Die großen alten Dirigenten und ihr Schatten

  • In einem anderen Thread wurde über das Verhältnis der "Großen Alten" im Verhältnis zu den "heutigen" und den "Jungen" Dirigenten nachgedacht. Ich halte das für ein interessantes Thema, das meiner Erinnerung nach schon vor einigen Jahren am Programm von Tamino stand, aber die Zeiten ändern sich und die Mitglieder mit ihnen. Somit bringe ich es wieder aufs Tapet.
    Das "Problem" existioert ja erst seit Einführung der Schallplatte und da eigentlich auch der Stereophonie, denn historische Aufnahmen aus dem orchestralen Bereich machen einen geringen Anteil aus, sie werden meist aus historischem Interesse, selten aber aus Freude an der Musik gehört.
    Im Live Bereich ist die sache wie vor 130 Jahren. Ein Dirigent füllt seine Position aus, dirigiert besser oder weniger gut, ist beim Publikum beliebt oder weniger beliebt, oft sogar weltberühmt. Mit seinem Tode kommt einerseits die Legendebildung in Ganf, aber bald ist er aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden.
    Anderes im Bereich der Schallpallte (hier allgemein für Tonträger verwendet) Schon zu Lebzeiten werden Unmengen von Schallplatten des Künstlers verkauft (so er berühmt ist) Nach seinem Ableben werden die Aufnahmen quasi zu einem Vermächtnis, einem Zeitfenster, einem legendenstützendem Utensil.
    Von nun an muß sich jeder Newcomer der Vergangenheit stellen, die noch dazu verklärt und geschönt werden kann.
    Hier sind die Toten inder pensionierten eine fast unschlagbare Konkurrent für Gegenwart und Zukunft...


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Das Thema ist keines der jüngsten Zeit, auch wenn es manchmal so anmutet. Als Leopold Stokowski Ende der 1930er Jahre das Philadelphia Orchestra verließ – er hatte es weltberühmt gemacht und international in die allererste Reihe katapultiert –, hatte sein Nachfolger Eugene Ormandy einen schweren Stand, obwohl er quasi Stokowskis Wunschkandidat war und sein Bestes tat, um das erreichte Niveau zu halten. Es half aber alles nichts, bis zuletzt wurde Ormandy an Stoki gemessen, und wenn Ormandy einen großartigen Auftritt hatte, schrieb die Presse es meist eher der Vorarbeit Stokowskis zu ...


    Nicht unähnlich war die Situation beim Tode des Giganten Wilhelm Furtwängler 1954. Allerdings gelang es seinem Nachfolger Herbert von Karajan bekanntlich, aus dessen Schatten herauszutreten und selbst zu einem "großen Alten" zu werden, was seither wohl keinem seiner Nachfolger in diesem Ausmaß gelungen sein dürfte, auch wenn Abbado und Rattle zweifellos respektierte Dirigenten waren bzw. sind. Vermutlich gab es aber auch bei Karajan, zumal in den Anfangsjahren in Berlin, Unkenrufe, dass er nicht an Furtwängler heranreiche. Aufgrund des Unbehagens vieler Klassikhörer, sich Monoaufnahmen anzutun, können sie dies aber selbst gar nicht nachprüfen, was Karajan zu Gute kommen sollte.


    Anders als bei Furtwängler war der "große Alte" ja im Falle Stokowskis auch nicht endgültig abgetreten, sondern quicklebendig und ungemein aktiv bis ins hohe Alter von 95. Ormandy hatte also gewissermaßen den Vorgänger fast seine gesamte lange Amtszeit in Philadelphia über im Nacken. Wie demütigend muss es für ihn gewesen sein, als Stokowski 1960 nach 19 Jahren Absenz als Gastdirigent nach Philadelphia zurückkehrte und umjubelte Dirigate feierte, von denen manche Kritiker meinten, endlich werde das volle Potential des darniederliegenden Orchesters endlich wieder ausgeschöpft. Nicht Ormandy, sondern Stokowski bekam noch mit über 80 einen lukrativen Vertrag mit Decca.


    Komischerweise spricht heute zumindest hierzulande aber kaum mehr jemand von Stokowski (in Amerika ist das anders), von Ormandy ganz zu schweigen. Furtwängler und Karajan dagegen sind in aller Munde, was bei ersterem auch nicht zwangsläufig war, schien er mit Einführung der Stereophonie doch erst einmal nicht mehr konkurrenzfähig zu sein. Die Furtwängler-Renaissance begann wohl in den 70er Jahren, als erstmals die neun Symphonien von Beethoven unter seinem Dirigat komplett auf LP erschienen (die 2. hatte man erst kurz davor ausgegraben, ein selbst für das Entstehungsjahr 1948 unterdurchschnittlich klingender Live-Mitschnitt aus London).

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Hier sind die Toten inder pensionierten eine fast unschlagbare Konkurrent für Gegenwart und Zukunft...


