzünder wahr, sehe ich kein abgetrenntes Spätwerk, sondern eine kontinuierliche Fortentwicklung eines (oder einiger sehr ähnlicher) sinfonischer Konzepte. Durch die ständigen Neufassungen und Überarbeitungen ist ein Nichtexperte ja völlig außerstande zu behalten, welches Werk nun in welcher Gestalt welcher Schaffensphase zuzuordnen ist.
    Bei Bach (hier datiert man, wenn ich recht informiert bin, inzwischen die Kunst der Fuge ja auch zumindest in Teilen schon in die Mitte der 1740er Jahre) paßt m.E. sehr gut der "Resuméecharakter" des Spätwerks (Zusammenstellung/Komposition der h-moll-Messe) zusammen mit einer Konzentration auf ein ohnehin schon länger vorhandes Hauptinteresse (nämlich 20 Jahre vorher beim WTK I oder den 6 Solosonaten f. Violine), dem exemplarischen Ausloten der Möglichkeiten des polyphonen Tonsatzes (oder wie immer man das nennen sollte).


    Zitat


    Möglicherweise verhält es sich auch so, daß gerade das Spätwerk von nachfolgenden Komponisten zum Anlaß genommen wurde, ihre eigenen Kompositionsansätze zu entwickeln, sozusagen das Spätwerk als Herausforderung zu begreifen.


    Vielleicht bei Beethoven, vermutlich der erste, bei dem ein Spätwerk als solches wahrgenommen wurde. Aber andererseits scheinen mir die sogenannte "mittleren" Werke einen stärkeren Einfluß auf Schumann, Brahms etc. auszuüben, vom Spätwerk hautpsächlich die 9. Sinfonie.
    Ob Schubert Beethovens letzte Quartette überhaupt noch gekannt hat, ist mir nicht klar (ich glaube nicht). Wenn es Bezüge zu geben scheint, dann auch eher zu den Werken vorher.
    Mendelssohns Quartette op. 12 & 13 sind u.a. deshalb so erstaunlich, weil er in dieser Zeit weit und breit der einzige zu sein scheint, der sich ziemlich unmittelbar vom späten Beethoven beeinflussen läßt.


    Es gab bei Zweitausendeins mal eine Sammlung von Msuik mit einem Buch oder Essay von J.E. Behrendt zum "Spätwerk"? Kennt die jemand (mir war sie seinerzeit zu esoterisch und zu teuer, das Buch leider nicht einzeln erhältlich)


    viele Grüße


    JR

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  • Hallo JR,


    meine Aussage bezüglich Chopin und Schubert bezog sich lediglich auf ihr physisches Ende. Chopin wusste eine Zeit lang, dass er sterben würde, Schubert ist sicher unerwartet so jung verstorben. Beide waren so jung, dass man kaum von Alterswerk sprechen kann, bei Chopin könnte man immerhin untersuchen, ob die Werke seines letzten Jahres z.B. sich irgendwie verändern...

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Heinrich Schütz ist einer, dem es am Ende seines langen Lebens vergönnt war, bewußt ein opus ultimum zu schreiben. Unter dem Titel "Schwanengesang" findet sich die Vertonung des längsten aller Psalmen, der Nummer 119, dazu Psalm 100 und ein deutsches Magnificat. Im Jahr vor seinem Tode wurde das Werk fertiggestellt. Es ist ein wahrhaft würdiger Abschluß des Schützschen Oeuvres.


    Der orginale Titel von Schütz lautet: Königs und Propheten Davids Hundert und Neun-zehender Psalm in elf Stükken, Nebenst dem Anhange des 100. Psalms: Jauchzet dem Herrn! und eines deutschen Magnificats: Meine Seele erhöbt den Herrn, mit acht Stimmen auf zweien Köhren über die gewöhnlichen Kirchen-Intonationen componieret und zur Churfürstlich Sächsischen Hoff Capella zum Loobe Gottes verehret von Heinrich Schüzen, Churfürstlich Sächsischen ältesten Capellmeistern.


    Schon die Zeitgenossen sprachen aber vom Schwanengesang, z.B. Constantin Christian Dedekind: "...Herr Schüzze kurz vohr seinem seeligen Ende den sonst wohl von keinem Componisten noch vohrgenommenen langen 119. Psalm unter dem Titul des Schwahn-Gesangs (zweifelsohne, weil er solchen für seinen lätsten gehalten) heroisch und kunstvöllig mit 8 Stimmen auff 2 Chören zugebrauchen fleissig componiret..."



    Thomas

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

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  • Hallo,


    wie sieht es mit Tschaikowsky aus, der bekanntlich versucht hat, sich das Leben zu nehmen?
    Die "Pathètique" dürfte dann doch eindeutig als Spätwerk, als Abschlusswerk gesehen werden. Hat er danach noch was Anderes gemacht?


