Paul Hindemith. Das liedkompositorische Werk, in Auswahl betrachtet

  • Warum und wozu ein Thread über den Liedkomponisten Paul Hindemith? Gibt es den überhaupt, - in dem Sinne, dass er ein bemerkenswertes, irgendwie relevantes liedkompositorisches Werk hinterlassen hat?
    Diese Frage kann zwar heute mit einem klaren „Ja“ beantwortet werden, das war aber nicht immer so. Man – das heißt die Musikwissenschaft und der Musik-Journalismus - sah in Hindemith lange Zeit nur den Komponisten für Bühnen- und Orchesterwerke, den für Lieder kannte man z.T. gar nicht oder hielt ihn für musik- und liedhistorisch unbedeutend. Man kann das sogar noch bei Dietrich-Fischer Dieskau finden. In seinem Buch „Töne sprechen, Worte klingen“ (Stuttgart 1985) meint er:
    „Bei ihm (Hindemith) ist gelegentlich ein gewisser Stolz zu spüren, daß er Gesangsmusik zu komponieren imstande war, in der eine Beziehung des Textes zur Musik kaum mehr zu existieren scheint (…). Es ging ihm einzig um die Betonnung musikalischer Autonomie, die die Töne davon dispensiert, Begriffliches zu untermauern – eine Reaktion auf das Übliche, inzwischen zur Mode gewordene. Vor allem in den Liedern kann von einem aneinander Vorbei-Definieren gesprochen werden, einer sich auflehnenden Haltung gegenüber dem Wort, die freilich ohne gewichtige Folgen blieb…“ (S.179f).
    Das, was Fischer-Dieskau hier analytisch-kritisch zu Hindemiths Liedern feststellt, ist zwar, was dessen liedkompositorische Intention anbelangt, im Ansatz zutreffend, in dem aber, was er zu den Folgen kritisch anmerkt, wenn er von einem „aneinander Vorbei-Definieren“ spricht, durchaus nicht, - wie sich in der nachfolgenden Betrachtung des liedkompositorischen Werks zeigen soll.


    Fischer-Dieskaus Urteil über Hindemiths Liedkomposition liegt das Modell des romantischen Klavierliedes zugrunde. Das aber hat dieser als liedkompositorisches Konzept und damit auch als Leitlinie für sein eigenes Schaffen ausdrücklich abgelehnt. Welche Folgen das für die daraus hervorgehenden Werke hatte und wie diese einzuschätzen und zu bewerten waren, das hat man in der Musik-Historiographie zunächst nicht erkannt. Die zwanziger Jahre, in denen Hindemiths entscheidende kompositorische Entwicklung einsetzte, galten – aus der Perspektive des Umbruchs, wie er sich in der Neuen Musik unmittelbar nach der Jahrhundertwende ereignet hatte – als eine Zeit der Regression und der Nivellierung. Das sieht und beurteilt die Musikwissenschaft heute anders, - und damit auch das kompositorische Werk Hindemiths, einschließlich seiner Liedkomposition.


    Er selbst sagte über diese Zeit:
    „Ich habe den Übergang aus konservativer Schulung in eine neue Freiheit vielleicht gründlicher erlebt als irgendein anderer. Das Neue musste durchschritten werden, sollte seine Erforschung gelingen; daß diese weder harmlos noch ungefährlich war, weiß jeder, der an der Eroberung beteiligt war. Weder wurde die Erkenntnis auf geradem Wege errungen, noch ging es ohne Störungen ab.“
    Und die „Erkenntnis“ von der er hier spricht, brachte er auf den Nenner:
    „Fast alle Probleme, die in der Musik nach dem Krieg (dem Ersten Weltkrieg also) auftauchten, betrafen nur die Technik des Komponierens, und die geht den Hörer kaum etwas an. Wir trachten aber danach, die Probleme auf anderen Gebieten zu lösen.“


