Warum und wozu ein Thread über den Liedkomponisten Paul Hindemith? Gibt es den überhaupt, - in dem Sinne, dass er ein bemerkenswertes, irgendwie relevantes liedkompositorisches Werk hinterlassen hat?
Diese Frage kann zwar heute mit einem klaren „Ja“ beantwortet werden, das war aber nicht immer so. Man – das heißt die Musikwissenschaft und der Musik-Journalismus - sah in Hindemith lange Zeit nur den Komponisten für Bühnen- und Orchesterwerke, den für Lieder kannte man z.T. gar nicht oder hielt ihn für musik- und liedhistorisch unbedeutend. Man kann das sogar noch bei Dietrich-Fischer Dieskau finden. In seinem Buch „Töne sprechen, Worte klingen“ (Stuttgart 1985) meint er:
„Bei ihm (Hindemith) ist gelegentlich ein gewisser Stolz zu spüren, daß er Gesangsmusik zu komponieren imstande war, in der eine Beziehung des Textes zur Musik kaum mehr zu existieren scheint (…). Es ging ihm einzig um die Betonnung musikalischer Autonomie, die die Töne davon dispensiert, Begriffliches zu untermauern – eine Reaktion auf das Übliche, inzwischen zur Mode gewordene. Vor allem in den Liedern kann von einem aneinander Vorbei-Definieren gesprochen werden, einer sich auflehnenden Haltung gegenüber dem Wort, die freilich ohne gewichtige Folgen blieb…“ (S.179f).
Das, was Fischer-Dieskau hier analytisch-kritisch zu Hindemiths Liedern feststellt, ist zwar, was dessen liedkompositorische Intention anbelangt, im Ansatz zutreffend, in dem aber, was er zu den Folgen kritisch anmerkt, wenn er von einem „aneinander Vorbei-Definieren“ spricht, durchaus nicht, - wie sich in der nachfolgenden Betrachtung des liedkompositorischen Werks zeigen soll.
Fischer-Dieskaus Urteil über Hindemiths Liedkomposition liegt das Modell des romantischen Klavierliedes zugrunde. Das aber hat dieser als liedkompositorisches Konzept und damit auch als Leitlinie für sein eigenes Schaffen ausdrücklich abgelehnt. Welche Folgen das für die daraus hervorgehenden Werke hatte und wie diese einzuschätzen und zu bewerten waren, das hat man in der Musik-Historiographie zunächst nicht erkannt. Die zwanziger Jahre, in denen Hindemiths entscheidende kompositorische Entwicklung einsetzte, galten – aus der Perspektive des Umbruchs, wie er sich in der Neuen Musik unmittelbar nach der Jahrhundertwende ereignet hatte – als eine Zeit der Regression und der Nivellierung. Das sieht und beurteilt die Musikwissenschaft heute anders, - und damit auch das kompositorische Werk Hindemiths, einschließlich seiner Liedkomposition.
Er selbst sagte über diese Zeit:
„Ich habe den Übergang aus konservativer Schulung in eine neue Freiheit vielleicht gründlicher erlebt als irgendein anderer. Das Neue musste durchschritten werden, sollte seine Erforschung gelingen; daß diese weder harmlos noch ungefährlich war, weiß jeder, der an der Eroberung beteiligt war. Weder wurde die Erkenntnis auf geradem Wege errungen, noch ging es ohne Störungen ab.“
Und die „Erkenntnis“ von der er hier spricht, brachte er auf den Nenner:
„Fast alle Probleme, die in der Musik nach dem Krieg (dem Ersten Weltkrieg also) auftauchten, betrafen nur die Technik des Komponierens, und die geht den Hörer kaum etwas an. Wir trachten aber danach, die Probleme auf anderen Gebieten zu lösen.“
Diese „Problemlösung“ wurde für Hindemith der Schritt weg vom musikalischen Expressionismus und hin zur „Neuen Sachlichkeit“. Und das Feld, auf dem er diesen Schritt gleichsam tastend und probierend, experimentell also, vollzog, war das der Liedkomposition. So sind Hindemiths Lieder zu hören und zu verstehen als Dokumente eines Bestrebens, die subjektive musikalische Interpretation des lyrischen Textes zu ersetzen durch eine primär deren Syntax aufgreifende und daraus ihre spezifische Struktur herleitende Liedmusik. Und das ist der Sachverhalt, der ihnen ihre spezifische liedhistorische Bedeutsamkeit verleiht. In diesem Thread soll versucht werden, Hindemiths liedkompositorischen Weg vom Expressionismus zur „Neuen Sachlichkeit“, wie er sich in den einzelnen Liedern abzeichnet, zu betrachten und nachzuvollziehen.