    Brahms war sich seines Todes auch bewusst, hatte aber seine kompositorischen Ziele erreicht. Eigentlich schon mit seinem op. 68. Danach hätte er aufhören können.
    In seinem Spätwerk wandte er sich der Klarinette zu und komponierte zudem einige schöne Orgelstücke. Bei Brahms habe ich aber den Eindruck, dass er keine typische Reifeentwicklung durchlebt hat. Seine Frühwerke standen zwar noch unter starkem Einfluss Beethovens und Schumanns, sie zeugen aber schon von seiner persönlichen Musiksprache, die ihn zeit seines Lebens begleitet hat.



    Gruß, Peter.

  • Zitat

    Hat er danach noch was Anderes gemacht?


    Meiner Erinnerung nach starb er ca. 1 Woche nach Uraufführung der Pathétique...

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Alban Berg in einem Brief an seine Frau aus dem Jahr 1912:


    "Ich habe wieder einmal die 9. Symphonie Mahlers durchgespielt. Der erste Satz ist das allerherrlichste, was Mahler geschrieben hat. Es ist der Ausdruck einer unerhörten Liebe zu dieser Erde, die Sehnsucht, im Frieden auf ihr zu leben, sie, die Natur, noch auszugenießen bis in ihre tiefsten Tiefen - bevor der Tod kommt. Denn er kommt unaufhaltsam. Dieser ganze Satz ist auf die Todesahnung gestellt. Immer wieder meldet sie sich... am stärksten natürlich bei der ungeheuren Stelle, wo diese Todesahnung Gewißheit wird, wo mitten in die 'höchste Kraft' schmerzvollster Lebenslust, 'mit höchster Gewalt' der Tod sich anmeldet - dazu das schauerliche Bratschen- und Geigensolo und diese ritterlichen Klänge: der Tod in der Rüstung. Dagegen gibt's kein Auflehnen mehr...".


    Im Bewußtsein von Todesahnung komponiertes, vorbehaltlich des dann noch folgenden Fragments der 10.Symphonie, abschließendes Spätwerk?

  • Hallo zusammen,


    zu den sog.Spätwerken zählt auch Richard Wagners 1882 in Bayreuth uraufgeführtes Bühnenweihfestspiel "Parsifal".
    Acht Jahre sind seit dem "Ring" vergangen und der Meister hat in dieser Zeit eine Abgeklärtheit erlangt,die man bei seinem letzten Werk hört und spürt.
    Weitere Einzelheiten hierzu sollen jedoch dem Opernführer vorbehalten bleiben.

    Freundliche Grüße Siegfried

  • Mahlers Lied von der Erde, 9. und 10. Sinfonie können wohl als Spätwerke gelten; jedenfalls hatte sich Mahler wohl schon vor der Diagnose der Herzkrankheit in eine Art Todesfixation hineingesteigert. Die Stücke unterscheiden sich auch teils recht deutlich von den früheren Sinfonien (wobei die 7. irgendwo dazwischensteht und die 8. ein Sonderfall ist)


    Brahms wollte tatsächlich mehrmals aufhören zu komponieren, einmal glaube ich schon nach der 4. Sinfonie, gewiß aber nach seinem op. 111, dem G-Dur-Quintett. Aus diesem Ruhestand hat ihn u.a. der Klarinettist Mühlfeld geholt. Die späten Klavierstücke op.116-119, die Klarinettenwerke und die "Ernsten Gesänge" (und noch ein par Orgel oderr Chorstücke?) bilden ein Spätwerk, obwohl ich zumindest keine ins Auge springenden stilistischen Unterschiede zu den früherer Klavierstücken op.76 und den Rhapsodien sehe, so ist die Stimmung vieler der späten Stücke doch noch melancholischer und die Formulierung lakonischer als es bei Brahms ohnehin der Fall ist.
    Brahms selbst dürfte das mit der "Reifeentwicklung" wohl anders gesehen habe. Obwohl ihm als 20jähriger ein Wurf wie die f-moll-Sonate gelungen ist, später das 1. Klavierkonzert und das deutsche Requiem macht er mit ausweichenden Serenaden usw. weiter, beschränkt sich auf Vokal- und Kammermusik, bis dann endlich nach über 20 Jahren die 1. Sinfonie draußen war. Dann folgen ca. 10 Jahre, in denen er sich offenbar seiner Sache sicher war, alle übrigen Orchesterwerke sind in dieser Zeit entstanden. In den letzten 10 Lebensjahren nach der 4. Sinfonie folgt dann eine Zeit, in der die Antriebskraft offenbar etwas lahmte, obwohl die Werk, die entstanden, wenn er sich entschloß, etwas zu schreiben, natürlich großartig sind.


    viele Grüße


    JR

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  • Hallo,


    im Falle von Richard Strauss wundere ich mich immer wieder, dass er kurz nach dem zweiten Weltkrieg so etwas wie die Vier letzten Lieder geschrieben hat. Auf dieses Spätwerk trifft TWAs Beschreibung keinesfalls zu. Es ist purer Wohllaut, vor allem mit Janowitz/Karajan.