    Diese „Problemlösung“ wurde für Hindemith der Schritt weg vom musikalischen Expressionismus und hin zur „Neuen Sachlichkeit“. Und das Feld, auf dem er diesen Schritt gleichsam tastend und probierend, experimentell also, vollzog, war das der Liedkomposition. So sind Hindemiths Lieder zu hören und zu verstehen als Dokumente eines Bestrebens, die subjektive musikalische Interpretation des lyrischen Textes zu ersetzen durch eine primär deren Syntax aufgreifende und daraus ihre spezifische Struktur herleitende Liedmusik. Und das ist der Sachverhalt, der ihnen ihre spezifische liedhistorische Bedeutsamkeit verleiht. In diesem Thread soll versucht werden, Hindemiths liedkompositorischen Weg vom Expressionismus zur „Neuen Sachlichkeit“, wie er sich in den einzelnen Liedern abzeichnet, zu betrachten und nachzuvollziehen.


    Dieses kompositorische Konzept der „Neuen Sachlichkeit“ ist durchaus als Ausdruck des Zeitgeistes zu verstehen. War die ästhetische Moderne in den Anfängen des zwanzigsten Jahrhunderts mit der Parole der „Entpanzerung des Ichs“ angetreten, wie Robert Musil das formuliert hat, so rückt jetzt für die Generation, die die grauenhafte Erfahrung des ersten Weltkriegs gemacht hat, die „kalte persona“ ins Zentrum ihrer ästhetischen Reflexion und künstlerischen Produktion.


    Es gibt noch einen zweiten Grund, weshalb Hindemiths Liedkomposition lange Zeit keine angemessene Beachtung fand. Die meisten seiner Lieder wurden zu seinen Lebzeiten gar nicht publiziert, man fand sie erst in seinem Nachlass. Unter den Klavierliedkompositionen wurde nur sein wichtigstes Werk, der Zyklus „Das Marienleben“, veröffentlicht, zuvor die acht Lieder des Opus 18. Beide sollen hier auch vollständig in die Liedbetrachtung einbezogen werden. Der Zyklus „Das Marienleben“ op.27, der in den Jahren 1922/23 entstand und von Hindemith 1935-48 einer Neufassung unterzogen wurde, wird von der Musikwissenschaft als bedeutendes Werk der deutschen Liedliteratur eingestuft und darin den anderen großen Zyklen als gleichrangig zur Seite gestellt. Einen weiteren Schwerpunkt sollen die sechs Lieder auf Gedichte Friedrich Hölderlins bilden. Danach soll noch auf einige aus dem nachfolgend dargestellten liedkompositorischen Gesamtwerk ausgewählte Lieder eingegangen werden.


    Das Klavierlied-Werk Hindemiths stellt sich, chronologisch aufgelistet, wie folgt dar:
    1908-1909: Sieben Lieder (u.a. auf Texte von Hebbel)
    1914-1916: Lustige Lieder in Aargauer Mundart
    1917: Zwei Lieder auf Gedichte von E. Lasker-Schüler
    1919: Drei Hymnen von Walt Whitman, op.14
    1920: Acht Lieder op.18 auf Texte u.a. von Morgenstern, Lasker-Schüler und Trakl
    1922-1912: „Das Marienleben“ op.27
    1933: Vier Lieder nach Texten von Matthias Claudius
    1933: Vier Lieder nach Texten von Rückert
    1933: Drei Lieder nach Texten von Wilhelm Busch
    1933-1935: Sechs Lieder nach Texten von Friedrich Hölderlin
    1935: Vier Lieder nach Texten von Angelus Silesius
    1936: Zwei Lieder nach Texten von Clemens Brentano
    „Das Köhlerweib ist trunken“ nach G. Keller
    1939: Zwei Lieder auf Gedichte von Friedrich Nietzsche
    1940: Vierzehn Motetten nach Bibeltexten
    1942: 25 Lieder für Sopran und Klavier


    Ferner liegen noch fünf Lied-Gruppen für Solo-Gesang mit Instrumentalbegleitung vor:
    1918: „Wie es wär´, wenn´s anders wär´“
    1917-1919: „Melancholie“ (nach Texten von Christian Morgenstern)
    1922: „Des Todes Tod“ (nach Gedichten von Eduard Reinacher)
    1922: „Die junge Magd“ (auf Gedichte von Georg Trakl)
    1924: „Die Serenaden“ (Kleine Kantate nach romantischen Texten)

