Gaspare Spontini: AGNES VON HOHENSTAUFEN (Theater Erfurt 1. Juni 2018)

  • Agnes von Hohenstaufen



    Lieber Caruso, ich wünsche Dir einen schönen Premierenabend. Ich wäre sehr dankbar, wenn Du Deine Eindrücke von der Vorstellung dann zumindest kurz schildern würdest. Ich überlege noch, ob ich für eine der späteren Aufführungen nach Erfurt fahren soll, und da wäre Dein fachmännisches Urteil eine große Hilfe bei der Entscheidung.


    Lieber Bertarido,

    ob ich Dir raten soll, zum Spontini nach Erfurt zu fahren, ist nicht leicht zu entscheiden.
    Ich habe die Reise jedenfalls nicht bereut und die Begegnung mit Spontinis letzter Oper fand ich höchst lohnend.
    Alle Aufnahmen des Werkes, die ich wiederholt gehört habe, vermitteln doch überhaupt keinen Eindruck von den Stärken der Oper und von ihrer Grandeur!


    Die Handlung wirst Du im Opernführer gelesen haben. Das ist eine erfundene Geschichte, die in einem Mittelalter spielt, wie man es sich im frühen 19. Jahrhundert zusammenphantasiert hat. Einige Figuren sind historisch, andere rein fiktiv. Mit historischen Tatsachen hat das alles nichts zu tun! Allenfalls sagt es etwas über das Mittelalterbild der Entstehungszeit der Oper aus.

    Dramaturgisch ist das Werk nicht wirklich überzeugend. Und doch hat es eine Gliederung und einen Überbau: Der Wechsel der großen Tableaus und der Szenen, mit denen der Fortgang der Handlung betrieben wird, ist gewissermaßen das Formbildende in den drei Akten. Für jedes der vielen Tableaus entwickelt Spontini eine eigene Couleur locale. Das fand ich schon sehr eindrücklich, zumal es ihm gelingt, durch eine ingeniöse Mehrchörigkeit und ein stetiges Crescendo enorme Erregungen und Wirkungen zu erzielen.

    An den Figuren der Handlung hat Spontini kein ausgeprägtes Interesse. Die Agnes selbst bleibt beispielsweise völlig ohne Profil. Sie muss nur schön von Liebe, Leid und wieder Liebe singen. Der sie liebende Welfensohn Heinrich hat immerhin recht verschiedene Gemütszustände mitzuteilen und wird gelegentlich musikalisch individueller charakterisiert. Er ist ja auch die eigentliche Hauptfigur. Allein die Irmentraut und der Kaiser sind etwas differenzierter portraitiert. Trotzdem hat manche Solostelle durchaus ihren eigenen Reiz. Allerdings werden den Solisten nur im ersten und zweiten Akt von Spontini eigene Entfaltungsmöglichkeiten eingeräumt. Da schreibt er für sie Arien, Duette und Ensembles, in denen die Melodiebildung tatsächlich schon auf Bellinis 'melodie lunghe', ja sogar auf Wagners 'unendliche Melodie' vorausweist! Leider sind diese Melodien nirgends wirklich eingängig. Sie wirken längst nicht so inspiriert wie die Tableaus. Im dritten Akt dann gibt es sowieso nur noch ein Terzett und im Übrigen sind die Solisten in die Tableaus integriert!

    Besonders eindrücklich fand ich die Instrumentierung des Orchesterparts. Da hört man Farben und Farbmischungen, die für diese Zeit ganz unerhört sind. Spontini setzt nicht auf ‚Clarté’ und Durchhörbarheit. Kontraste gibt es eigentlich kaum. In der „Agnes“ geht es ihm vielmehr um einen einheitlichen Gesamtklang, in dem der Klang verschiedener Instrumente miteinander verschmolzen ist und eigene Legierungen eigene Farben hervorbringen. Faszinierend! Selten ist mir so klar geworden, wie viel Wagner von Spontini gelernt hat. Das hat er ja auch selbst immer wieder betont. Und wenn man die Klänge in einzelnen Orchesterpassagen oder sogar in den großen Tableaus hört, könnte man direkt glauben, sie kämen aus einem verdeckten Orchester!

