Le nozze di Figaro - Bayerische Staatsoper, Spielzeit 2017/18

  • Ich weiß nicht, in welches Brett dieser Thread hier am besten passt, weil ich diese Inszenierung NICHT gesehen habe, es aber gerne täte. Selbstverständlich ohne das, was dort als Musik angeboten wird. Vielleicht hat es ja schon jemand gesehen, oder wird das noch tun?


    Hier auf jeden Fall ein offizieller Trailer:




    Die "Abendzeitung München" hat ein Interview mit dem Regisseur Christof Loy veröffentlicht, das auch hier in voller Länge nachlesbar ist: http://www.abendzeitung-muench…77-8870-6459136abdcf.html


    Auf ein paar Punkte daraus möchte ich gerne eingehen.


    Zitat

    Eines scheint sicher: Im Rokoko spielt die Inszenierung nicht.


    Ich möchte das Augenmerk auf die Figuren lenken. Es geht mir um eine maximale Identifikationsmöglichkeit – erst für die Sänger, dann für den Zuschauer. Die Kostüme zeigen soziale Abstufungen, die aber auch nur relativ sind. Es geht um die Beziehungen der Figuren untereinander.


    So etwas sehe ich recht zwiegespalten. Ich finde es sehr gut, dass er das Augenmerk auf die Figuren lenken möchte, und nicht auf Prunk und Schnörkeleien, die zur Zeit der Uraufführung natürlich vom Publikum verstanden und mit entsprechend kritischem Abstand gesehen wurden, nach dem Motto "So leben die da oben", heute aber nur mehr als Augenschmaus wahrgenommen wird, zumindest bei sehr vielen Zuschauern.
    Andererseits habe ich meine Probleme mit den "Identifikationsmöglichkeiten", denn eigentlich sollte man sich NICHT mit diesen Figuren identifizieren, weil das m.E. doch eindeutig gegen die Absichten von Beaumarchais ist. Würde mich auf jeden Fall interessieren wie er eine solche Identifikationsmöglichkeit bewerkstelligen will.



    Zitat

    Kann man das Stück aus seiner Zeit lösen? So etwas wie das „Recht der ersten Nacht“ gibt es heute nicht mehr.


    Im 18. Jahrhundert gab es das auch nicht. Es scheint ohnehin eine poetische Erfindung zu sein. Da scheint es mir erlaubt, „Le nozze di Figaro“ noch näher an uns heranzurücken.


    Ob es dieses Recht gab, darüber wird gestritten. Loy sagt hier aber felsenfest, dass es das gar nicht gab. Aber auch wenn es das nicht gab, es wird in diesem Stück nicht "poetisch" verwendet, sondern um "Laster, Missbrauch und Willkür" (Beaumarchais) anzuprangern. Es geht ja nicht nur um das Recht der ersten Nacht alleine, sondern generell darum, was speziell der Graf alles anstellt, z.B. sich an 12 jährige Mädchen ranzumachen - und das ist definitiv kein erfundenes Verhalten.
    Es geht um die Kritik am Adel vor der Revolution, und das hat nun mal sehr viel mit dieser speziellen Zeit zu tun. Loy macht es sich hier doch zu einfach, indem er nur vom jus primae noctis redet, meint, dass es das eh nicht gab, und man das Stück deswegen aus seiner Zeit lösen könne.



    Zitat

    Viele Regisseure halten Figaros Aufstand gegen den Grafen für einen Vor-Schein der Französischen Revolution. Wie sehen Sie das?


    Die Vorlage, die Komödie von Beaumarchais, ist sicher ein Aufklärungsstück. Sie appelliert, sich des eigenen Verstandes zu bedienen und Standesschranken abzubauen. Die Oper nimmt da eher eine Gegenposition ein. Mozart behauptet: Wo die Liebe zuschlägt, in diesem ganzen Kraftfeld der Sehnsüchte und Träume, ist der Verstand machtlos.


    Dieser Meinung kann ich mich nicht so recht anschließen.
    Dass Mozarts Oper (sicher auch teilw. zensurbedingt) viele politische Dinge (wie etwa die Schlussrede von Figaro) weggelassen hat, ist unbestritten. Aber wirkliche Liebe, außer vielleicht noch bei Cherubino, entdecke ich auch bei Mozarts Oper nicht. Und was soll "wo die Liebe zuschlägt, ist der Verstand machtlos" bedeuten in diesem Zusammenhang? Wo liebt jemand in dieser Oper so sehr, dass der Verstand aussetzt? Figaro gerät manchmal in Erklärungsnot, aber doch sicher nicht, weil er jemanden liebt, sondern weil er in dieser Oper im Vergleich zum Original deutlich "dümmer", wenigstens begriffsstutziger gemacht wurde.