  • Was die eigenen Motive für den Start dieses Threads anbelangt, so will er auch verstanden werden als Beitrag zu der von Alfred Schmidt und anderen Mitgliedern des Forums mit großem Engagement betriebenen und mit dem Titel „Paul Hindemith - Der bedeutendste deutsche Komponist des 20. Jahrhunderts“ versehenen Vorstellung von Hindemiths Werken.
    (Hier findet sich eine Auflistung der entsprechenden Threads: http://tamino-klassikforum.at/…ight=Hindemith#post602046)


    Obgleich ich mir angesichts des vermutlich geringen Bekanntheitsgrades von Hindemiths Liedern nichts vormache, habe ich den Thread in der Hoffnung und mit dem Wunsch gestartet, dass er auf Interesse stößt, das in ein Mithören der einzelnen Lieder mündet und – was ganz besonders wünschenswert ist – zu einer Beteiligung in Gestalt von Beiträgen führt.
    Aus diesem Grund möchte ich auf die folgenden Aufnahmen verweisen, in denen alle hier vorgestellten und besprochenen Lieder zu hören sind:



    Paul Hindemith, Lieder. Juliane Banse, Axel Baumi, ORFEO 1996


    Paul Hindemith, Lieder. D. Fischer-Dieskau, Aribert Reimann. ORFEO 1987


    Paul Hindemith, Das Marienleben. Soile Isokoski, Marita Viitasalo. ONDINE 2009


    (es gelang mir nicht, die entsprechenden Coverbilder hier einzustellen)













  • Gerade habe ich mich bei Dir im Brahms-Lied-Thread bedankt, lieber hart, und nun habe ich schon wieder guten Grund, dies zu tun.
    Ja, das sind die Cover der Aufnahmen, die ich oben per Titel-Wiedergabe angeführt habe. Als ich bekennen musste, dass mir dieses Einstellen der Bilder selbst nicht gelingen wollte, dachte ich erst daran diesbezüglich um Hilfe zu bitten. Das ließ ich dann aber, - aus Angst davor, eine Enttäuschung zu erleben, weil keiner liest, was ich hier schreibe.
    Nun ist es doch anders gehkommen, und das ist hoch erfreulich.


    Der Markt ist ja, wenn ich das recht sehe, schlecht bestückt mit Aufnahmen von Hindemith-Klavierliedern. Außer denen, die ich hier anführte, gibt es noch je eine Aufnahme mit Rilke-, und Hölderlin-Vertonungen. Nur das „Marienleben“ ist besser repräsentiert.
    Auf eine, eine Neu-Aufnahme, hat Rheingold gerade hier im Forum aufmerksam gemacht und eine treffende Beschreibung dazu verfasst.
    Hier kann man sie als Beitrag vier finden: http://tamino-klassikforum.at/…page=Thread&threadID=9339


    (Mir ist bei diesem Thread ein wenig mulmig zumute. Ich fürchte, er wird auf nur geringe Resonanz stoßen. Paul Hindemith ist halt kein Johannes Brahms. Aber er sollte gleichwohl mit seinem liedkompositorischen Werk hier im Tamino-Kunstliedforum vertreten sein. Und eben deshalb mache ich mich an die Arbeit.)

  • Auf eine, eine Neu-Aufnahme, hat Rheingold gerade hier im Forum aufmerksam gemacht und eine treffende Beschreibung dazu verfasst.


    Lieber Helmut, hiermit möchte ich mich schon mal eines virtuelles Abonnements für Dein neues Thema versichern. In jedem Falle lese ich genau mit. Eigenes werde ich nicht beisteuern können. Die Lieder von Hindemith sind mir so gut wie unbekannt - bis auf das "Marienleben". Deshalb freue ich mich, dass Du Dich an meine Bemerkungen zu einer der vielen Aufnahme erinnerst und sogar einen Link gesetzt hast. Gespannt bin ich, was Du zu den zwei Fassungen des Zyklus und ihren Unterschieden wirst schreiben. Ich teile das von Dir breites im Eröffnungsthread reflektierte Urteil der Musikwissenschaft, wonach das "Marienleben" als "bedeutendes Werk der deutschen Liedliteratur eingestuft und darin den anderen großen Zyklen als gleichrangig zur Seite gestellt" wird.