    Die Aufführung selbst war aller Ehren wert! Was ein Haus der Größenordnung Erfurts da leistet, finde ich bemerkenswert. Dafür muss vor allem die Generalmusikdirektorin Zoi Tsokanou gelobt werden. Wie sie den Charakter und die Stärken der Musik Spontinis zum Klingen bringt, das ist bewundernswert. Sie hat einen Sinn für ihre Monumentalität und für die klassizistische Ästhetik. Geschickt realisiert sie die räumlichen Trennungen und Staffelungen (faszinierende Fernwirkungen!!!) der Chöre. Sorgfältig spürt sie die Eigenheiten der Instrumentierung auf. Klug disponiert sie die großen Formzusammenhänge, baut Spannungsbögen auf und heizt die Erregungszustände in den Tableaus an.


    Unter den Sängern gab es keinen Ausfall aber auch keine Entdeckung. Die Agnes von Claudia Sorokina hat eine koloraturgewandte Stimme, die sich auch in den lyrischen Passagen bewährt. Liebreiz und Leuchtkraft entfaltet sie aber nur in den hohen Lagen. Im Chemnitzer „Vasco“ hat sie mich mehr überzeugt.
    Der österreichische Tenor Bernhard Berchtold hatte ich auch durch den Vasco da Gama in Chemnitz kennen gelernt und er war mir positiv aufgefallen. Er singt sehr kultiviert und stilvoll, aber für den jungen Heinrich fehlen seinem doch eher lyrischen Tenor Glanz und auch ein bisschen das dramatische Durchsetzungsvermögen.
    Das hat ohne Zweifel Todd Wilander, der den Philipp, also den Bruder des Kaisers und Freund Heinrichs, sang. Wenn er erst mal ein wenig besser deutsch kann, wir er im Tenorfach sicher seinen Weg gehen. An der Deutschen Oper Berlin war er schon als Arturo in der Lucia und als Erster Geharnischter in der Zauberflöte zu hören. Er verfügt über einen sehr männlichen, klangvollen Tenor, gutes Legato, geschmeidige Koloraturen und triumphale Höhen.
    Als König war Máté Sólyom-Nagy aufgeboten. Ein klangvoller Bariton, der bisher vornehmlich im lyrischen Fach gesungen hat, hier aber bewies, dass er im dramatischen Fach bemerkenswerte Qualitäten einbringen kann: eine markige Stimme, mit gutem Fundament und einer durchschlagender Höhe, vor allem eine vorzügliche Artikulation und ein bemerkenswertes Gestaltungsvermögen.
    Der südafrikanische Bariton Siyabulela Ntlale imponierte mit einem prachtvoll timbrierten Bariton als König von Frankreich Philipp August. Kakhaber Shavidze, ein sinistrer Bass aus Georgien, sang den Erzbischof von Main: Er hat eine rechte Großinquisitor-Stimme!
    Die Sängerin, die mir am besten gefallen hat, war norwegische Sopranistin Margrethe Fredheim. Eine runde volle Stimme, glänzend beherrscht in den Koloraturen sowie in den dramatischen Eruptionen, sehr schön timbriert, mit Musikalität und Stilempfinden eingesetzt. Ich könnte sie mir gut als Adalgisa vorstellen, traue ihr allerdings auch in nicht allzu ferner Zukunft die Eglantine zu.


    Nun erwartet mancher Tamino sicher noch ein Wort zur Inszenierung. Den spektakulärsten Coup gab es gleich am Anfang: da flog – zu dem Gesang des Chores, der vom Adler handelte, der ins Welschland schwebt, - ein veritabler Adler vom Rang auf die Bühne und setzte sich auf die Faust des Kaisers. Sonst fiel dem Regisseur Marc Adam nicht sehr viel ein. Wie sollte ihm auch? Die Handlung bietet nicht allzu viel, wozu man spannende Aktionen entwickeln kann. So begnügte er sich denn damit, Bilder zu arrangieren. Meist in bombastischen Kulissen. Die Tableaus immerhin waren nicht ungeschickt gebaut und machten durchaus Wirkung.
    Eine Idee zumindest hat er andeutet, die wohl seine Regiearbeit geleitet hat: Da der Stoff der Oper weithin eine Erfindung des 19. Jahrhunderts ist und mit der Realgeschichte von Staufern und Welfen so wenig zu tun hat, wie mit dem 12. Jahrhundert, wechseln die Protagonisten und der Chor im Verlauf der 3 ½ Stunden wiederholt die Kostüme, sodass sie mal in Phantasie-Roben eines imaginierten Mittelalters, mal in Roben des beginnenden 19. Jahrhunderts agieren. Nur der Junge Welfe Heinrich trägt bei seiner Festnahme und dann im Kerker eine Uniform, die mehr nach 20. Jahrhundert aussieht. Dem korrespondiert eine sehr dezente Überblendung mit einer Trümmerlandschaft - schon ganz am Anfang während der Ouvertüre und dann am Schluss, wenn die streitenden Parteien sich versöhnen und zum Kriegszug gen Italien aufrufen. Na ja! Gestört hat das niemanden. Ob es viel erklärt hat, sei mal dahingestellt!


