Im Rahmen des 3ten Internationalen Musikfestes Hamburg stand am gestrigen Abend eines der musikalischen Schlüsselwerke des 20ten Jahrhunderts auf dem Programm:
Karlheinz Stockhausen [1928 - 2007]
Gruppen für drei Orchester (1955 - 1957)
Cornelius Meister
Duncan Ward
Dietger Holm
ORF Radio-Symphonieorchster Wien
Wie zur Bekräftigung des Besonderen ging es heuer einmal nicht in die Elbphilharmonie, deren räumliche Möglichkeiten in diesem Fall schlicht nicht ausgereicht hätten, sondern in das neue Mehr! Theater am Großmarkt. Hierbei handelt es sich um eine der drei 1962 gebauten und inzwischen denkmalgeschützten Großmarkthallen des Architekten Bernhard Hermkes. Mit-Taminos, die vielleicht schon aus südlicher Richtung per Fernbahn in Hamburg angekommen sind, mag die charakteristische Wellenform des Hallenkomplexes in Erinnerung sein. Im Inneren der (Konzert-)Halle bot sich nun genügend Raum für die drei im Hufeisen angeordneten Orchester-Podeste, sowie eine ausreichende Bestuhlung sowohl in der Mitte der Podeste, sowie im hinteren, leicht erhöhten Parkettbereich.
Eine weitere Besonderheit an diesem Abend war dann die Möglichkeit der freien Platzwahl. Mein Bekannter, dem ich die Idee zum Besuch des Konzertes, sowie die Karte zu verdanken hatte, und ich nutzten dies, uns mitten im Geschehen, also zentral innerhalb des Hufeisens zu platzieren: Der Effekt war tatsächlich überwältigend! - Man mag sich lange über die Vor- und Nachteile der Stereophonie, der geeigneten Abspiel- und Schalltechnik streiten, auch die Frage, ob es sich besser im Parkett oder auf den Rangplätzen hört, ist sicher von Bedeutung, aber alle derartigen Fragen werden nebensächlich, wenn man sich in der Mitte dreier Orchester befindet und die Töne real von links nach rechts, vor einen in die Mitte und wieder zurück wandern. Vom ersten Ton an war klar, dass dieses Stück eigentlich nur in der direkten "Konfrontation" funktioniert. Die zuvor von mir mehrere Male vorbereitend gehörte CD-Einspielung (s.u.) liefert hier aufgrund ihrer akustischen Beschränkungen praktisch keinen Eindruck dessen, was gestern live zu erleben war. Man hat es gewissermaßen mit einem vollkommen anderen Werk zu tun. Man sitzt mit geschlossenen Augen, verfolgt einzelne Töne, Linien und Tongruppen, wie sie sich durch den Raum bewegen, wobei auch die Akustik der Halle erstaunlich gut ist.
Was dabei natürlich etwas verloren geht, ist der optische Eindruck dreier Dirigenten, die ja nicht nur jeweils ihr Orchester für sich leiten, sondern sich auch mit den beiden Partnern und deren Orchestern koordiniern müssen siehe hier).
Glücklicherweise, und hier kommt es neben dem Ort und der freien Platzwahl zur dritten Besonderheit des Abends, haben sich die Aufführenden an das Motto Günter Wands gehalten: "Ich sehe, Sie haben das Stück noch nicht verstanden. Ich werde es Ihnen daher nochmals zu Gehör bringen.". Nach der Pause wurde das ca. 25 minütige Werk ein zweites Mal gespielt! - Wieder mit freier Platzwahl ging es nun in den etwas erhöhten Bereich hinter dem Hufeisen, so dass wir jetzt alle drei Orchester und deren Leiter im Blick hatten. Der Raumklang-Effekt war weiterhin gegeben, wenngleich natürlich weniger ausgeprägt. Dafür präsentierte sich durch den stärkeren Mischklang ein durchaus anderes Stück. Interessant zu beobachten war, dass auch die Orchester, die gerade nicht spielten, schon weit vor ihren jeweiligen Einsätzen dirigiert wurden. Es fand so jeweils ein präzises "Einschwingen" auf den Takt und den Einsatz statt. Alle Beteiligten hatten ganz offensichtlich große Freude an dieser Aufführung.
Zu den Gruppen als Werk ist schon vieles gesagt und geschrieben worden. Angefangen bei der Tatsache, dass sich der Titel nicht, wie man leicht vermuten könnte, auf die drei Orchester(-gruppen), sondern vielmehr auf Tongruppen bezieht. Es handelt sich um ein Werk serieller Musik (siehe z.B. hier), welches, wie oben angedeutet, m.E. durch reines Hören etwa einer CD-Einspielung recht schwer zugänglich ist. Das Ohr eigentlich keine Anknüpfungspunkte in Form verfolgbarer Melodien oder wiederkehrender Motive. Erst das wirkliche Hören in der Aufführung wirkt in gewisser Weise einprägsam, d.h. nicht eigentlich das musikalische Ohr, sondern eher die gesamte Wahrnehmung erkennt räumlich sich bewegende, wiederkehrende Effekte, Strukturen und Momente. Vor diesem Hintergrund scheint es quasi unumgänglich, dass Stück mit einer zwischenliegenden Pause zweimal zu spielen. Die Idee des Raumklanges kommt auch in vielen anderen Werke Karlheinz Stockhausens zur Geltung, so verwendet er in Carré (1960) konsequenterweise vier Orchester in entsprechender Anordnung.
Wer jetzt neugierig geworden ist und Stockhausens Werk Nr.6 "Gruppen" zumindest höhrend oder sehend erfahren will, wird hier fündig:
p.s. Soeben habe ich entdeckt, dass sich auch die "professionelle Schreibe" geäußert hat: Synchronschwimmen in Orchesterklängen (Joachim Mischke, Hamburger Abendblatt; zuletzt aufgerufen am 29.05.2018).