    Aber bis dahin ist ja noch ein Stück Arbeit für Dich. Dafür wünsche ich Dir uns Erbauung und neue Erkenntnisse.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Das ist ein schönes Geschenk, lieber Rheingold, - Dein „virtuelles Abonnement“. Vielen Dank dafür! Es ist eine Ermutigung für mich, diese Sache nun doch anzupacken, denn gestern Abend hatte mich der Mut verlassen, und ich wollte aufgeben, noch bevor ich damit angefangen habe.


    Wenn Du sagst, die Lieder von Hindemith seien Dir, mit Ausnahme des „Marienlebens“, „so gut wie unbekannt“, so dürftest Du hier im Forum damit nicht allein sein. Ich kannte sie ja auch kaum, bevor ich mich entschloss, mich ein wenig näher auf sie einzulassen.
    Das Problem bei ihnen ist, wie gleich beim nachfolgend vorgestellten Lied „Die trunkene Tänzerin“ vernehmlich werden dürfte: Sie sind, bei der Komplexität ihrer Faktur, klanglich nicht gerade auf ein Sich-einschmeicheln-Wollen hin angelegt, wollen einem nicht einfach so eingehen, sondern verlangen genaues Hinhören unter dem Aspekt, was die Musik hier jeweils mit dem Text gemacht und aus ihm gleichsam herausgeholt hat. Wenn man mit der Haltung des „Genusshörers“ – um den zentralen Begriff eines hier gerade laufenden Threads aufzugreifen – an sie herantreten will, dann lassen sie einem keine Chance.


    Wenn man, wie ich gerade, von der Liedmusik eines Johanes Brahms kommend, sich ihnen als Hörer zuwendet, so kann das, bei der klanglichen Sperrigkeit, auf die man da trifft, im ersten Augenblick zu einem geradezu befremdlichen Erlebnis werden.
    Aber man macht alsbald eine interessante Erfahrung: Wenn man bereit und offen ist, ihnen zuzuhören, dann haben sie einem eine Menge zu sagen, und die Beschäftigung mit ihnen kann zu einem beachtlichen Gewinn werden.

  • Diese Gruppe von acht Liedern entstand im Jahre 1920. Der Notentext trägt die Widmung: „Für Frau Nora Pisling-Boas, die diese Lieder herrlich singt“. Die Kompositionen geben einen interessanten Einblick in die Entwicklung von Liedsprache in ihrem frühen Stadium. Es sind noch deutliche Einflüsse des musikalischen Impressionismus zu vernehmen, aber das eigene liedkompositorische Konzept im Umgang mit dem lyrischen Text ist bereits in deutlich fassbaren Ansätzen zu erkennen.


    „Die trunkene Tänzerin“, op18, Nr.1


    Sieh, an letzten Himmels Saum
    schwebt die Blume voller Süße
    und die Schwingen meiner Füße
    kosen wolkenzarten Traum.


    Trinke meine Gluten aus,
    führ den Taumelkelch zu Munde
    und du tanzt mit mir zur Stunde
    aus dem lebenshellen Haus.


    Singt der Sterne Silberchor
    überm trunknen Mondesnachten,
    gleiten wir mit leisem Lachen
    in des Schlafes dunk´les Tor.
    (Curt Bock)


    Die lyrischen Bilder dieses Gedichts von Curt Bock entspringen dem rauschhaften Zustand eines lyrischen Ichs. Geprägt sind sie von einer hochexpressiven Sinnlichkeit, einer tänzerischen Flüchtigkeit und einem Verschwimmen ihrer Konturen. Die Strophen unterscheiden sich freilich in ihrem lyrischen Gehalt. Während die erste und die dritte aus vorwiegend deskriptiv-evokativen lyrischen Bildern besteht – mit der Ausnahme des appellativen „Sieh“ am Gedichtanfang -, generiert sich die zweite in ihrem Gehalt aus der direkten Ansprache an das Du. Das Gedicht imaginiert die individuelle Entgrenzung, die Befreiung aus der Gebundenheit an den Ort, das Entschweben aus dem Haus, das Gleiten in das „dunkle Tor“ des Schlafes.