    Freundliche Grüße


    Heinz Gelking

  • Zitat

    Original von heinz.gelking
    im Falle von Richard Strauss wundere ich mich immer wieder, dass er kurz nach dem zweiten Weltkrieg so etwas wie die Vier letzten Lieder geschrieben hat. Auf dieses Spätwerk trifft TWAs Beschreibung keinesfalls zu. Es ist purer Wohllaut, vor allem mit Janowitz/Karajan.


    Nichts gegen 4LL, aber für den späten Strauss (wohl schon den Strauss ab Rosenkavalier) reicht TWAs "Reaktionärskala" vermutlich nicht aus. ;)
    Allerdings paßt seine Beschreibung außer bei Beethoven vermtulich eh selten...


    viele Grüße


    JR

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  • Hallo,


    Weiter oben wurden bereits Unterteilungen versucht. Ich finde, folgende Unterteilung macht ebenfalls Sinn:


    Es gibt, um es krass und modellhaft zu skizzieren, Komponisten zweierlei Typen. Die einen komponieren eine gewisse Zeit ihres kompositorischen Lebens sehr dynamisch, suchend, vorwärtsstrebend und möglicherweise gewagt, um dann gereift, im Besitz des "Gefundenen", verhältnismäßig gleichbleibend und aus dem Erworbenen schöpfend die "späte Periode" zu füllen. Die anderen komponieren, von der ihnen gegönnten frühen Jugendzeit abgesehen, von vornherein bis zum Alter sehr linear und gefestigt, Suchen und Gefundenhaben verwischen dabei sehr. Ein "Spätwerk" lässt sich bei diesen Komponisten nicht so klar ausmachen.


    Zu den ersteren möchte ich, alles nur tendenziell, Beethoven, Brahms und Reger, zu den zweiten Strawinsky, Schönberg und Bartok nennen.


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Hallo,


    Bisher wurden eigentlich immer nur Überlegungen angestellt, ob denn ein Komponist hier sein nahendes Ende ahnen konnte, wenn irgendwelche Symptome vorlagen etc., aber meines Erachtens darf man auch Ahnungen, die sich dieser rationalen Begründbarkeit entziehen, nicht vernachlässigen. Und eben dafür vermögen wir aber keine solchen Beweise zu bringen, die Diskussion könnte ins Leere führen. Es ist klar, daß man Legenden, die sich so nicht zugetragen haben, möglichst durch Argumente und Beweise aufklären sollte, aber ich halte beim Thema über irdisches Ableben und Wissen darum bei den Personen selbst für Themen, die einfach weitergehen und eben nicht einfach wissenschaftlich begründbar sind.


    Der Begriff "Spätwerk" als Einschnitt, wird wohl eher selten vorzufinden sein, da das gesamte kompositorische Werk ein Fluß und beständiger Prozess ist.


    Meines Erachtens aber kann man bei Brahms' Klavierstücken schon einen stilistischen Unterschied zu Vorgängerwerken feststellen. Die Tonsprache ist vielmehr geprägt von zarter Lyrik und auffallend vielen Septklängen wie in seinen Intermezzi, die schon fast transzendent anmuten.


    Viele Grüße,
    Daniel

  • Hallo Uwe



    Eine interessante Theorie. Aber die Einordnung von Beethoven will mir nicht so recht schmecken. Kaum ein anderer Komponist ist derart permanent auf der Suche nach neuen musikalischen Gefilden wie er. Jede Symphonie ist etwas völlig Neues, bei seinen Klaviersonaten wird es bis zum Schluss immer komplexer und aufwändiger, genauso bei den Streichquartetten. Es gibt kein von dir angesprochenes, gleichbleibendes Spätwerk. Er bleibt Prometheus bis zum Schluss...

    Ciao


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  • Hallo Theophilus,


    auf Deinen Beitrag habe ich zwei Reaktionen:


    Einerseits empfinde ich die sog. Späten Streichquartette, die Missa Solemnis sowie die 9. Sinfonie als eine Konklusion, als ein Zusammenfassen des Vorher-Erlebten. Für meine Empfindung haben diese Werke nahezu den selben Ton, die selbe Sprache und den selben Hang, bisherige Grenzen "unauffällig" aufzulösen.