Dieses kompositorische Konzept der „Neuen Sachlichkeit“ ist durchaus als Ausdruck des Zeitgeistes zu verstehen. War die ästhetische Moderne in den Anfängen des zwanzigsten Jahrhunderts mit der Parole der „Entpanzerung des Ichs“ angetreten, wie Robert Musil das formuliert hat, so rückt jetzt für die Generation, die die grauenhafte Erfahrung des ersten Weltkriegs gemacht hat, die „kalte persona“ ins Zentrum ihrer ästhetischen Reflexion und künstlerischen Produktion.
Es gibt noch einen zweiten Grund, weshalb Hindemiths Liedkomposition lange Zeit keine angemessene Beachtung fand. Die meisten seiner Lieder wurden zu seinen Lebzeiten gar nicht publiziert, man fand sie erst in seinem Nachlass. Unter den Klavierliedkompositionen wurde nur sein wichtigstes Werk, der Zyklus „Das Marienleben“, veröffentlicht, zuvor die acht Lieder des Opus 18. Beide sollen hier auch vollständig in die Liedbetrachtung einbezogen werden. Der Zyklus „Das Marienleben“ op.27, der in den Jahren 1922/23 entstand und von Hindemith 1935-48 einer Neufassung unterzogen wurde, wird von der Musikwissenschaft als bedeutendes Werk der deutschen Liedliteratur eingestuft und darin den anderen großen Zyklen als gleichrangig zur Seite gestellt. Einen weiteren Schwerpunkt sollen die sechs Lieder auf Gedichte Friedrich Hölderlins bilden. Danach soll noch auf einige aus dem nachfolgend dargestellten liedkompositorischen Gesamtwerk ausgewählte Lieder eingegangen werden.
Das Klavierlied-Werk Hindemiths stellt sich, chronologisch aufgelistet, wie folgt dar:
1908-1909: Sieben Lieder (u.a. auf Texte von Hebbel)
1914-1916: Lustige Lieder in Aargauer Mundart
1917: Zwei Lieder auf Gedichte von E. Lasker-Schüler
1919: Drei Hymnen von Walt Whitman, op.14
1920: Acht Lieder op.18 auf Texte u.a. von Morgenstern, Lasker-Schüler und Trakl
1922-1912: „Das Marienleben“ op.27
1933: Vier Lieder nach Texten von Matthias Claudius
1933: Vier Lieder nach Texten von Rückert
1933: Drei Lieder nach Texten von Wilhelm Busch
1933-1935: Sechs Lieder nach Texten von Friedrich Hölderlin
1935: Vier Lieder nach Texten von Angelus Silesius
1936: Zwei Lieder nach Texten von Clemens Brentano
„Das Köhlerweib ist trunken“ nach G. Keller
1939: Zwei Lieder auf Gedichte von Friedrich Nietzsche
1940: Vierzehn Motetten nach Bibeltexten
1942: 25 Lieder für Sopran und Klavier
Ferner liegen noch fünf Lied-Gruppen für Solo-Gesang mit Instrumentalbegleitung vor:
1918: „Wie es wär´, wenn´s anders wär´“
1917-1919: „Melancholie“ (nach Texten von Christian Morgenstern)
1922: „Des Todes Tod“ (nach Gedichten von Eduard Reinacher)
1922: „Die junge Magd“ (auf Gedichte von Georg Trakl)
1924: „Die Serenaden“ (Kleine Kantate nach romantischen Texten)