    Zitat

    Vertrauen Sie der Versöhnung zwischen Graf und Gräfin am Ende?


    Daran nicht zu glauben, wäre sehr, sehr konventionell. Der Graf hat sich unglaublich verrannt. Es ist für ihn ein großer Schritt, in aller Öffentlichkeit, die Gräfin um Verzeihung zu bitten. Hier bedient sich die Komödie einer Technik der Tragödie – der reinigenden Katharsis durch extreme emotionale Zustände. Das ist ein Moment, wo ich auch gerührt werden möchte.


    WAS?!?!
    Reinigende Katharsis beim Grafen? Emotionale Zustände? Eine extrem naive Sicht auf diese Figur in dieser Szene, die nicht nur den dritten Teil völlig vergisst, sondern auch die Musiksprache in dieser Szene nicht berücksichtigt. Der Graf kniet nieder und sagt "Entschuldigung" - und da möchte er gerührt werden? Reichlich oberflächlich, das!



    Zitat

    Warum ist die Rührung so wichtig?


    Das ist der Moment, wo man als Mensch alle Panzer ablegt, die man sich durch Erziehung und bittere Notwendigkeiten zugelegt hat. Es ist erlaubt, im Theater diese Transparenz zuzulassen und auch zu weinen.


    Auweh ... der Graf, der hier alle Panzer ablegt ... ich sag da jetzt nichts mehr dazu.



    Zitat

    Viele Zuschauer verwirrt die komplizierte Intrige im „Figaro“.


    Ich habe einen langen Weg mit der Oper hinter mir – über eine Inszenierung der Beaumarchais-Komödie zur Oper, die ich 1998 in Brüssel mit Antonio Pappano herausgebracht habe. Insofern kenne ich die Handlung sehr genau. Aber ich rate Darstellern wie Zuschauern eher, sich nicht in den Details zu verheddern und mehr die Gefühlszustände und die emotionale Reise der Figuren zu beobachten.


    Und wieder mal die Rede vom Gefühl. Und ich nehme stark an, dass der Regisseur auch Mozarts Musik rein gefühlsmäßig "erfassen" wird, nach dem Motto "Oh, das klingt jetzt rührend, also ist es auch rührend gemeint, und ich darf weinen" - ohne zu merken, dass Mozart in diese oberflächliche Rührung gegenteilige Aussagen eingebaut hat.


    Zum Thema "Gefühl" zitiere ich hier den von mir sehr geschätzten Kabarettisten Günther Paal alias Gunkl in einem aktuellen Interview des Standard.


    Zitat

    STANDARD: Gefühle werden überbewertet?


    Paal: Überbewertet in ihrem Anspruch, als Argument zu gelten. Das Gefühl gilt als Argument, und weil man Gefühle nicht wegreden kann, sind sie unumstößlich. Gefühle sind nicht korrumpierbar von der Faktenlage, und deswegen glaubt der Gefühlsträger, dass sie berücksichtigt werden müssen von der Welt. Fakten zählen dann nicht, Gefühle werden berücksichtigt. Das ist deppert, denn wenn es um die Welt geht, muss man Gefühle von dem trennen, was ist.



    Zitat

    Wie haben Sie mit dem Dirigenten Constantinos Carydis zusammengearbeitet?


    Carydis hat mir vor Probenbeginn alles am Klavier vorgespielt, damit wir gegenseitig den emotionalen Unterbau kennenlernen, den wir beide mit der Musik verbinden. Das hat sich bei den Proben fortgesetzt. Bei den Rezitativen hat er mir freie Hand gelassen: „Das ist Theater, das machst Du“.


    "den emotionalen Unterbau, den wir mit der Musik verbinden"
    Damit ist eigentlich schon alles gesagt. Reiner Gefühlshörer. Und natürlich am Klavier vorgespielt, a=440Hz, Equal Tuning - und daraus möchte er dann den "emotionalen Unterbau" heraushören. Dass bestimmte Emotionen (vereinfacht gesagt) bei Mozart auch über den Charakter, die Farbe der jeweiligen Tonart transportiert werden, an sowas denkt er nicht. Bei solchen Aussagen werde ich so wütend wie die RT-Gegner, wenn sie Papageno mit Aktentasche auf der Bühne sehen.



    Zitat

    Wie lässt sich eine in enger Zusammenarbeit zwischen Regisseur und Dirigent entstandene Aufführung im Repertoire erhalten?


    Der Regieassistent, der „Le nozze di Figaro“ betreut, kennt meine Arbeitsweise seit zehn Jahren. Die szenische Betreuung ist an der Bayerischen Staatsoper sehr gut. Eine größere Gefahr sehe ich, wenn der Dirigent wechselt: Diese Aufführung braucht eine bestimmte musikalische Sprache. Aber das lässt sich schwer vorhersagen: Manche Aufführungen fallen nach der Premieren-Serie in sich zusammen, andere nicht. Dafür gibt es keine Regel: Theater ist immer voller Geheimnisse für mich.


