Daniel Behrendt: Unverzichtbare Klassikaufnahmen

  • Liebe Forianer & Mitleser,


    Da habe ich ganz nassfosch 20 Scheiben einfach als "Bestenliste" in diesen Thread gestellt, bis man mich freundlich daran erinnerte, dass es beschlossene Sache unter den Taminoanern ist, dass die CD-Empfehlungen einzeln und kommentiert abgegeben werden.
    Also, hoch und heilig versprochen: Ich werde die Titel Stück für Stück abarbeiten.


    Anfangen möchte ich mit:


    Scheibe des Herzens Nr.1:


    Richard Strauss: Vier letzte Lieder - Mit Engeln fliegen


    Lisa della Casa/Karl Böhm/Wiener Philharmoniker
    Aufnahme: 1953
    Label: Regis/Decca Legends


    1948, ein Jahr vor seinem Tod, schreibt der hochbetagte Richard Strauss in der Schweiz seine Vier letzten Lieder, die wie ein allerletzter Gruß der Spätromantik an die anbrechende zweite Hälfte des 20.Jahrhunders anmuten und zum Schwanengesang des Komponisten wurden.
    Hier herrscht ein kupfernes Leuchten voller Milde und Wärme, das
    zutiefst berührt.
    Je müheloser die Sopranistin die häufigen stimmlichen Aufschwünge in die Vollhöhe meistert, desto mehr Glück kann eine Aufnahme der 4 letzten Lieder schenken. Ich bevorzuge schlanke, leicht geführte Stimmen mit einem sehr hellen Timbre. Über diese Reize verfügen zwei von mir besonders geschätzte Sängerinnen: Die berühmte Elisabeth Schwarzkopf (von der man zwei Einspielungen der 4 letzten Lieder ebenfalls abstrichslos empfehlen kann: die mit Otto Ackermann und jene mit George Szell) und die weit weniger berühmte Schweizerin Lisa della Casa. Da die exzellenten Schwarzkopf-Aufnahmen kaum einer Empfehlung bedürfen, lege ich Euch hier besonders die Casa ans Herz.
    Ein Höhepunkt der Aufnahme ist für mich der "Frühling" (nach Hermann Hesse) - es ist unglaublich, wie sich die Stimme der Casa engelsgleich über sanften Streicherwogen in wahrhaft himmlische Sphären schraubt. Und das schönste daran ist: Der Zuhörer darf ihr in den Himmel folgen!

  • Scheibe des Herzens Nr.2:


    Claude Debussy: Préludes


    Krystian Zimerman - Deutsche Grammophon 1994[/B]


    Zwischen 1910 und 1912 schrieb Claude Debussy seine beiden Bände der 24 Préludes. Die Namen, die Debussy ihnen gab (und den Stücken in Klammern ganz diskret anfügte) sollen keine Titel sein, sondern behutsame Fingerzeige zum Stimmungsgehalt des jeweiligen Préludes. Auch wenn diese köstlichen Miniaturen dem Zuhörer viele bunte Bildchen in den Kopf beamen - Als "Programmusik" hat Debussy sie nicht verstanden.


    Bevor 1994 die aufregende und pianistisch fast absurd vollkommene Aufnahme von Krystian Zimerman erschien, waren meine Favoriten die ausgefeilte Version von Arturo Benedetti Michelangeli und die von kristaliner Klarheit und elegantem Esprit geprägte Lesart Robert Casadesus'.
    Aber ich gebe zu: gegen Zimerman sehen selbst diese unbestrittenen Titanen ein wenig alt aus. Zimerman zaubert aus jeder Nummer einen Detailreichtum heraus, den man vorher nicht vernommen, bzw. für unmöglich gehalten hat. In der letzten Nummer,"Feux d'artifice", zündet Zymerman ein derart rauschendes und krachendes Feuerwerk, dass einem glatt der Mund offen stehen bleibt - sitzt da überhaupt noch ein Mensch am Klavier?

  • Scheibe des Herzens Nr.3:


    Frédéric Chopin: 10 Mazurkas, Prélude cis-moll op. 45, Ballade g-moll op. 23, Scherzo b-moll op. 31 - ein erlesenes Wundertütchen


    Arturo Benedetti Michelangeli - Deutsche Grammophon 1972


    Chopin, gleichermaßen für Einsteiger und Kenner: Große und kleine Formen aus dem Schaffen von Frédéric Chopin hat ABM auf dieser prachtvollen Scheibe zu einem wahrhaft erlesenen Bukett zusammengestellt: Eine Gelegenheit für Einsteiger, sich einen ersten Überbick zu verschaffen. Aber auch eine Sternstunde für Chopin-Gourmets.
    Alles was man hier hört, hört man mit einer Akuratesse und Erlauchtheit, gegen die das Spiel der übrigen pianistischen Weltelite geradezu wie rüdes Geholze erscheinen muss...
    ...Allerdings nur so lange, wie diese Scheibe im CD-Player rotiert - danach klingt der Rausch zum Glück wieder ab.