    Hindemiths Liedmusik lässt sich in hochgradig differenzierter Weise auf den lyrischen Text ein, indem sie nicht nur seine sprachliche Struktur in der melodischen Linie aufgreift, sondern
    auch seine semantischen Dimensionen in interpretierender Weise reflektiert. Darin wirkt sie auf bemerkenswerte Weise geradezu sachlich. Es werden keine klanglichen Akzente gesetzt, die auf eine Identifikation des Komponisten mit einem bestimmten Aspekt der lyrischen Aussage schließen lassen. Vorgaben zum Takt oder zu einer Grundtonart werden nicht gemacht. Von seiner Harmonik her ist das Lied atonal angelegt, dies allerdings nicht in radikaler Weise: In der Abfolge der chromatisch-dissonanten Akkorde lassen sich wechselnde tonartliche Räume ausmachen.


    Die drei Strophen unterscheiden sich in ihrem Klangbild deutlich voneinander, wie ihr lyrischer Inhalt das ja auch erfordert. In der ersten Strophe wird ein schwebendes Klangbild aufgebaut, das sich zwar auch aus der Struktur der melodischen Linie generiert, aber in erster Linie und stärker aus dem Klaviersatz, der bei den ersten beiden Versen ausschließlich akkordisch angelegt ist. Das sind aber keine schwer und gewichtig daherkommenden Akkorde, vielmehr handelt es sich um akkordische Figuren, die legato artikuliert werden und dabei durch Pausen voneinander abgehoben sind. Eine akkordische Figur dominiert in klanglich höchst markanter Weise: Es ist ein dreistimmiger Akkord, der aus einer Kombination von Quinte und kleiner Sekunde besteht. Bei den ersten beiden Versen bildet er als einziger den Inhalt des Basses, und im Diskant prägt er das ungewöhnlich lange, nämlich neuntaktige Vorspiel. Dies in Gestalt einer dreischrittigen, legato artikulierten Fallbewegung aus sehr hoher Diskantlage in den Bassbereich. Das schwebende Klangbild weist also eine deutlich ausgeprägte innere Struktur auf.


    In der ersten Strophe neigt die melodische Linie dazu, in syllabisch exakter Deklamation auf der gerade eingenommenen tonalen Ebene zu verharren und sich längeren Dehnungen hinzugeben. Wie nah sie dabei am lyrischen Text in seiner Struktur und seiner Semantik bleibt, ist schon bei den ersten beiden Melodiezeilen zu vernehmen, die die Verse eins und zwei umfassen. Die Aufforderung „Sieh“ wird auf einem „C“ in mittlerer Lage deklamiert, das eine Dehnung trägt und durch eine Viertelpause vom weiteren Verlauf der melodischen Linie abgehoben ist. Diese verbleibt nun aber bei den Worten „an letzten“ auf dieser tonalen Ebene und beschreibt erst bei dem Wort „Himmelssaum“ eine aus einem kleinen Terzsprung hervorgehende Fallbewegung. Auch die Worte „schwebt die“ werden auf die Melodik stark dominierenden Ton „C“ deklamiert. Bei dem Wort „Blume“ geht die melodische Linie in eine sehr lange, eineinhalb Notenwerte umfassende Dehnung in hoher Lage über, die in einen ebenfalls gedehnten Oktavfall mündet.