    Ganz ruhig, nicht aufregen, nicht aufregen ... denk an das Concerto Köln, denk an die Akademie für Alte Musik Berlin, denk daran, dass wir 2017 haben, und nicht mehr 1960 ...




    LG,
    Hosenrolle1

  • NICHT mit diesen Figuren identifizieren, weil das m.E. doch eindeutig gegen die Absichten von Beaumarchais ist.

    Naja, liebe Hosenrolle, das Libretto stammt ja nicht von Beaumarchais, sondern von Da Ponte. ;) Da wird der Stoff also operngemäß umfunktioniert. "Identifikation" ist so abwegig nicht, s.u.!

    WAS?!?!
    Reinigende Katharsis beim Grafen? Emotionale Zustände? Eine extrem naive Sicht auf diese Figur in dieser Szene, die nicht nur den dritten Teil völlig vergisst, sondern auch die Musiksprache in dieser Szene nicht berücksichtigt. Der Graf kniet nieder und sagt "Entschuldigung" - und da möchte er gerührt werden? Reichlich oberflächlich, das!

    Wie ich Christoph Loy verstehe, betont er im Interwiev den Aspekt der "Rührung":


    Warum ist die Rührung so wichtig? Das ist der Moment, wo man als Mensch alle Panzer ablegt, die man sich durch Erziehung und bittere Notwendigkeiten zugelegt hat. Es ist erlaubt, im Theater diese Transparenz zuzulassen und auch zu weinen.


    Das überzeugt mich insofern, als zur Zeit der Entstehung der Oper die "Empfindsamkeit" in der Tat in große Mode kommt. Die berühmte Wendung damals ist: "das Herz rühren". Man wollte wirklich im Theater weinen - und das kann man nur, wenn das Verhältnis zu den Personen auf der Bühne eine Form von Identifikation ist. Sonst ist es schlicht unmöglich, mit den Figuren mitzuleiden und gerührt zu werden. Die "Katharsis" ist dann, dass die Empfindsamkeit über die gesellschaftliche Konvention und das dadurch geprägte Rollenverhalten siegt. Als empfindsamer Mensch, wenn er metaphorisch gesprochen seine konventionelle Rollenkleidung abgelegt hat, erkennt der Graf, was er Unmögliches getan hat und bereut. Genau darin liegt auch die gesellschaftskritische Funktion: Die "Natur" des Menschen (seine "Empfindsamkeit") meldet sich und macht die gesellschaftliche Konvention unwirksam. Der Mensch besinnt sich auf sein "Rein-Menschliches" (ein Ausdruck von Richard Wagner - nicht zufällig, denn dieses Motiv der Empfindsamkeit aus dem 18. Jhd. wird von der Romantik des 19. Jhd. weiter transportiert).


    Ich habe mich mit dem Metier nicht intensiv beschäftigt. Interessant wäre, Mozarts Briefe z.B. hinzuzuziehen, ob es dort dafür Anhaltspunkte gibt. Aber zum "Zeitgeist" passt diese Interpretation, insofern habe ich auch keine Probleme damit.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich persönlich richte mich lieber nach dem, was Beaumarchais selbst geschrieben hat über seine Absichten, nicht danach, in welche Zeit das Stück bzw. die Oper fällt. Das mag schon interessant sein, aber ist mir zu weit hergeholt und auch unnötig, einem Stück einfach mal so ein Thema überzustülpen. Allerdings wüsste ich auch nicht, wo genau man gerührt sein soll in einem Stück, wo eine 12 jährige von einem Erwachsenen angebaggert wird.


    Naja, liebe Hosenrolle, das Libretto stammt ja nicht von Beaumarchais, sondern von Da Ponte. ;) Da wird der Stoff also operngemäß umfunktioniert. "Identifikation" ist so abwegig nicht, s.u.!


    Mit wem identifzierst du dich denn in dieser Oper? Auf die Antwort bin ich jetzt gespannt.


    Als empfindsamer Mensch, wenn er metaphorisch gesprochen seine konventionelle Rollenkleidung abgelegt hat, erkennt der Graf, was er Unmögliches getan hat und bereut.


    Das mag oberflächlich so wirken, aber wie du ja auch weißt, sagt die Musik noch ein bisschen mehr, und wir wissen, was im dritten Teil passieren wird. Die Reue ist ziemlich scheinheilig beim Herrn Grafen.