    Ich höre die CD nur ganz selten - ich will, dass sie dieses kostbare Kleinod bleibt. Handgemachte Pralinen sind ja auch nicht das täglich Graubrot...

  • Scheibe des Herzens Nr.4:


    Johann Sebastian Bach: Messe h-moll


    Thomas Hengelbrock/Balthasar-Neumann-Chor/Freiburger Barockorchester


    Deutsche Harmonia Mundi, 1997



    Ein Protestant, der eine „große catholische Messe“ schreibt? Johann Sebastian Bach komponierte seine große Messe in h-moll für den katholischen Dresdner Hof – manchmal muss man eben auch die Konkurrenz bedienen, wenn man seine Brötchen verdienen will.
    In der h-moll-Messe des alten Bach spiegelt sich –wie nicht selten im Spätwerk- auch der junge Bach, angefangen in der Weimarer Zeit: Vieles von dem, was man hier hört, hat Bachs genialer Geist schon zu früherer Zeit geschaffen. Dennoch klingt die h-moll-Messe nicht, wie ein Flickenteppich, sondern wie ein erhabenes Monument.


    Bei Thomas Hengelbrock und seinem atemberaubend beweglichen Balthasar-Neumann-Chor richt es zum Glück nicht nach Weihrauch: Hier herrschen rasante Tempi, hier singen jugendlich-euphorische Stimmen, hier wird ein Fest des Glaubens im wahrsten Wortsinn mit Pauken und Trompeten gefeiert.

  • Scheibe des Herzens Nr.5:


    Johannes Brahms: Ein Deutsches Requiem


    Roger Norrington/London Classical Players/The Schütz Choir of London/Lynne Dawson/Olaf Bär


    Virgin, 1993


    Man muss kein Christ sein, um sich hin und wieder eine geistliche Scheibe zu gönnen.
    Auch Brahms soll mit dem Glauben so seine lieben Schwierigkeiten gehabt haben, obwohl er lutherisch getauft wurde. Für sein Deutsches Requiem wählte Brahms acht Bibelstellen aus, bei denen es nicht allzu sehr mit dem Herrgott zugeht – die Botschaft des Requiems kann man durchaus auch humanistisch interpretieren, ohne sie falsch zu verstehen.


    Die enorm schlanke, aber dennoch zupackende Einspielung durch Roger Norrington treibt mir immer wieder einen Schauer über den Rücken. Hier herrscht nicht die „dumpfe deutsche Lehmigkeit“, die man insbesondere von vielen älteren Aufnahmen her kennt. Vor allem der ungewöhnlich klein besetzte Chor geht in seiner knochentrockenen Vibratolosigkeit geradezu radikal entkitschend zu Werk. Eine Wucht ist die gewaltige, dynamisch breit angelegte Steigerung im zweiten Teil („Denn alles Fleisch es ist wie Gras“) – Da lässt es Norrington so gnadenlos krachen, dass man sich fast wie auf einer Strafgaleere fühlt!

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  • Scheibe des Herzens Nr.6:


    Henry Purcell: Dido & Aeneas


    René Jacobs/Orchestra of the Age of Enlightenment/Dawson/Joshua/Finley


    Manchmal steht Liebe wahrlich unter keinem günstigen Stern. Erst recht, wenn wie in Henry Purcells Operndreiakter Dido & Aeneas, böse Mächte ihre Finger im Spiel haben.
    Damit das berühmte Lamento der (von ihrem Liebstem verlassenen) Königin Dido richtig glaubwürdig zu Herzen gehen kann, müssen es die Hexen und bösen Geister vorher schon richtig toll mit den Liebenden treiben.


    Ich warte beim ersten Hören einer neuen Einspielung immer sehnsüchtig auf den Beginn des zweiten Aktes: Dann nämlich besiegeln die Bösewichte das Schicksal der Liebenden – dabei geht es allerdings -falls der Dirigent bei der Sängerbesetzung ein glückliches Händchen bewiesen hat-- durchaus komisch zu. Geradezu köstlich sind die Hexenduette durch die vor stimmlichem Klamauk nicht zurückschreckenden Countertenöre Dominique Visse und Stephen Wallace in der Einspielung unter René Jacobs. Doch: Obwohl Jacobs die emotionalen Extreme voll ausleuchten lässt, bekommt die Geschichte gottlob nicht die Überspanntheit, die manchen Aufnahmen leider anhaftet. Hervorzuheben ist auch die göttliche Lynne Dawson – eine hochzarte Alternative zu „klassischen“ Dido, der unvergessenen Janet Baker.