    Bei dem Bild von den „Schwingen der Füße“, die „wolkenzarten Traum kosen“, löst sich der Klaviersatz zuerst von seinen akkordischen Figuren, geht zunächst zu dem Auf und Ab von Einzeltönen und aufeinanderfolgenden, zwischen Diskant und Bass wechselnden Zweiunddreißigstel-Figuren über, die klanglich die ganze zweite Strophe prägen und an deren Ende in extrem hohe Diskantlage aufsteigen. Auch die Singstimme entfaltet sich in der zweiten Strophe in etwas lebhafteren Bewegungen, die sich über größere Intervalle erstrecken. In Dehnungen verfällt die melodische Linie nur dort, wo lyrisch gewichtigen Worten ein Akzent verliehen werden soll: So die Worte „Gluten“ und „Taumelkelch“. Bei den beiden Verse „Und du tanzt mit mir zur Stunde / aus dem lebenshellen Haus“ kommt eine deutliche Steigerung der Expressivität in die Vokallinie. Sie steigt aus unterer Mittellage über eine Septe in hohe auf, verharrt dort bei dem Wort „Stunde“ zunächst in Gestalt einer Dehnung, setzt aber danach ihren Aufstieg fort und geht bei den Worten „lebenshellen Haus“ in eine weit gespannte gedehnte Fallbewegung über, die aber am Ende in einen Sextsprung zu dem Wort Haus hin mündet. Das alles geschieht forte, vom Klavier mit extrem hoch artikulierten Sechzehntel-Figuren begleitet. Die Leidenschaft, die in den Aufforderungen des lyrischen Ichs an das Du liegt, findet in dieser Liedmusik adäquaten Ausdruck.


    Die dritte Strophe mutet in dem klanglichen Eindruck, den sie macht, an, als wäre die Leidenschaftlichkeit der zweiten in den klanglichen Geist der ersten Strophe gefahren. Denn die Singstimme kehrt zwar wieder zu diesem Gestus des ruhigen Verharrens auf einer tonalen Ebene zurück und überlässt sich erneut langen Dehnungen. Diese wirken nun aber expressiver als in der ersten Strophe. Den lang gedehnten, in hoher Lage ansetzenden Fallbewegungen in Sekunden auf den Worten „Silberchor“ und „gleiten wir“ wohnt ein schwärmerischer Ton inne, der vom Klavier mit Figuren unterstützt wird, die an die dreischrittigen Fallbewegungen der ersten Strophe erinnern, nur dass sie jetzt nicht in ausschließlich akkordischer Weise erfolgen, sondern aus einer fallend angelegten Sechzehntel-Figur hervorgehen, die in einen wieder aus einer kleinen Sekunde und einer Quarte gebildeten Akkord münden, wie man ihn aus der ersten Strophe kennt.


    Das letzte Bild, das vom Gleiten“ in „des Schlafes dunkles Tor“ bewirkt bei der melodischen Linie, dass sie zunächst in Gestalt von zwei langen Dehnungen auf einem „F“ in mittlerer Lage verharrt, dann aber zu dem Wort „Tor“ hin einen verminderten Quintfall zu einem tiefen „B“ beschreibt, auf dem wiederum eine lange Dehnung liegt. Das Pianissimo hat Einzug in die Liedmusik genommen, und in die sich in langen Dehnungen zur extrem tiefer Lage absenkende melodische Linie fällt das Klavier mit klanglich sehr spitz wirkenden und in hohe Lage empor schießenden Dreierfiguren ein, die aus einem zwischen zwei Achtel eingelagerten Zweiunddreißigstel bestehen.
    Ist das der Nachklang des Tanzes im „lebenshellen Haus“, der da in das Dunkel blitzt?

  • Bei YouTube findet sich eine einzige gesangliche Interpretation aller acht Lieder dieses Opus 18. Ich habe hin und her überlegt, ob ich ihnen einen Gefallen tue, wenn ich hier einen Link dazu einstelle, denn die interpretatorische Leistung von Sängerin und Pianistin lässt einiges zu wünschen übrig. Überdies ist die Aufnahme stark verhallt, so dass die Strukturen des Klaviersatzes regelrecht verschwimmen.
    Wenn ich nun doch diese Aufnahme hier verlinke, so allein deshalb, weil ich vermute, dass bei so manchen Lesern der Beiträge zu diesem Thread Hindemiths Lieder sich nicht in der CD-Sammlung finden. Sie können über diesen Link dann wenigstens einen ungefähren Eindruck vom klanglichen Charakter dieser Lieder bekommen und - auch wenn dieser sehr mangelhaft sein mag - ansatzweise hörend nachvollziehen, was hier dazu geschrieben wird.