    Die Aufführung war insgesamt ein großer Erfolg. Das Publikum war anscheinend begeistert. Vielleicht hatten die andauernden Erregungszustände der Musik auch angesteckt.


    Die Aufführung wurde vom Deutschlandsender KULTUR mitgeschnitten. Wann sie gesendet wird, weiß ich leider nicht!


    Lieber La Roche, Du muss keine Angst vor Kostümen und Bühnenbildern haben, die Dir das Vergnügen stören könnten!
    Und Du, lieber Bertarido, bist ja sowieso immer neugierig auf Entdeckungen. Hier in Erfurt bei Spontini kannst Du viele machen! Ob Dich als eingefleischten Barockopern-Verehrer der monumentale Klassizismus Spontinis begeistern kann, lasse ich mal dahingestellt sein.


    Viel Vergnügen!
    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Eine eingehende und unterhaltsame Kritik, die ich mit großem Vergnügen gelesen habe. Hoffentlich kommt sie auch den Verantwortlichen in Erfurt zur Kenntnis!

    ..., eine spe*ifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifi*ierbar.
    -- Aydan Ö*oğu*

  • Lieber Caruso, auch von mir ganz herzlichen Dank für diesen informativen und schön geschriebenen Bericht. Lust, mir einer der verbliebenen Aufführungen anzuschauen, habe ich schon. Leider gibt es nicht mehr allzu viele Termine, nächsten Sonntag ist schon der letzte. Ich bin gerade von einem Opern-Wochenende aus Paris zurückgekehrt, wo ich mir drei Neuproduktionen angeschaut habe. Ich schwanke noch, ob ich mich so kurz danach schon wieder auf eine recht lange Reise machen soll. "Bedenken will ich's: wer weiss, was ich tu'!"


    Schon erstaunlich und auch schade, dass eine so aufwändige Produktion nur fünf mal in einem Zeitraum von 10 Tagen gezeigt wird. Ob es wohl eine Wiederaufnahme in einer der kommenden Spielzeiten geben wird?

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Schon erstaunlich und auch schade, dass eine so aufwändige Produktion nur fünf mal in einem Zeitraum von 10 Tagen gezeigt wird. Ob es wohl eine Wiederaufnahme in einer der kommenden Spielzeiten geben wird?


    Das kann ich leider nicht sagen.
    Der Aufwand (Orchester außerordentlicher Größe, Chöre und Solisten) für diese Produktion ist allerdings enorm. Ob man sich das leisten kann, weitere, bisher nicht vorgesehene Aufführungen in der nächsten Saison anzusetzen, bezweifle ich. Die Frage ist ohnehin erst mal, wie das Werk in Erfurt vom Publikum angenommen wird. Wenn die Mund-zu-Mund-Propaganda funktioniert und die folgenden Aufführungen ausverkauft würden, gäbe es womöglich eine Chance.


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Hallo,
    die Übertragung im Radio ist am 16.06. um 20.05 Uhr auf Deutschlandradio Kultur. Ob eine Aufnahme auf CD geplant ist, weiß ich nicht. Lohnen würde es sich sicher.
    Ich habe die Aufführung am Freitag auch gesehen und kann mich der Rezension voll und ganz anschließen. Ein spannender Opernabend, der in den Ensemblen sehr packend war. Besonders interessant: Die Ouverture, die ja mehr als 100 Jahre lang als verschollen galt und die daher auch in den wenigen Einspielungen fehlt. Eine Übernahme in eine der nächsten Spielzeiten würde ich dringend anraten.
    Schöne Grüße
    wega

  • Ob es wohl eine Wiederaufnahme in einer der kommenden Spielzeiten geben wird?