    Bei solchen Sätzen habe ich immer den Verdacht, dass hier sehr persönliche Vorlieben zu einer vermeintlich allgemeingültigen Diagnose erhoben werden. Angesichts der Vielzahl der jeden Monat auf den Markt kommenden neuen Aufnahmen, die ja wohl auch gekauft werden, kann von einer "unschlagbaren Konkurrenz" wohl nicht die Rede sein. Und im Konzertbetrieb spielen die "großen alten Dirigenten", die kaum einer der heutigen Konzertgänger noch live erlebt haben dürfte (je nachdem, wie man "alt" definiert), sowieso keine Rolle.


    Dass man Nachfolger an ihren Vorgängern misst, ist in allen Bereichen der Fall, nicht nur im Musikbetrieb. Manchmal ist man froh, dass der "Alte" endlich weg ist, manchmal trauert man ihm nach und beäugt den Nachfolger eher skeptisch. Und immer wird es Menschen geben, die nostalgisch dem Alten verhaftet sind und andere, die sich auf neue Herangehensweisen freuen...

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Und im Konzertbetrieb spielen die "großen alten Dirigenten", die kaum einer der heutigen Konzertgänger noch live erlebt haben dürfte (je nachdem, wie man "alt" definiert), sowieso keine Rolle.


    Dagegen lässt sich nichts einwenden. Für mich sind die "großen alten Dirigenten" nicht nur nach Lebenszeit zu definieren. Alter allein reicht nicht. ;) Je mehr Zeitgeschichte sie verkörpern, je mehr Brüche durch ihre Biographie gehen, desto mehr interessieren sie mich. Ich glaube, das hört man am Ende dann auch heraus. Dieser Typ ist tatsächlich ausgestorben und wächst nicht nach in unserer behäbigen Zeit, wo alles geordnet seinen Gang nimmt und das Geld in vollen Zügen ausgegeben wird. So beruhigend das sein mag, der allgemeine Wohlstand ist nicht die allerbeste Voraussetzung für die Kunst - wie ich glaube.


    Bei vielen Dirigenten im vorgerückten Alter bemerke ich eine Neigung, immer nur noch dasselbe zu machen. Sie pflegen den Bestand. Sie sind mir nicht neugierig genug. Barenboim hier in Berlin macht gefühlt nur noch Wagner. Das finde ich derart langweilig, dass ich schon nicht mehr hingehe. Ein langjähriges Mitglied eines sehr renommierten Orchesters erzählte mir mal, dass er und seine Kollegen besonders gern mit den alten Dirigenten gearbeitet haben. Das Orchester habe immer genau gewusst, wie sie es haben wollten. Und so geschah es dann auch. Eigentlich hätte es der Dirigenten gar nicht mehr gebraucht. Das mag überzogen klingen, offenbart aber einen Sachverhalt.


    Als Teil des Publikums will ich auch die Jungen erleben, mich mitreißen lassen, bevor sie selbst behäbig und Teil des Systems werden. :untertauch:



    https://www.youtube.com/watch?v=uzLa6V4uO0U

    https://www.youtube.com/watch?v=YoXqLSGfhIk

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Es ist mir fast, als wiederholte sich die Geschichte, wenn ich den sympathischen und talentierten Robin Ticciati jetzt in Berlin sehe. Optisch erinnert er mich etwas an den jungen Rattle, beide sind sie ja Engländer. Zwar ist Ticciati nicht bei den Philharmonikern, aber das muss kein Schaden sein. Was sollte auch nach einer Berufung zum Chefdirigenten derselben in so jungen Jahren noch kommen? Das DSO Berlin ist auch für sich genommen ein vorzüglicher Klangkörper, der mich manchmal mehr überzeugte als die berühmteren Kollegen (bei Günter Wand kann man das ja teilweise sehr schön vergleichend hören). Ich kenne einige seiner Aufnahmen, offizielle und Rundfunkmitschnitte. Da ist schon das gewisse Etwas spürbar. Einer, der auch schon in jungen Jahren genau weiß, was er will, und keine Angst vorm großen Schatten der Alten zu haben braucht.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Bei solchen Sätzen habe ich immer den Verdacht, dass hier sehr persönliche Vorlieben zu einer vermeintlich allgemeingültigen Diagnose erhoben werden.


    Dieser Verdacht ist verständlich, aber ebenfalls ein Vorrteil. Den - wenn das auf mich gemünzte sein sollte (und ich zweifle nicht daran, daß dies der Fall ist) dann widerspreche ich aufs entschiedenste, denn all meiner Vorlieben und Abneigungen zum Trotz habe ich mir meinen analytischen, zuweilen etwas umbarmherzigen. Verstand bewahrt.
    Natürlich verkaufen sich auch heutige Aufnahmen, und vielleicht sogar noch etwas mehr als historische (Wenngelich eine gesunde Skepsis hier nicht unangebracht wäre) Dies muß man aber bereit vor Jahren verkauftem und noch immer inder "Sammlerszene" kursierenden "Altaufnahmen" hinzurechnen. Und natürlich muß man den Livekonzerthörer von reinen Konservensammler trennen.
    Livehörer kaufen gerne Aufnahem von Leuten, die sie im Konzert erlebt haben.


    Ich erinnere mich an ein internationales Forum, wo so uo 2005 herum hauptsächlich Aufnahme der dreissiger Jahre empfohlen wurden. Dagegen war ich ja geradezu avantagardistisch-progressiv.......


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !