Anja Harteros und Jonas Kaufmann in Andrea Chenier (Giordano), Bayerische Staatsoper, 02.11.2017

  • Diese selten gespielte Oper habe ich bisher einmal gehört, in einer konzertanten Aufführung unter der Leitung von Simone Young in der Besetzung Fantini, Botha, Grundheber. Da damals der Gesang ganz im Vordergrund stand, hatte ich an dieses Werk eine recht gute Erinnerung und bedauerte das Fehlen der Szene, doch dazu später.


    Heute wurde ganz hervorragend gesungen. Anja Harteros beherrschte ihre Rolle als Maddalena gesanglich einfach perfekt, sie war viel besser als damals die mit starkem Vibrato und zur Stimmschärfe neigend singenden Norma Fantini. Allerdings gehört Harteros‘ Stimme zu jenen, die sich meiner Erinnerung entziehen, die ich, sähe ich die Sängerin nicht, kaum wiedererkennen würde. Bei Jonas Kaufmann (Andrea Chenier) ist das anders. Seine Stimme hat ein charakteristisches, baritonal-viriles Timbre mit changierenden Stimmfarben, die der Tenor gezielt interpretatorisch einsetzen kann. Seine Höhe ist zwar nach oben begrenzt, wenn er aber nicht ganz gefordert wird (wie beim hohen C des Manrico) erreicht auch er einen stimmlichen Glanz, der unter die Haut geht. Kaufmanns Schwelltöne sind beeindruckend, ohne ausladendes Vibrato, fast einem Celloton vergleichbar. Das macht ihn unter den heutigen Tenören vor allem im französischen und veristischen Fach so einmalig. Es ist eben nicht nur die ohne Zweifel vorhandene persönliche Ausstrahlung und seine darstellerische Intensität, sondern vor allem Kaufmanns Möglichkeit, mittels der ihm zur Verfügung stehenden Stimmfarben, seiner Stimmkraft und seinem langen Atem die tieferen Emotionen des Gesungenen zum Ausdruck zu bringen und damit die Herzen des Publikums bis hinauf zur Galerie zu erreichen. Nicht nur Harteros‘ und Kaufmanns Leistung wurden vom Publikum frenetisch bejubelt, sondern auch die von George Petean als Gerard. Ich empfand ihn anfangs nur laut und vermisste den Glanz, über den Peteans Stimme sonst verfügte. Erst in seiner großen Arie im vorletzten Bild vermochte er mich zu überzeugen, wenngleich nicht zu berühren.


    Das mag aber auch an der bis in das kleinste Detail naturalistischen, zunächst sehr beeindruckenden Inszenierung gelegen haben. Das Bühnenbild bestand aus mehreren über die riesige Bühne des Münchner Nationaltheaters verschiebbaren, realistischen, mehrgeschossigen Häuser- und Straßenaufbauten. Der erste Akt zeigte den Querschnitt durch ein gräfliches Schloss, in dessen Kellergewölben das Küchenpersonal dicht gedrängt und jammervoll aussehend das Bankett zubereitete. Darüber befand sich der große Salon, in dem die Gräfin von Coigny (Helena Zubanovich) sowie ihre Tochter Maddalena (Harteros) mit Hilfe ihres Majordomus namens Gerard (Petean) ihre Gäste, darunter den Dichter Chenier (Kaufmann), empfing (Die Revolution bricht in Paris aus, die Gräfin wird umgebracht, Gerard ist zum Polizeichef aufgestiegen, Chenier als Abweichler auf der Flucht). Das zweite Bild zeigt den Querschnitt durch ein mehrgeschossiges Haus mit Bordell unter dem Dach, Empfang im Erdgeschoss und Versteck im Kellergewölbe. Gerad wird dort bedrängt, die Stadt zu verlassen, er will aber einer ihm unbekannten Dame wegen (die ihm anonym vertrauliche Briefe schickt) bleiben. Das den Vordergrund der Bühne füllende Haus verschwindet auf der Seitenbühne und von der Hinterbühne gelangt eine Straßenansicht nach vorn (mit patrouillierenden Jakobinern), darunter, von der Straße aus durch einen Gullydeckel zugänglich, offenbar die Abwasserkanäle oder auch diverse Kellergänge, in denen sich Chenier mit der unbekannten Dame, es handelt sich um Maddalena, trifft. Maddalena bittet Chenier um Hilfe, sie gestehen sich ihre Liebe. Aber auch Polizeichef Gerard will Maddalena für sich (wie Scarpia) und lässt sie aufspüren, sie bietet sich ihm an, wenn (der inzwischen verhaftete) Chenier dafür frei käme. Von dieser „selbstlosen Liebe“ tief beeindruckt wandelt sich Gerard zum Gutmenschen und will Chenier und Maddalena zur Flucht verhelfen. Es ist aber schon zu spät. Chenier wird im Gerichtssaal (das Haus fährt an die Seite, von hinten gelangen Tribünen nach vorn, ein mauerartiger Vorhang schwebt von oben herab und begrenzt die Rückwand) zum Tode verurteilt. Letztes Bild: Unter der Kerker, oben die vom Henker lustvoll für die Hinrichtung hergerichtete Guillotine. Maddalena entscheidet sich, für eine andere Verurteilte zusammen mit Chenier zu sterben, der reumütige Gerard hilft dabei. Maddalena und Chenier besteigen die Guillotine, es gibt einen letzten Liebesgruß und Kaufmann legt sich bäuchlings auf den Guillotionentisch, sein (dann nicht mehr sichtbarer) Kopf wird mit einem Balken eingeklemmt, dass Fallbeil saust herab, das umstehende Volk ist belustigt, Maddalena ist die nächste, das wird aber nicht mehr gezeigt.