    Andererseits hast Du völlig recht: das permanente Suchen nach Neuem ist bei Beethoven keine oberflächliche Sache, sondern Ausdruck eines von Innen gefestigten und selbstsicheren Wissens um das, was er will.


    Nachdem Du mich nun zu Recht verunsichert hast, muss ich sagen, dass die gegenteilige Einordnung ebenfalls zu rechtfertigen ist.


    Gruß,


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Zitat


    Geht für Euch von Spätwerken bestimmter Komponisten eine besondere Anziehungskraft/eine besondere Faszination aus?


    Ja.


    Zitat


    Meint Ihr, es handele sich um besonders verinnerlichte, kompromißlose Musik, die beim "breiten Publikum", im Vergleich zu vorangegangenen Werken, "oftmals auf Miß- und Unverständnis stößt?"


    Neben Mahler, der schon genannt wurde, gibt es nur zwei andere Komponisten, deren späte Werke eine besondere Faszination auf mich ausüben und die dadurch für mich einen herausragenden Stellenwert einnehmen. Es sind Schostakowitsch und Nono. Schostakowitschs letzte beiden Symphonien und das letzte Streichquartett sind mir die drei liebsten Werke seines Schaffens.
    Nono wurde im Alter richtig leise, im wahrsten Sinn des Wortes. Werke wie "No hay caminos, hay que caminar" oder "La lontananza nostalgica utopica futura" wirken auf mich sehr beruhigend. Sie haben eine ganz andere Atmosphäre als die Spätwerke von Schostakowitsch, sind aber ähnlich unbombastisch. Eine Gemeinsamkeit zwischen Schostakowitschs fünfzehnter Symphonie und "La lontananza..." sehe ich auch darin, dass die Werke geheimnisvoll wirken, einem nie alles offenbaren. Gerade deswegen kann ich sie immer wieder hören, ohne jemals auch nur annähernd übersättigt zu sein... "Lontananza..." habe ich leider bisher nur auf CD gehört... :(

    Einmal editiert, zuletzt von Myschkin ()

  • Ich möchte zwei Komponisten nennen, deren Spätwerk durch Verinnerlichung, Reduktion aufs Wesentliche und Abgeklärtheit gekennzeichnet ist:


    Malipiero (man vergleiche die herbe Strenge seines letzten Streichquartetts mit den Vorgängerwerken!)
    Mompou (Musica Callada ist ein sehr schönes Beispiel für diese Tendenz)

  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister
    Ich möchte zwei Komponisten nennen, deren Spätwerk durch Verinnerlichung, Reduktion aufs Wesentliche und Abgeklärtheit gekennzeichnet ist:


    Malipiero (man vergleiche die herbe Strenge seines letzten Streichquartetts mit den Vorgängerwerken!)
    Mompou (Musica Callada ist ein sehr schönes Beispiel für diese Tendenz)


    Ohh, Du kennst die StrQuart von Malipiero :jubel:
    Leider sind sie noch nicht in meinem Besitz.
    Ich glaube, daß wir mit Malipiero einen der "ganz großen" des 20. Jhd. haben, dessen Bedeutung zu uns - vorsichtig formuliert noch nicht durchgedrungen ist - negativ formuliert: nicht durchdringen konnte. Was sehr schade ist.



    Dann will ich aber auch einmal mit einem Komponisten aufwarten: Carl Nielsen.


    Seine letzte, 6. Symphonie - "Sinfonia semplice" entstand in den Jahren 1924/1925, als Nielsens Gesundheitszustand schon stark angeschlagen war und sollte "ganz und gar idyllisch" angelegt sein, wie er seine Tochter wissen ließ. Pustekuchen. Was sich hier offenbart, ist Nielsens bis dato eigentümlichster, fortschrittlichster Beitrag zur Gattung der Symphonie. Das ganze Werk ist durchzogen von Stimmungsschwankungen, schroffen Gegensätzen und immer wieder einbrechenen "Klangkatastrophen". Der zweite Satz, mit Humoreske betitelt, wird zu einem aberwitzigen Duell einer kleinen Trommel gegen die Melodieseligkeit verschiedener Holszbläser, welche bis zu jaulenden Glissandis führt.


    Es badarf keiner allzu großen Fantasie, dieses Werk als eine Auflehnung gegen den Tod zu verstehen. Hier gesellen sich Trotz, Wehmut, schwarzer Humor, Abschiedsgedanken, Entsetzen und Resignation.


    Nielsen verneint hier den Idealismus der Symphonie, der schon beim späten Mahler mit Zweifeln bedacht wurde.