  • Scheibe des Herzens Nr.7:


    Ludwig van Beethoven: die 32 Klaviersonaten


    Stephen Kovacevich – EMI, 2003


    Es ist natürlich nicht möglich, „die“ Aufnahme aller 32 Klaviersonaten Ludwig van Beethovens zu küren. „Das neue Testament der Klavierliteratur“ hat einfach viel, viel mehr in sich, als ein einziger Mensch aus ihm rausholen könnte. Einzelne Sonaten habe ich mit bestimmten Interpreten im Ohr: op.110 in eigenwilliger, aber atemberaubender Langsamkeit von Emil Gilels gespielt; op.106, die „Hammerklavier“-Sonate, in der geradlinigen, schnörkellosen Lesart von Maurizio Pollini: op 57, die „Appasionata“ in der ungestümen Variante von Friedrich Gulda - und und und...: Die schönste Gesamtaufnahme stellt man sich eben selbst zusammen.
    Einer der die goldene Mitte zwischen feurigen Temperament und Vergeistigung, zwischen Akribie im Detail und einer großzügigen Linienführung trifft, ist der Brite Stephen Kovacevich. Man kann „alle 32“ natürlich auch ganz anders spielen – besser aber kaum.

  • Scheibe des Herzens Nr.8:


    Enrique Granados: Goyescas, El Pelele


    Alicia de Larrocha, Decca 1977


    Achtung: hier kommt eine Lady! Wenn Alicia de Larrocha spanische Klaviermusik interpretiert, dann ist eine pianistische Sternstunde garantiert. Enrique Granandos’ farbenprächtig-vielgestaltiger Zyklus Goyescas bietet ihr natürlich alle Möglichkeiten, den Flügel zum Singen zu bringen, dass es eine wahre Pracht ist! Der Ton, den die Larrocha aus dem Flügel zaubert ist wahrhaft nobel, mal von Saft und Kraft, mal aus Samt und Seide. Niemals verspritzt sie aber allzu viel vom honigsüßen Parfum der Goyescas: Bei allen Farben, Düften und Aromen, die die Lautsprecher beim Hören ihrer interpretation zu verströmen scheinen, besitzt ihr Spiel immer eine ordentliche Portion andalusischen Stolz und rhythmische Elastizität.

  • Scheibe des Herzens Nr.9:


    Maurice Ravel: Das Soloklavierwerk


    Robert Casadesus, CBS 1951


    Genau so gerne hätte ich an dieser Stelle Casadesus' zeit- und schnörkellose Einspeielung der Debussy-Préludes empfohlen. Da die Aufnahme derzeit offenbar nicht zu bekommen ist und ich mich bezüglich meiner Debussy-Referenz schon auf Herrn Zimerman kapriziert habe (Scheibe des Herzens Nr.2), bin ich kurzerhand auf Robert Casadesus' nicht minder vollkommene Einspielung des Ravel'schen Soloklavierwerks umgestiegen. Wer Debussy im strahlend-unbeschwerten Licht ewiger Jugend hören will - der greife zu dieser Doppel-CD (die obendrein nur schlappe 10 Euro kostet...). Wer Akribie bis ins kleinste Detail liebt, ohne dass ein generöser Schwung zu kurz kommt - der greife zu den Pretiosen von Feinmechanikermeister Casadesus. Robert Casadesus begreift Ravel als einen Klassiker: sachlich aber edel, geradlinig aber poetisch - wolkig verquollenen Impressionismus erspart uns der Meister zum Glück.

  • Scheibe des Herzens Nr.10:


    Franz Schubert: 24 Lieder


    Elisabeth Schwarzkopf, Edwin Fischer, Gerald Moore, Geoffrey Parsons


    EMI, 1948 - 66


    Tempi passati... Kürzlich wurde Elisabeth Schwarzkopf 90 Jahre alt. Hört man die Aufnahmen ihrer Glanzzeit - jene aus den 50ern und 60ern - denkt man nicht im Traum daran, dass diese silbrige Mädchestimme je in dem Körper einer alten Frau wohnen könnte. Die in der EMI-Reihe "Great Recordings of the Century" erschienene Zusammenstellung von 24 Liedern Franz Schuberts konserviert uns diese göttliche Stimme zum Glück im Zustand schlackenlosester Reinheit, man möchte fast sagen: im Zustand ewiger Jungfräulichkeit. Gewiss, eine Instinktsängerin, die sich mir nichts, dir nichts ihren Affekten überantwortet, ist die Schwarzkopf auch in diesem Album nicht - alles wirkt genauestens abgezirkelt, höchst artifiziell und von äußerster Grazie - wie ein Spitzentanz der Stimmbänder. Absolut unerreicht ist die gemeißelte Diktion der Schwarzkopf. Die Stimme sitzt mit jedem Ton da wo sie sitzen sollte: ganz vorne. Schwarzkopf hat ihren Schubert sprichwörtlich auf den Lippenspitzen. Höchste Kunst!

