Zerrissen ist des Lebens wie der Liebe Band

  • Erich Wolfgang Korngolds "Die Tote Stadt" an der Komischen Oper Berlin


    Die Tote Stadt als Kriminalfall


    Regisseur Robert Carsen läßt die Tote Stadt so enden, wie sie begonnen hat: Paul tötet eine Frau.
    Schon während des kurzen Vorspiels taucht auf der Bühne kurz das Bild eines Mannes auf, der auf einer Frauenleiche kniet. Der an der Rampe stehende Paul betrachtet die Szenerie mit ungläubigem Staunen.


    Maximilian Hagemeyer, der Produktionsdramaturg, wie er sich selbst in der Operneinführung bezeichnete, hatte erklärt, daß der Regisseur vom Schottschen Schluß abgewichen und enger an das Romanende Rodenbachs gerückt sei. Ebenso legt sich Carsen bei der Frage fest, wie Paul Marie, seine Frau, verloren hat: Er ist ihr Mörder.


    Schon David Bösch hatte in seiner Inszenierung an der Semperoper im letzten Herbst den Mord an Marietta mehrfach gezeigt, so, als könne er die Spannung, die Korngold aufbaut, nicht ertragen und müsse sie vorzeitig lösen. In seinem Konzept, das Burkhard Fritz' Paul als latenten Gewalttäter zeigt, dem die geradezu zerbrechliche Marietta Manuela Uhls ausgeliefert ist, ging das gut auf. Bösch aber läßt die Erlösung durch das Traumbild zu. Als Paul zu sich kommt, ist die Leiche Mariettas verschwunden.
    Carsen schlägt diese Deutung aus. Die tote Marietta bleibt präsent. Wenn in der letzten Szene Marietta den vergessenen Schirm und die Rosen an sich nehmen möchte, was Pauls Traum verbürgt, erklingt in der Komischen Oper ihre Stimme aus dem Off. Die auf dem Teppich liegende Tote kann das nicht singen, die Komik einer solchen Szene ruinierte die Idee des Regisseurs.


    Ein enttäuschender Schluß. Auch Carsen ist Korngolds Spannung nicht gewachsen. Er schweißt die Enden der Feder zusammen. Es entsteht ein Ring, ein Gebilde ohne Spannung in der zeitlichen Dimension.


    Halte fest was dir von allem übrig blieb


    Wann immer ich der Toten Stadt lausche, kommt mir Dr. Schön aus Bergs Lulu in den Sinn: "Läßt man sich scheiden, wenn die Menschen ineinander hineingewachsen und der halbe Mensch mitgeht?"
    Der tschechische Tenor Aleš Briscein gibt diesen halben Menschen: zerrissen, wund, unbehaust in der noblen Wohnung, die der kanadische Bühnenbildner Michael Levine eingerichtet hat. Als Schauspieler überzeugt er durchaus, dem Sänger sieht man die Anlaufschwierigkeiten im ersten Akt nach, weil er sich später deutlich steigert. Immer wieder greift er nach Mariens Exuvien, um zu halten, was ihm längst verloren ist. Frank, fremder Freund, etwas guttural gesungen von Günter Papendell, ist in dieser Inszenierung ein Verräter, der sich bei seinem ersten Besuch ständig Notizen macht.
    Golden glänzend betritt Marietta, Sara Jakubiak, Pauls Schlafzimmer. Der sinkt aufs Bett: "Wunderbar!" Diese Person ist intrusiv. Anfänglich erahnt sie den besonderen Reiz, den sie auf Paul ausübt, nur. Sich des Parfüms, der Haarbürste und des Lippenstifts der Verstorbenen bemächtigend, gewinnt sie schnell Gewalt über den Witwer.
    Mariettas Lied gelingt Jakubiak und Briscein. Die erste Strophe, Marietta singt allein, sagt: Meiner Liebe entgehst du nicht! Mit der zweiten, Paul stimmt an, Marietta fällt ein, unterwirft er sich ihr willig.
    Marietta verläßt die Szene in den Schuhen der toten Marie, ihre eigenen am Doppelbett zurücklassend.