    LG,
    Hosenrolle1

  • Ich persönlich richte mich lieber nach dem, was Beaumarchais selbst geschrieben hat über seine Absichten, nicht danach, in welche Zeit das Stück bzw. die Oper fällt. Allerdings wüsste ich auch nicht, wo genau man gerührt sein soll in einem Stück, wo eine 12 jährige von einem Erwachsenen angebaggert wird.

    Die Rührung ist da ganz einfach der Abscheu, den man empfindet.

    Mit wem identifzierst du dich denn in dieser Oper? Auf die Antwort bin ich jetzt gespannt.

    Da lohnt es sich, Wagners "Oper und Drama" zu lesen. Wagner schreibt nämlich, dass die Identifikation sowohl positiv als auch negativ sein kann, anziehend oder ablehnend, also liebend oder hassend ausfallen kann.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Achso, na gut ... aber dennoch spricht der Regisseur hier von einer Katharsis beim Grafen, vom Ablegen des Panzers, und das halte ich für völlig verkehrt.


    Ich finde es sehr gut, dass seine Inszenierung recht minimalistisch ist, das Bühnenbild und die Kostüme nicht zu sehr von den Figuren ablenken, aber mir scheint, dass seine Sicht auf diese Figuren, speziell auf den Grafen, sehr naiv ist. Natürlich fehlt vieles von der Politik aus dem Original, und sicher wurde ein bisschen was geändert, aber dennoch ist da Kritik enthalten, entweder in der Handlung, oder aber in der Musik. Der Graf wurde hier nicht "abgemildert", sondern steht nach wie vor auf 12 jährige Mädchen und ist ein fürchterlicher Mensch.
    Von dem, was in der Musik "gesagt" wird wissen wir ja leider nichts oder erschreckend wenig. In meinem Thread "Mozarts Musiksprache" habe ich versucht, mich dem anzunähern, leider hat sich da noch keiner gefunden, der ebenfalls etwas dazu zu sagen hat, da auch auf Entdeckungsreise gehen möchte.




    LG,
    Hosenrolle1

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  • Ich habe an der Einsichtsfähigkeit des Grafen Almaviva immer gezweifelt. Sein "Contessa persono!" ist dem Zeitpunkt geschuldet, in der die Bitte um Vergebung ausgesprochen wird. Und die Antwort der Gräfin "Più docile io sono, e dico di si" wird ihn schon wenige Stunden später wieder in seine alte Routine zurückführen.
    Was aus dieser Geschichte werden könnte - der Blick auf "Figaro lässt sich scheiden" gibt eine von mehreren möglichen Antworten.


    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER

  • Ich habe an der Einsichtsfähigkeit des Grafen Almaviva immer gezweifelt. Sein "Contessa persono!" ist dem Zeitpunkt geschuldet, in der die Bitte um Vergebung ausgesprochen wird. Und die Antwort der Gräfin "Più docile io sono, e dico di si" wird ihn schon wenige Stunden später wieder in seine alte Routine zurückführen.
    Was aus dieser Geschichte werden könnte - der Blick auf "Figaro lässt sich scheiden" gibt eine von mehreren möglichen Antworten.


    :hello:


    Ganz deiner Meinung!


    Im Hosenrollen-Thread habe ich kurz etwas zu dem Thema zitiert, das ich nicht so abwegig finde, was hältst du davon?




    Das "Contessa perdono" des Grafen muss man ja schon kritisch betrachten; Gunthard Born schreibt in einem Kapitel seines Buches "Mozarts Musiksprache" über bestimmte Tonfiguren:



    Es folgen einige Beispiele solcher katabasis-Figuren aus anderen Opern, dann die besagte Stelle:




    LG,
    Hosenrolle1

  • Achso, na gut ... aber dennoch spricht der Regisseur hier von einer Katharsis beim Grafen, vom Ablegen des Panzers, und das halte ich für völlig verkehrt.

    Ich jedenfalls kann das nachvollziehen (ob das die einzig mögliche oder gar "beste" Interpretation ist, sei dahingestellt). "Katharsis" ist ja im ethischen Sinne gemeint. Da erkennt einer sich selbst was er Schreckliches getan hat im Durchgang durch die Katastrophe (Beispiel Ödipus, der seinen Vater erschlagen und seine Mutter geheiratet hat). Er wird bloßgestellt, d.h. als konventionell denkender Memnsch unmöglich gemacht. Und dann meldet sich das reine Gefühl bei ihm. Das finde ich jedenfalls plausibel. Ob man das so sehen muss, ist freilich eine andere Frage.

    Der Graf wurde hier nicht "abgemildert", sondern steht nach wie vor auf 12 jährige Mädchen und ist ein fürchterlicher Mensch.