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  • Scheibe des Herzens Nr.11:


    Claude Debussy: Douze Etudes pour piano


    Mitsuko Uchida, Philips 1989


    Ausgerechnet einer Japanerin ist es zu verdanken, dass Claude Debussys "Etudes" in der vergangenen Dekade aus ihrem Schattendasein entlassen wurden und vermehrt Beachtung gefunden haben. Für mein Empfinden legte Uchida die erste pianistisch und künstlerisch voll befriedigende Aufnahme dieser gleichermaßen subtilen und exorbitant schweren Exerzitien vor (bei denen es allerdings weniger auf muskulöse Exaltationen à la Liszt, als viel mehr auf feingliedrige Akrobatik ankommt). Die dröge Ledrigkeit und Phantasielosigkeit früherer Einspielungen, beispielsweise von Michel Béroff oder Noel Lee, wird hier mit geradezu katzenhafter Geschmeidigkeit weggewischt.
    Stilistsisch beinhalten die Etuden die für den späten Debussy typische (nur scheinbar widersprüchliche) Mischung aus Reduktion und Konzentration der musikalischen Mittel. Die Anforderungen der Etüden sind nur vordergründig technischer Natur - Der Komponist setzt manuelle Probleme quasi als gemeistert voraus, um sich ganz der Erforschung der klanglichen Möglichkeiten des Flügels hinzugeben. (die Etüde Nr.10 z.B., "Pour les Sonorités oposées", fordert weniger die Finger des Interpreten, als viel mehr seine klangliche Imaginationskraft heraus). Viele dieser geistigen Konzentrate strahlen die karge Erhabenheit eines japanischen Rollbildes oder die poetische Geklärtheit eines Haikus aus. Dennoch verzichtet Debussy nicht auf augenzwinkernde Anspielungen auf die zentraleuropäische Klaviertradition zwischen Beethoven und Liszt - Den Zwölferreigen eröffnet "Pour les cinq doigts (d'après Monsieur Czerny)", die sehr czernyesk mit einer Fünftonleiter bei der allerersten Klavierstunde beginnt - wenigstens ein paar Takte lang...

  • Scheibe des Herzens Nr.12:


    Johann Sebastian Bach: 6 Partiten BWV 825-830


    Rosalyn Tureck, 1956-58 - "Great Pianists of the 20th Century"


    Ohne sie hätte sich der Name Johann Sebastian Bach sicher nicht ganz so schnell im Land der unbegrenzten Möglichkeiten durchgesetzt. Amerikas "Mutter Bach", Rosalyn Tureck (1915 - 2003) verschrieb nahezu ihr ganzes Leben dem Thomaskantor: Als Forscherin, Lehrerin und nicht zuletzt als Musikerin auf dem Clavichord, dem Sythesizer (!) und dem modernen Konzertflügel. Ihr strukturklares, technisch ungemein kontrolliertes Bachspiel gab selbst Glenn Goulds Kunst wichtige Impulse.
    Der Spiegel beschrieb Turecks Spiel anlässlich ihres Todes mit den folgenden - sehr treffenden - Worten: "Markenzeichen ihrer Kunst aber blieben Bach-Interpretationen, in denen sich kontrapunktische Klarheit wie unter einer Hör-Lupe bis zur Meditation verdichtete."
    Wer sich von Rosalyn Turecks meditativer Kraft überzeugen will, tue dies am besten anhand der besonders beredten frühen Aufnahmen der 50er Jahre. Neben einer Gesamteinspielung des Wohltemperierten Klaviers und den Goldberg-Variationen favorisiere ich die atemberaubend schöne Aufnahme der sechs Partiten, die im Rahmen der Reihe "Great Pianists of the 20th Century" wiederveröffentlicht wurde. Mein Favorit ist das Präludium der ersten Partita: anmutigere und gesanglichere Klaviertöne wurden selten für die Nachwelt konserviert - allein diese überirdischen zwei Minuten reinster Engelsmusik hätten schon gereicht, um Tureck die künstlerische Unsterblichkeit zu sichern...