    Da das Spielzeitheft des Opernhauses Erfurt für die kommende Spielzeit ja längst online ist, kann man diese Frage beantworten und muss sie verneinen.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Lieber La Roche, Du muss keine Angst vor Kostümen und Bühnenbildern haben, die Dir das Vergnügen stören könnten!


    Lieber caruso41,
    es wird sich nichts daran ändern, mein Operngeschmack ist unmöglich. Ich bin sehr dafür, Opern kennenzulernen, die mir bis dato versagt geblieben sind. So habe ich z.B. noch nie Guntram gesehen oder die weiße Dame, selbst die sizilianische Vesper und leider auch Gounods Faust noch nicht. Es kommen bei mir selbst unter den bekannteren Opern viele, viele zusammen die ich mir ansehen würde , z.B. von Marschner, Flotow, Pfitzner bis hinn zu den letzten mir unbekannten Strauss-Opern.
    Spontini stand bisher nicht auf meiner Wunschliste. Ich kannte sogar seine Musik nicht, nur den Namen. Daher habe ich mir den Trailer von Erfurt angesehen, und die Kostüme fanden durchaus meine Zustimmung, die Kulissen weniger. Von der Musik war im Trailer fast nichts zu hören, leider. Deshalb habe ich mir die Agnes mal aus einer Aufführung aus Rom angesehen, mit Caballe und Vasallo. Von den über 140 min bei YT habe ich mit der Vorspielfunktion ca. 90 min gehört und gesehen, muß aber sagen, daß mir die Musik nicht so sehr zusagt. Ein Besuch in Erfurt wäre dennoch interessant, aber in dieser Spielzeit klappt es nicht mehr. Dein Bericht hat mich neugierig gemacht, aber nach der Musikbegutachtung ist meine Lust gesunken. Ich stehe wohl doch mehr auf Belcanto oder Wagner/Strauss. Aber bei mir weiß man nie. Wenn meine Frau plötzlich Lust auf Oper bekommt, dann steigen die Chancen der Agnes dramatisch an.
    Danke für Deinen Bericht, er war sehr, sehr informativ.
    Herzlichst La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Lieber La Roche!


    Deshalb habe ich mir die Agnes mal aus einer Aufführung aus Rom angesehen, mit Caballe und Vasallo. Von den über 140 min bei YT habe ich mit der Vorspielfunktion ca. 90 min gehört und gesehen, muß aber sagen, daß mir die Musik nicht so sehr zusagt.


    Schön dass Du es wenigstens versucht hast. Eine Aufnahme mit Caballe und Vassallo kenne ich allerdings nicht. Vielleicht hättest Du von Riccardo Mutis Aufnahme (1970) mit Montserrat Caballe, Antonietta Stella und Bruno Prevedi einen positiveren Eindruck gewonnen?


    https://www.youtube.com/watch?v=yFqDsEuv52w


    Ich stehe wohl doch mehr auf Belcanto oder Wagner/Strauss.


    Das sind natürlich enge Grenzen!
    Aber Enescu hast Du Dich getraut! Also gib doch Spontini auch eine Chance. Er hat sie verdient!
    Und - wie gesagt - so weit weg von Wagner ist seine Musik gar nicht mal. Mich hat es ja umgehauen, als ich im zweiten Akt gehört habe, wie Spontini von einem tiefen Ton (war es ein "Es"????) der Fagotte und Kontrabässe Schritt um Schritt einen Dreiklang nach oben aufbaut! Das ist ja genau der Anfang von Rheingold! Wahnsinn!!!


    BEste Grüße


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Dafür muss vor allem die Generalmusikdirektorin Zoi Tsokanou gelobt werden.


    Zoi Tsokanou ist ehemalige zweite Kapellmeisterin des Erfurter Theaters und derzeitig Chefdirigentin des Staatsorchesters Thessaloniki!!!
    Ich erhielt gleich drei E-Mails in denen ich auf den Fehler hingewiesen wurde!