    Die Göttin ist's nicht mehr die du verlorst


    Nahezu nahtlos geht der erste in den zweiten Akt über. "Was ward aus mir?" - Besserung ist nicht eingetreten, Paul erscheint elender als zuvor. Aus dem Umzug der Beghinen hat Carsen den Leichenzug Maries gemacht, der den auf Marietta wartenden Paul passiert.
    Die beklemmende Szene, in der Paul Frank als Nebenbuhler erkennen muß und die als Traumbild zwingend ist, gerade weil sie angstvolle Ahnung und Gegenwart transportiert, ist realiter, so wie sie Carsen abwickeln muß, nur halb so packend. Die entsetzlichen Zeilen


    Ich kann nicht mehr
    Mich zogs zur Seele meiner Toten
    Und ich verfiel dem Leib der Lebenden.

    werden so zu Seite gesprochen, als seien sie Phrase von minderer Bedeutung. Frank entblößt seinen muskulösen Oberkörper, Paul flüchtet mit dem erhaschten Schlüssel von Mariettas Quartier.
    Der Regisseur will das Kriminalstück, nicht den Albtraum. Heilung - durch welches Mittel auch immer - interessiert ihn in dieser Inszenierung nicht.
    Die Tänzergesellschaft ist hübsch anzusehen, Varieté, es flimmert und glitzert. Die Damen und Herren sind elastisch und gelenkig. Marietta, die Königin des Abends schwebt von oben ein. Papendell singt auch den Fritz. Aus dieser Personalunion des Freundes und des Nebenbuhlers macht Carsen aber nichts. Bösch hatte in Dresden ein schlüssiges Bild gefunden: Der an den Rollstuhl gefesselte Frank erhebt sich aus dem Gefährt, um Fritz, den Pierrot zu singen.
    Was Paul in der Begegnung mit Marietta inmitten der Tänzer zur Raserei bringt, wird in der Szene nicht ausgespielt, ist kaum zu ahnen.


    Wir sehn uns wieder, weit gar weit von hier


    Paul trifft Marietta nach der ersten gemeinsamen Nacht im Haus der Toten im Schlafzimmer, der Marien-Kapelle, an. Vor dem Fenster sammelt sich die Marien-Prozession. Der fromme Zug geht dann quer durchs Zimmer. Das ist beeindruckend! Die leuchtenden Figuren der Mutter Gottes, an die er glaubt, die vergöttlichte tote Marie, von der er nicht lassen kann, die lebendige Göttin, die er begehrt - Wut, Wahn und Wunsch fließen zusammen zu einem Strudel, in dem Paul Traum und Welt nicht mehr auseinanderhalten kann.
    Marietta will endlich die tote Marie verdrängen, reizt Paul immer wieder neu. Als sie den blonden Zopf der Toten nicht zurückgeben will, erdrosselt Paul sie damit.
    Die Leiche bleibt auf dem Teppich, Frank und Brigitta kommen in weißen Kitteln, um den Patienten mitzunehem. Die Stimme Mariettas spricht noch einmal zum Geliebten. Paul resümiert:


    Glück das mir verblieb,
    Lebe wohl, mein treues Lieb
    Leben trennt von Tod -
    Grausam Machtgebot.
    Harre mein auf lichten Höhn -
    Hier gibt es kein Auferstehn.




    Großer Beifall. Fr. Jakubiak ist der Stern des Abends, wenn auch nicht so berauschend, wie als Heliane zu Ostern. Hr. Briscein besteht. In den ariosen Passagen sind beide verständlicher, als im Sprechgesang. Auffällig gut sang Maria Fiselier die Brigitta.
    Der Graben der Komischen Oper bot nicht genug Platz für die große Besetzung, die Korngold fordert. Harfen und Celesta befanden sich unter den Proszeniumslogen, was sehr effektvoll war. Ainārs Rubiķis dirigierte eher zurückhaltend, gelegentlich sogar gedämpft.


    Ich werde am ersten Weihnachtsfeiertag erneut in die Tote Stadt gehen.

    ..., eine spe*ifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifi*ierbar.
    -- Aydan Ö*oğu*

  • Lieber Hans,
    vielen Dank für Deinen informativen Bericht. Live hab ich die tote Stadt nur zweimal in Gelsenkirchen im MIR gesehen. Am Sonntag hab ich aber den Live stream aus der komischen Oper verfolgt. Die Inszenierung stört nicht, aber ich hatte das Gefühl das das Publikum nicht ganz so begeistert war beim Schlußapplaus wie sonst.

  • Da der Gesamtmitschnitt in wenigen Monaten von YT verschwindet, verlinke ich hier den leider sehr kurzen Trailer.


    ..., eine spe*ifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifi*ierbar.
    -- Aydan Ö*oğu*