    Hier müssen wir aber aufpassen, dass wir da nicht unsere Vorstellungen hineinprojizieren. Wir definieren das Frausein durch das Alter. Das tut bzw. tat man aber in vielen Kulturen nicht so. Da ist eine 12- oder 14jährige weibliche Person "Frau" und nicht mehr "Kind", wenn sie menstruiert und darf auch ganz "moralisch" geheiratet werden. D.h. die Grenze des Erwachsenenwerdens wird da biologisch definiert und nicht durch das Alter. Für uns ist das heute inakzeptabel, aber damals ist es eben denkbar, dass man das gar nicht als anstößig empfand. Das wäre die Frage für eine kulturgeschichtliche Untersuchung, wie man das im 18. Jhd. in Mitteleuropa gesehen hat.

    Von dem, was in der Musik "gesagt" wird wissen wir ja leider nichts oder erschreckend wenig. In meinem Thread "Mozarts Musiksprache" habe ich versucht, mich dem anzunähern, leider hat sich da noch keiner gefunden, der ebenfalls etwas dazu zu sagen hat, da auch auf Entdeckungsreise gehen möchte.

    Ich weiß ja, woher das bei Dir kommt! :D Ein Einwand, den ich gegen Harnoncourt habe, ist, dass er die rhetorikkritischen Tendenzen schon im 18. Jhd. nicht oder zu wenig berücksichtigt. Warum wurde wohl Carl Philipp Emanual Bach so viel mehr geschätzt als sein Vater Johann Sebastian? Weil er "empfindsam" war und nicht mehr barock-rhetorisch. Rhetorik bekam in der Empfindsamkeit den Geruch des Abgelebten und Konventionellen, Gefühlskalten, Äußerlich-Affektierten etc. etc. Wenn Ludwig Tieck 1800 schreibt, "solange die Musik nur erhöhte Deklamation und Rede ist, ist sie nicht unabhängig und frei", dann ist das nicht einfach vom Himmel gefallen. Es gibt eben beides im 18. Jhd, Rhetorik und rhetorikkritische Tendenzen. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Hier müssen wir aber aufpassen, dass wir da nicht unsere Vorstellungen hineinprojizieren. Wir definieren das Frausein durch das Alter. Das tut bzw. tat man aber in vielen Kulturen nicht so. Da ist eine 12- oder 14jährige weibliche Person "Frau" und nicht mehr "Kind", wenn sie menstruiert und darf auch ganz "moralisch" geheiratet werden.


    Nein, tut mir leid, kein Verständnis für sowas von meiner Seite. Dass etwas erlaubt und sogar gesellschaftlich anerkannt wird rechtfertigt solche Triebe für mich in keinster Weise. Wäre das bei uns erlaubt, würde ich auch nicht plötzlich Interesse daran haben, sondern es nach wie vor abstoßend finden und auf härteste verurteilen. Ist weibliche Beschneidung in anderen "Kulturen" ok, nur weil es dort erlaubt und moralisch als einwandfrei befunden wird? Ich sage: Nein.


    Allerdings wird dem Grafen herzlich egal sein, was erlaubt ist und was nicht. "Laster, Willkür und Missbrauch" prangert Beaumarchais an, und wir wissen nicht, wie jung andere Opfer des Grafen waren, der da seine Macht ausgenutzt hat, als er "auf die Jagd" ging außerhalb des Schlosses. Die Leibeigenen sind freie Beute für ihn, und wer sich beschwert, bekommt Ärger. Du siehst ja, wie aufbrausend der Graf gegenüber einem 13 jährigen wird, weil der ihm im Weg steht bei seinen Versuchen, andere Frauen und Mädchen anzubaggern.


    Ich weiß ja, woher das bei Dir kommt! :D Ein Einwand, den ich gegen Harnoncourt habe, ist, dass er die rhetorikkritischen Tendenzen schon im 18. Jhd. nicht oder zu wenig berücksichtigt.


    Harnoncourt ist für mich uninteressant, der hatte andere Interessen als ich. Es ist wahr, dass seine Interviews einen Anstoß gegeben haben, mich mit dem Thema zu beschäftigen, aber das war´s auch schon wieder.
    Dass Mozart rhetorische Figuren benutzt ist klar, man sieht es ja an vielen Beispielen. Und da wäre es eben gut, könnte man diese "Sprache" wieder verstehen. Was im Barock ist weiß ich nicht, weil ich mich mit dieser Epoche nicht befasse, aber Mozart schreibt schon anders, und erfindet hauptsächlich eigene Figuren für bestimmte Dinge, die er dann anwendet. Seine Musik kommt mir auch weniger "verkopft" vor, und die rhetorischen Figuren sind für mich auch nichts "verkopftes", sondern einfach ein Vokabular, das, wenn man es versteht, ganz normal gehört wird, ohne groß drüber nachzudenken. Wenn jemand mit dir Deutsch redet, dann überlegst du auch nicht, was jedes Wort genau bedeutet, sondern verstehst es von alleine und denkst nicht darüber nach.




    LG,
    Hosenrolle1

  • Nein, tut mir leid, kein Verständnis für sowas von meiner Seite. Dass etwas erlaubt und sogar gesellschaftlich anerkannt wird rechtfertigt solche Triebe für mich in keinster Weise. Wäre das bei uns erlaubt, würde ich auch nicht plötzlich Interesse daran haben, sondern es nach wie vor abstoßend finden und auf härteste verurteilen. Ist weibliche Beschneidung in anderen "Kulturen" ok, nur weil es dort erlaubt und moralisch als einwandfrei befunden wird? Ich sage: Nein.

    Darum geht es doch gar nicht, sondern allein die Frage: Was genau hat der Zuschauer damals als anstößig an dem Verhalten des Grafen empfunden? Ich halte es für ziemlich abwegig, dass es hier um eine Neigung, Sex mit Minderjährigen haben zu wollen, gegangen ist. So etwas wäre mit Sicherheit der Zensur zum Opfer gefallen. Das Verhalten des Grafen hat finde ich eher etwas mit der Großkotzigkeit eines Donald Trump von heute zu tun: "Ich bin reich und mächtig und kann jede Frau flachlegen!" Dass die Gesellschaft damals Sex mit so jungen Frauen nicht als eine kriminelle oder moralisch verwerfliche Handlung verstanden hat, heißt dann lediglich für den Regisseur von heute, dass so eine Figur ruhig von einer reifen Frau dargestellt werden kann. Denn das Alter war offenbar nicht der Stein des Anstoßes. Das wäre dann eine Projektion unsererseits.

    Allerdings wird dem Grafen herzlich egal sein, was erlaubt ist und was nicht. "Laster, Willkür und Missbrauch" prangert Beaumarchais an, und wir wissen nicht, wie jung andere Opfer des Grafen waren, der da seine Macht ausgenutzt hat, als er "auf die Jagd" ging außerhalb des Schlosses. Die Leibeigenen sind freie Beute für ihn, und wer sich beschwert, bekommt Ärger. Du siehst ja, wie aufbrausend der Graf gegenüber einem 13 jährigen wird, weil der ihm im Weg steht bei seinen Versuchen, andere Frauen und Mädchen anzubaggern.

    Im Prinzip schon - aber auch damals gab es Grenzen des Anstandes auch für Adlige. Alles war sicher nicht erlaubt. Entscheidend ist wohl letztlich der Konflikt Bürgertum-Adel, dass es um die Überschreitung der Grenzen der bürgerlichen Moral ging, was eine zunehmend selbstbewusste bürgerliche Gesellschaft nicht mehr akzeptieren wollte.

    Harnoncourt ist für mich uninteressant, der hatte andere Interessen als ich. Es ist wahr, dass seine Interviews einen Anstoß gegeben haben, mich mit dem Thema zu beschäftigen, aber das war´s auch schon wieder.
    Dass Mozart rhetorische Figuren benutzt ist klar, man sieht es ja an vielen Beispielen. Und da wäre es eben gut, könnte man diese "Sprache" wieder verstehen. Was im Barock ist weiß ich nicht, weil ich mich mit dieser Epoche nicht befasse, aber Mozart schreibt schon anders, und erfindet hauptsächlich eigene Figuren für bestimmte Dinge, die er dann anwendet. Seine Musik kommt mir auch weniger "verkopft" vor, und die rhetorischen Figuren sind für mich auch nichts "verkopftes", sondern einfach ein Vokabular, das, wenn man es versteht, ganz normal gehört wird, ohne groß drüber nachzudenken. Wenn jemand mit dir Deutsch redet, dann überlegst du auch nicht, was jedes Wort genau bedeutet, sondern verstehst es von alleine und denkst nicht darüber nach.

    Bezeichnend stammen die maßgeblichen Figurenlehren aber zumeist aus dem Barock. D.h. die Rhetorik ist im 18. Jhd. längst in einem Umbruch begriffen. Der letzte, der eine große systematische musikalische Rhetorik überhaupt verfasst hat, war Johann Nikolaus Forkel, ein Zeitgenosse von Immanuel Kant. Im 19. Jhd. gibt es das dann nicht mehr. Insofern würde ich sowohl das eine wie das andere Extrem der Unter- und Übertreibung vermeiden wollen. Karajan und Harnoncourt sind Extreme, dazwischen gibt es aber noch jede Menge Platz. ;)


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Darum geht es doch gar nicht, sondern allein die Frage: Was genau hat der Zuschauer damals als anstößig an dem Verhalten des Grafen empfunden?


    Viele Dinge, darunter sicher auch, dass er nicht nur erwachsene Frauen anbaggert.



    Ich halte es für ziemlich abwegig, dass es hier um eine Neigung, Sex mit Minderjährigen haben zu wollen, gegangen ist. So etwas wäre mit Sicherheit der Zensur zum Opfer gefallen.


    Wieso das, wenn es moralisch in Ordnung oder rechtlich gedeckt war?



    Dass die Gesellschaft damals Sex mit so jungen Frauen nicht als eine kriminelle oder moralisch verwerfliche Handlung verstanden hat, heißt dann lediglich für den Regisseur von heute, dass so eine Figur ruhig von einer reifen Frau dargestellt werden kann. Denn das Alter war offenbar nicht der Stein des Anstoßes. Das wäre dann eine Projektion unsererseits.


    Man soll also einen Pädophilen nicht als Pädophilen darstellen, weil man das damals nicht als pädophil sah? Sorry, aber der Meinung schließe ich mich absolut nicht an. Eine reife Frau für eine 12 jährige Figur zu verwenden bedeutet für mich, den Grafen zu verharmlosen. Es ist schon schlimm genug, dass er, etwa durch kitschige Regiearbeiten, so gut und romantisch wegkommt. Gerade du, der so wie ich keinen 50er Jahre Kitsch-Inszenierungen nachtrauert, solltest doch eigentlich auch daran interessiert sein, dass man Stücke nicht verklärt.
    Sicher hat er auch etwas von Trump, aber weder im Theaterstück noch in der Oper ist der Graf ausschließlich an erwachsenen Frauen interessiert.



    Im Prinzip schon - aber auch damals gab es Grenzen des Anstandes auch für Adlige. Alles war sicher nicht erlaubt.


    Ein Bericht von Joseph II., der nach einem Bauernaufstand 1775 nach Böhmen und Mähren reiste und sich ein Bild von den Zuständen machte. Er schreibt u.a.:


    Zitat

    Da die Robotdienste ganz willkürlich verteilt werden, leben die Bauern ein wirkliches Sklavendasein … Sie sind rachitisch, mager und in Lumpen gekleidet … In den baufälligen Hütten schlafen die Eltern auf Stroh, die nackten Kinder auf den breiten Rändern der Lehmerde. Sie waschen sich nie, was die Ausbreitung von Epidemien fördert. Es gibt keinen Arzt, der sich um sie kümmert … Nicht einmal ihr persönliches Eigentum ist vor der Gier der großen Herren sicher. (…) An vielen Orten müssen die Leibeigenen ihrem Herrn seine kranken Hammel zu einem willkürlich festgesetzten Preis abkaufen. Auf jedem Dorfplatz oder vor jedem Schloß stehen Folterwerkzeuge. Widerspenstige Bauern werden ans Eisen geschlossen, man setzt sie dabei auf einen zugespitzten Pflock, der tief ins Fleisch einschneidet. An die Beine bindet man ihnen große Steinblöcke. Für die geringste Kleinigkeit bekommen sie fünfzehn Stockschläge. Der Leibeigene, der zur Arbeit zu spät kommt, sei es auch nur um eine halbe Stunde, wird halb zu Tode geprügelt“


    Und in einem Figaro-Opernführer:


    Zitat

    „Als Madame de Pompadour bemerkte, dass ihr Herr und Gebieter das Interesse an ihr verlor, suchte sie eine Möglichkeit, sich unentbehrlich zu machen. Sie war es auch, die dem alternden Ludwig immer jüngere Kinder ins Bett legte, da nur noch ganz knackiges Fleisch seine Lust aufzustacheln vermochte. Rechtlich abgesichert war dieser ungeheure Kinderschacher nicht, aber die königliche Autorität brachte kritische Zungen schnell in der Bastille oder in einem anderen Gefängnis zum Schweigen. Angesichts solcher Zustände ist es nicht verwunderlich, dass sich die Franzosen stets für das jus primae noctis interessierten und auch an die Existenz des Rechts in alten Zeiten glaubten (…)“


    So stark, wie die Gräfin an ihrem untreuen, widerlichen Ehemann hängt, und sogar Cherubino um seinetwillen verschmäht, ist es fraglich, ob sie nicht eine zweite Madame Pompadour sein könnte. Also es werden sich auch damals genügend Leute aufgeregt haben, dass der Adel etc. sich auch an Kindern vergreift - nur laut sagen durfte man es nicht.



    Bezeichnend stammen die maßgeblichen Figurenlehren aber zumeist aus dem Barock.


    Sicher, und Mozart verwendet auch ein paar davon, aber dennoch erfindet er sehr, sehr viele eigene Motive, die praktisch auch nur für seine Werke gelten, und nicht für seine Zeitgenossen anwendbar sind, während die barocke Figurenlehre quasi allgemeingültig war.