    Heute ist übrigens eine eingehende Rezension von Klaus Heinrich Kohrs ind der FAZ.
    Überschrift:"Gewagt, gestemmt, gewonnen"
    Ob die auch in der frei verfügbaren Ausgabe im Internet abgedruckt wird, weiss ich nicht.


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Die p.p. Besprechung ist nun im Netz verfügbar!


    http://www.faz.net/aktuell/feu…dArticle=true#pageIndex_0



    Gewagt, gestemmt, gewonnen
    11.06.2018-10:11


    Erstmals seit 180 Jahren ungekürzt und in deutscher Originalfassung: Erfurt zeigt die romantisch-historische Oper „Agnes von Hohenstaufen“. Herausgekommen ist ein Extremwerk mit furiosem Finale.


    "Erhebet die Fahnen, bald rufen die Klänge der Kriegesdromete zum blutigen Tanz!“ Damit beginnt der martialische Schlusschor von Gaspare Spontinis großer historisch-romantischer Oper Agnes von Hohenstaufen, deren Beginn zum selben Geschwindmarsch im Zweivierteltakt den „Adler des heiligen Reiches“ beschworen hatte, der in „Welschlands Gefild“ für Ordnung sorgen soll. Hämmernd werden beide Zählzeiten betont, die zweite mit Pauke, Militärtrommel und großer Trommel noch stärker als die erste. Es geht um den Aufbruch von Kaiser Heinrich VI.* nach Sizilien, der dort sein legitimes Erbe sichern will. Am Ende der Oper stehen sie wieder am Anfang. Dazwischen entfaltet sich in vierundzwanzig erzählten Stunden eine Romeo-und-Julia-Geschichte auf dem Konflikt-Terrain der verfeindeten Welfen und Staufer: Kaiser Heinrichs Cousine Agnes, dem Sohn Heinrichs des Löwen früh versprochen, soll aus Staatsräson mit dem französischen König verheiratet werden, aber die Kavallerie in Form des welfischen Löwen-Vaters kommt noch rechtzeitig.


    Was soll man am Beginn des 21. Jahrhunderts mit einer solchen Geschichte und zudem mit einem schwer erträglichen Libretto-Deutsch, das ein Italiener in Musik gesetzt hat, anfangen? Das Theater Erfurt hat es dank des Engagements seines Chefdramaturgen Arne Langer gewagt, Spontinis letztes Werk, an dem dieser von 1827 bis 1837 gearbeitet hatte und das er für sein opus summum hielt, nach einer Pause von hundertachtzig Jahren in seiner Originalgestalt und in deutscher Sprache wieder auf die Bühne zu bringen. Vier extrem gekürzte italienische Produktionen zwischen 1954 und 1986 waren vorangegangen.


    Kraftakt und Überbietung
    Alles bei Spontini ist hier Kraftakt und Überbietung in gleich mehrere Richtungen. Widrigen Umständen an seiner Wirkungsstätte, der preußischen Hofoper in Berlin, sollte ein letzter Achtungserfolg entgegengesetzt werden. Eine früh schon, in „La Vestale“ und „Fernand Cortez“, gefundene hochexpressive Verbindung von Gesang und einem sprechenden Orchester sollte in eine letzte Konsequenz bis zur Grenze der Implosion getrieben werden. Der preußische Generalmusikdirektor Spontini verlangte den äußersten Einsatz von Menschen und Material: ein Riesenorchester plus achtzehnköpfiges Bläser-Fernorchester zur Imitation einer Orgel, eine große Banda und ein gewaltiges Choraufgebot. Alle Kräfte fasste er im doppelchörigen zweiten Finale, einer Sturmszene mit Blitzeinschlag, zu einem nie gehörten riesenhaften Crescendo zusammen. Wir stehen vor einem Extremwerk in der Liga von Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“ und Hector Berlioz’ „Trojanern“. Erfurt hat es gewagt – und gewonnen.