    Im Grunde handelt es sich bei diesem Stück um eine inhaltlich kaum erträgliche Schmonzette auf dem Niveau eines Groschenromans, die hier im Nationaltheater technisch aufwendigst in naturalistischer Manier wiedergegeben wird. Sonst sieht man solch ein bühnentechnisches Spektakel eigentlich nur bei den Stage-Musicals, zum Beispiel beim Phantom der Oper. Mich hat vieles an diese Musical erinnert, nicht nur die Oberflächlichkeit (wobei mir die Liebe von Christine zu dem Phantom noch nachvollziehbarer ist als dieser Liebestod von Maddalena), sondern auch die Besetzung mit einem ausgewachsenen Tenor (damals Peter Hofmann mit Resten seiner einstmals schönen Stimme) und einer Sopranistin. Es gibt allerdings einen Unterschied, bei der heutigen Aufführung wurde sehr viel besser gesungen.

    Oper lebt von den Stimmen, Stimmenbeurteilung bleibt subjektiv

  • Lieber Ralf,
    danke für diesen ausführlichen, bildhaften Bericht mit überzeugenden Stimmanalysen. Obwohl ich "Andrea Chenier" erst in Budapest - ebenfalls in einer voll befriedigenden Aufführung erlebte - hast Du den Wunsch geweckt, diese Oper, in dieser Besetzung auch in München zu hören. Gleichzeitig enstand der Wunsch, öters einen solchen Bericht von Dir zu lesen. Weihnachten ist ja die Zeit, wo man Wünsche äußern darf. Ob sie wohl erfüllt werden?


    hezrlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Lieber Ralf,


    danke für deinen tollen Bericht. Ich war auch in der Vorstellung am 29.11. nachdem ich schon die Preniere letzten März gesehen habe. Ich schliesse mich deiner Beschreibung vollinhaltlich an. Ich finde die ganze Inszenierung, das Zusammenspiel des Ensembles hat seit der Premiere deutlich gewonnen, Kaufmann und haretros haben sich seit damals deutlich gesteigert, auch der Bariton, der als einziger der Hauptpartien neu in dieser Serie war, gefiel mir leicht besser, als der Sänger der Premiere.


    Die Inszenierung, die du so ausführlich beschrieben hast, ist anders als die meisten anderen Neuproduktionen in München klug durchdacht und wunderschön. Besonderes Lob gebührt dabei der Kostümabteilung. Ensprechend begeistert war auch das Publikum. So eine Produktion kann zu einem wahren Repertoire-Klassiker werden (wie Schenks Boheme) und durchaus auch noch Leute in 30 Jahren glücklich machen!