  • Für mich ist Harnoncourt übrigens kein Extrem, sondern genauso wie Karajan völlig uninteressant. Der Mann wurde schon lange überholt von anderen, und ihm war nur wichtig, wie er ein Stück am besten darstellen kann, und wenn er meinte, das ginge mit modernem Instrumentarium besser, dann hat er das auch benutzt. Aber das nur am Rande.




    LG,
    Hosenrolle1

  • Und in einem Figaro-Opernführer:

    Das spricht dafür, was ich eher vermutet habe: Da macht sich ein "alter Sack" an ganz junge Frauen heran. Das war sicher anstößig. Allerdings hat das nichts mit Pädophilie u. dgl. zu tun. Wenn das Erwachsenenwerden eben biologisch definiert wird, dann ist eine 12 oder13jährige nicht minderjährig - aber natürlich eine sehr junge Frau. :D


    Schöne Grüße
    Holger

  • Da ich wahrscheinlich der Einzige bin der sich den Livestream aus München angesehen hat, hab ich auch nicht auf den Stream hingewiesen, da sich den sowieso kein Tamino anschaut, Christof Loy hat die Idee das die Figuren im Laufe des Stückes immer kleiner werden, quasi zu Marionetten werden. Dieses erreicht er dadurch das die Räume während der einzelnen Akte immer größer werden. Auch ist ihm eine sehr gute Personenregie gelungen und die Sänger sind hervorragend. Letzen Sonntag habe ich mir in Duisburg Le Nozze di Figaro in einer werkgerechten Inszenierung von Michael Hampe angesehen und fand es nur langweilig und die Sänger waren nur laut und es gab auch kaum Zwischenapplaus nach den Arien. Ich habe mir mal angereget durch einen anderen Thread bei beiden Aufführungen mein Hauptaugenmerk auf den Cherubino gelegt und muss leider sagen, daß ich nichts interessantes an ihm finden kann, In der heutigen Zeit wäre er ein pubertierender Teenager der jedes Wochenende feiern gehen würde und immer eine neue Freundin oder mehrere gleichzeitig hätte. Ich kann den Grafen irgendwie verstehen, daß er ihn loßwerden möchte,

  • Lieber Rodolfo wenn ich das mitbekommen hätte, hätte ich sicherlich in den Livestream hineingeschaut. Also ruhig darauf hinweisen. Der Stream wurde ja auch nicht in die Mediathek aufgenommen.
    Ob ich bis zum Schluss dabeigeblieben wäre,sei mal dahingestellt. Wenn ich den Namen Loy höre, denke ich sofort an Stühle. Ich schau in den Trailer, und was sehe ich als erstes? - Jede Menge Stühle... :D

    Gott achtet mich, wenn ich arbeite, aber er liebt mich, wenn ich singe (Tagore)

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  • Da ich wahrscheinlich der Einzige bin der sich den Livestream aus München angesehen hat, hab ich auch nicht auf den Stream hingewiesen, da sich den sowieso kein Tamino anschaut


    Wenn der Stream gratis gewesen wäre und ich davon gewusst hätte, hätte ich geschaut.


    Ich habe mir mal angereget durch einen anderen Thread bei beiden Aufführungen mein Hauptaugenmerk auf den Cherubino gelegt und muss leider sagen, daß ich nichts interessantes an ihm finden kann, In der heutigen Zeit wäre er ein pubertierender Teenager der jedes Wochenende feiern gehen würde und immer eine neue Freundin oder mehrere gleichzeitig hätte.


    Ich finde interessant an ihm, dass er eine Hosenrolle ist, also eigentlich eine "unwirkliche" Figur. Deswegen denke ich auch nicht, dass er heute ein feiernder Teenager wäre, dafür wirkt mir diese Figur im positiven Sinne zu "unecht". Selbst Susanna fällt in dem Stück auf, dass er seltsam überzeugend weiblich aussieht ... auf jeden Fall eine sehr ungewöhnliche Figur.



    Ich kann den Grafen irgendwie verstehen, daß er ihn loßwerden möchte,


    Stimmt, denn der Graf ist wesentlich ärger. Cherubino geht es um die Liebe, dem Grafen nur ums Jagen und Erobern, und macht auch für jungen Mädchen nicht Halt.




    LG,
    Hosenrolle1

  • und macht auch für jungen Mädchen nicht Halt.

    wie hier schon festgestellt wurde, "sehr jungen Frauen". Das sollte man gerechterweise genau nehmen, auch nach heutigen Begriffen ist Pädophilie:


    "das primäre sexuelle Interesse an Kindern, die noch nicht die Pubertät erreicht haben".


    (Wikip.)