    Dass das Ende zugleich der Anfang ist und der Anfang schon das Ende, hat der Regisseur Marc Adam zur Leitidee gemacht: Der martialische Marsch umklammert mit eiserner Faust ein Geschehen, das in eine tief gestaffelte historische Perspektive gestellt ist: von den Schützengräben des Ersten Weltkriegs bis ins zwölfte Jahrhundert und wieder zurück bis zur Reichsgründung. Evoziert wird das durch ein in der Folge der Akte nur wenig modifiziertes zentralperspektivisches Bühnenbild, das in seiner Anlage die legendären Schinkelschen Bühnenbilder zitiert – und durch Kostümwechsel von der Weltkriegsuniform zum Mittelalter-Mummenschanz und zurück bis zur Pickelhaube (Monika Gora). Das ist mit leichter Hand gemacht. Aber die Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitschichten signalisiert zugleich Unentrinnbarkeit.


    Die Protagonisten wachsen aus dem großen ersten Chortableau heraus, so als würde die mächtige Musik die Individualschicksale gleichsam aus sich herausschleudern. Am Schluss der Oper treten sie ins Kollektiv zurück. Agnes spielt gar keine Rolle mehr. In Marc Adams Deutung aber – vielleicht sein schönster Gedanke – liegt ein erschöpfter junger Heinrich gleich am Anfang auf der Bühne, im derangierten Weltkriegs-Kommandostand, und ein leibhaftiger Adler sitzt ihm im Nacken. Beim Schlusschor finden sich die beiden endlich vereinten Liebenden an derselben Stelle, in derselben Stellung wieder, zwischen ihnen eine Gasmaske.


    Frei von allen Formstandards
    Musikalisch vollbringen das verstärkte Philharmonische Orchester Erfurt, die Chöre und die aus Laien bestehende Erfurter Stadtphilharmonie (für die Orgel-Evokation) unter der Leitung von Zoi Tsokanou Erstaunliches. Geradezu überwältigend gelingt das große Sturm-Finale des zweiten Akts. Souveräne Disposition von großen Entwicklungen ist zweifellos die Stärke der Dirigentin, weniger die musikalische Gegenwelt: jene unverwechselbare Idiomatik, die der große Spontini-Verehrer Berlioz „melancholisch-sinnlich“ genannt hat. Agnes’ Barcarole im ersten Akt gerät ihr so zur eher leichtfüßigen Tändelei, und auch Claudia Sorokina nimmt hier einen eher soubrettenhaften Einstieg in ihre Rolle, der Schlimmes befürchten lässt für ihre große Arie im zweiten Akt, jenes wundersame, frei von allen Formstandards sich entwickelnde Gebilde, das allen Seelenschwankungen nachspürt. Große melodische Bögen in immer neuen Varianten und in richtiger Phrasierung sind hier zu gestalten. Das gelingt ihr höchst eindrucksvoll.


    Genau dieses Verständnis fehlt dem jungen Heinrich von Bernhard Berchtold für seine Gefängnis-Arie „Der Strom wälzt ruhig seine dunklen Wogen“, ein melancholisches Siciliano, das auf ein düsteres Orchestervorspiel mit einer Kette verminderter Septakkorde folgt. Der andere Spontini, der die martialische Punktierung ins elegische Schweben zu verwandeln weiß, müsste noch stärker herausgearbeitet werden.


    Sopran aus der Starre
    Berchtold, der in Chemnitz einen so schönen Vasco da Gama gesungen hat, enttäuscht insgesamt durch die Unentschiedenheit seiner Rollenauffassung: ein Don Ottavio, den es ins jugendlich-heroische Fach verschlagen hat und der auch mit seinem „Waffenbruder“ Philipp (Todd Wilander) nicht recht harmonieren will. Eine faszinierende Charakterstudie liefert Maté Sólyom-Nagy als Kaiser Heinrich. Davon hätten die dröhnenden Bässe der alten italienischen Aufnahmen nur träumen können. Siyabulela Ntlale ist ein stimmschöner, wendiger französischer König, Margarethe Fredheim als Pfalzgräfin Irmengard ein hochdramatischer Sopran, der sich erfolgreich aus einer anfänglichen Starre löst.


    Aber diese Starre liegt, nach der wiederentdeckten, hier erstmals gespielten schönen Ouvertüre, über dem ganzen Beginn: Die Schrecken des Weltkriegs lassen nur ein dumpf-trotziges Stampfen zu, der Adler fliegt schon wieder: Vom Rücken des hingestreckten jungen Heinrich auf die Faust des Kaisers. So wird es – in Erfurt noch bis diesen Sonntag – weitergehen.





    _________________von meinem iPhone gesendet

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose