Klaus Tennstedt - "Der Welt größter Gastdirigent"?


  • Geboren am 06. Juni 1926 in Merseburg


    Gestorben am 11. Januar 1998 in Heikendorf bei Kiel


    An der Leipziger Musikhochschule studierte er Violine, Klavier und Musiktheorie. In der Nazizeit spielte er in einem Barockorchester und vermied dadurch den Militärdienst. Ab 1948 hatte er diverse Posten in der DDR inne: Erster Konzertmeister am Staatstheater Halle, ab 1952 Chefdirigent. Weitere Stationen waren Chemnitz, Radebeul und Schwerin sowie die Komische Oper in Berlin. Gastspiele in der Sowjetunion und Osteuropa.
    Während eines Gastspiels in Schweden im März 1971 bat Tennstedt dort um politisches Asyl. 1972 GMD an der Oper Kiel. Beim Toronto Symphony Orchestra erhielt er nach dem Tod von Karel Ancerl 1974 einen Fünfjahresvertrag und startete damit seine Karriere in Nordamerika. Sein Debüt beim Boston Symphony Orchestra mit Bruckners Achter schlug ein wie eine Bombe: "Bruckner-Tennstedt-BSO-Einmal im Leben" titelte der "Globe". Von der EMI erhielt er einen Blanko-Schallplattenvertrag.
    Beim NDR-Sinfonieorchester Hamburg war er von 1979-1981 Chefdirigent. Aber dort mochte man Ihn nicht und ersetzte Ihn durch Günter Wand.
    Überhaupt hatte er in Westdeutschland einen sehr schweren Stand und wurde nicht akzeptiert, was vermutlich mit seiner Herkunft aus der DDR zusammenhing.
    International schadete Ihm das aber keineswegs - im Gegenteil. Seine wohl bedeutendste künstlerische Zeit hatte er beim London Philharmonic Orchestra (LPO), dessen Erster Gastdirigent er 1980 wurde. Von 1983-87 war er dann Chefdirigent. Er wurde dann "Conductor Laureate" und kehrte immer wieder als Gastdirigent zurück. Sein letztes Konzert überhaupt dirigierte er im Oktober 1994.
    Durch seine zahlreichen Krankheiten und depressiven Zustände war es Ihm nicht mehr möglich, bei einem Orchester eine Chefdirigentenstelle anzutreten.
    Der Ausspruch "Der Welt größter Gastdirigent" stammt von Simon Rattle, der ein großer Bewunderer von Tennstedt war. Rattle sagte weiterhin: "Tennstedt ist der größte Dirigent der Welt. Auf seine ganz spezifische Art setzt er ein Orchester schneller unter Strom als jeder andere".


    Kultstatus genießt er vor allem als Mahler-Dirigent - und das völlig zu Recht.


    Zur Tennstedt-Grundausstattung gehören diese beiden Boxen:



    Die Mahler-Box beinhaltet neben den Studioaufnahmen auch Livemitschnitte der Fünften (1988), Sechsten (1991) und Siebten (1993).

  • Nun, Klaus Tennstedt ist einer meiner persönlichen Helden, und da mache ich auch gar keinen Hehl draus. Daß er in Deutschland nicht geachtet wurde, macht Ihn für mich nur umso interessanter und schätzenswerter.


    Ein absoluter Hit sind z.B. seine Prokofiev-Aufnahmen:



    Besonders die Siebte wird für mich immer unerreicht bleiben. Das ist beseelt und empfunden und nie kalt und technokratisch.


    Dasselbe gilt für die Dritte Bruckner:



    Und hier ist auch noch eine spezielle Mahler-LPO-Livebox erschienen, die es in sich hat (u.a. zwei Liveaufnahmen der Zweiten Sinfonie von 1981 und 1989:



    Das sind alles überirdische Schätze.

  • Für mich ein ganz großartiger Dirigent. Tennstedt live ist oftmals unglaublich intensiv und pathetisch, wie man es von Dirigenten seiner Generation kaum mehr kennt. Die Studioeinspielungen wirken manchmal deutlich weniger inspiriert. Kennt man nur diese, so erkennt man womöglich nicht das Genie Tennstedt. Sein verhältnismäßig früher Tod macht mich traurig.


    Ich liste mal aus dem Stegreif besonders herausragende Aufnahmen auf:



    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ja, die Erste Mahler aus Chicago ist unglaublich. Da hört man, was "unter Strom setzen" bedeutet...!


    Er hat ja auch mehrfach die Berliner Philharmoniker dirigiert und Dank dem großartigen Label "Testament" sind einige Livemitschnitte erschienen, die einmal mehr zeigen, daß Tennstedt in erster Linie ein "Live-Dirigent" war. Die Berliner reagieren auf Ihn m.E. mit außergewöhnlichem Engagement, Hingabe und Emotionalität. Man sollte nur mal seine Achte Bruckner hören:



    Ich bin immer überwältigt und ergriffen, wenn ich diesen Mitschnitt höre.

  • Ja, die Erste Mahler aus Chicago ist unglaublich. Da hört man, was "unter Strom setzen" bedeutet...!


    Jawohl! In der Liga rangiert bei dem Werk sehr wenig anderes. Spontan fielen mir nur London SO/Horenstein, Hallé/Barbirolli und New PO/Wyn Morris (Hamburger Fassung) ein.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich kann das in Wort und Bild bestätogen, und zwar mit dieser DVD aus meiner Sammlung:



    Und die Achte aus London (Royal Festival Hall aus 1991) ist auch nicht von schlechten Eltern.


    Grandios ist auch diese Aufnahme der Fünften von 1988, ebenfalls aus der Royal Festival Hall:



    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Eine Fünfte von Beethoven wahrhaftig furtwänglerischen Ausmaßes gibt es hier:



    Habe gerade via Spotify reingehört und bin völlig überwältigt.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Es müsste diese Aufnahme sein, auf der auch die Erste ist, sowie die Egmont-Ouvertüre und Webers Oberon-Ouvertüre:

    Empfehlenswert sind auch diese Aufnahmen:

    mit der Neunten, Dritten, Sechsten, Achten, den Ouvertüren Fidelio, Die Geschöpfe des Prometheus, Coriolan und abermals Egmont *;


    Liebe Grüße


    Willi :)


    *) B ei Egmont handelt es sich wohl beide Male um die gleiche Aufnahme.

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Klaus Tennstedt als Wagner-Dirigent ist übrigens in einer Klasse für sich. Es sind besonders die Auszüge aus dem "Ring" mit den Berliner Philharmonikern, die in ihrer Feurigkeit und herben Klanglichkeit begeistern:



    (EMI, 1980-83, Philharmonie, Berlin)


    Das sind Studioaufnahmen mit dem Flair einer Liveaufnahme. Höhepunkt: "Einzug der Götter in Walhalla"

  • Von den gezeigten Wagner-Einspielungen fand ich die "Rienzi"-Ouvertüre immer Maßstäbe setzend. Eine romantischere Interpretation ist mir nicht bekannt. Tennstedt wählt sehr breite und weihevolle Tempi. Die berühmte Hauptmelodie hat man wohl nie so triumphal und zelebriert gehört. Referenz!

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

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  • Aus Tennstedts Zeit in Kiel gibt es auch einige Tondokumente, darunter eine ganz exzeptionelle Fünfte Beethoven von 1980. Das Philharmonische Orchester Kiel mag nicht gerade für seine Qualitäten berühmt sein, aber was Tennstedt aus ihm herausholt, ist wirklich allererste Sahne. Die Kieler spielen wie ums Überleben und werden bis an ihre Grenzen gebracht. Ein Klangerlebnis, das man wirklich nicht alle Tage hat.


    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich weise auch hier auf die kommende Profil-Tennstedt-Box hin (ab 15.09.):



    Inhalt (laut JPC):


    Prokofieff: Symphonien Nr. 5 & 7
    +Mahler: Symphonien Nr. 4 & 5; Kindertotenlieder; 3 Lieder aus Des Knaben Wunderhorn
    +Bruckner: Symphonie Nr. 3
    +Mozart: Symphonien Nr. 1 & 32; Sinfonia concertante KV 528
    +Sibelius: Violinkonzert op. 47
    +Haydn: Symphonie Nr. 64 "Tempora mutantur"
    +Beethoven: Symphonie Nr. 3; Coriolan-Ouvertüre op. 62


    Drei CDs daraus habe ich, den Rest noch nicht. Also, früher oder später werde ich mir die Box wohl zulegen. Aber auch alle anderen Tennstedt-Anhänger hier sollten sich das überlegen!

  • Merkwürdiger Weise ist Klaus Tennstedt an meiner Frau und mir vorbeigegangen. Ich besitze eine Prokofieff Aufnahme, die überzeugt und in einen Rang mit Solti und Kubelik gestellt werden kann. Schön, dass er von einem so Berufenen wie Simon Rattle als "Der Welt bester Gastdirigent" glorifiziert wird. Sofort hatte ich eine scherzhafte Assoziation: "Der Welt bester Einspringer" war Siegfried Köhler. Kaum ein Dirigent seiner Generation ist so häufig in großen Aufführungen eingesprungen wie Siggi Köhler. Es geht die Legende, dass er sogar im Zug bei der Anreise ein für ihn neues Werk lernen konnte und ohne Probe relativ sicher mit dem Orchester über die Runden brachte. Übrigens lebt Köhler hochbetagt aber geistig fit in einem Heim in Wiesbaden, wo der ja lange Jahre GMD war und das Hesssiche Staatstheater auf eine erstaunliche Höhe führte.


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