  • Hallo,


    sonderbar, ich habe bei YouTube "Hindemith op. 18" eingegeben und bekam nur die Lieder 3-6 angezeigt.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Das ist vermutlich diese Aufnahme, lieber zweiterbass:



    Du musst den Titel des ersten, oben gerade vorgestellten Liedes von Opus 18, also "Die trunkene Tänzerin" eingeben. Dann wird Dir die von mir verlinkte Aufnahme präsentiert. Aber eben stelle ich fest: Die scheint gar nicht alle 8 Lieder zu enthalten. Da ist mir oben in den Angaben dazu wohl ein Fehler unterlaufen.
    Na ja, ist nicht weiter schlimm. Sie ist ohnehin nicht sonderlich hörenswert. Ganz im Gegensatz zu der Interpretation durch Juliane Banse in der bei Orfeo erschienenen Aufnahme, die ich im Zusammenhang mit der Threaderöffnung angezeigt habe. Sie wird diesen Liedern wirklich gerecht.



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  • Wie Sankt Franciscus schweb´ ich
    in der Luft mit beiden Füßen,
    fühle nicht den Grund der Erde mehr,
    weiß nicht mehr, was das ist.


    Seid still! Seid still!
    Nein redet, singt, jedweder Mund!
    Sonst wird die Ewigkeit ganz meine Gruft
    und nimmt mich auf wie einst den tiefen Christ.


    (Christian Morgenstern)


    Was immer der Grund dafür, der Auslöser gewesen sein mag: Entrückt, abgehoben von der Erde, die Bindung an sie, die Erdenschwere also verloren zu haben, - das ist der Zustand, in dem sich das lyrische Ich befindet. Es fühlt sich darin dem heiligen Franziskus nahe, dem in religiöser Verzückung gleiches widerfuhr. Der Appell an die Welt, still zu sein, entspringt dem Wunsch, in dieser Befindlichkeit nicht gestört zu werden. Da aber regt sich mit einem Mal im lyrischen Ich die Befürchtung, es könnte seine Erdenschwere, den festen Sand auf festem Grund ein für alle Mal verlieren, könnte in die Transzendenz abheben, seiner Ich-Identität verlustig gehen. Und daher der Appell an die Mitmenschen: „Redet!“. Sprache, das Reden mit den Andern, Kommunikation, - dieses vermag Bodenhaftung zu schaffen, Identität zu stiften.


    Der Notentext weist keine Vorzeichen und keine Taktangabe auf. Das Lied soll „seht schnell, aber mit großer Ruhe“ vorgetragen werden. Im elftaktigen Vorspiel klingt das Motiv auf, das den ganzen Klaviersatz beherrscht und den klanglichen Charakter des Liedes maßgeblich prägt. Eine Folge von Oktaven im Wert einer halben Note, der ein Achtel-Vorschlag vorgelagert ist, geht in eine wellenförmige, in zwei Dehnungen kurz innehaltende und wie schwebend wirkende Bewegung über. Man darf wohl davon ausgehen, dass Hindemith damit das im Zentrum des lyrischen Textes stehende Abheben von der Erde musikalisch evozieren will.


    Die melodische Linie der Singstimme setzt pianissimo ein, steigt bei den ersten beiden Versen in silbengetreuer Deklamation zunächst aus mittlerer Lage über eine Septime in hohe auf, senkt sich danach langsam wieder ab und geht bei den Worten „mit beiden Füßen“ in eine wellenartige Bewegung über. Bei den Worten „Wie Sankt Franciscus schweb´ ich“ setzen die Vorschlag-Figuren vorübergehend aus, und lang gehaltene Oktaven treten an ihre Stelle. Das Wort „schweben“ ist dafür verantwortlich. Danach aber bestimmen sie für den Rest dieser Melodiezeile wieder den Klaviersatz in Bass und Diskant, stellen also tatsächlich einen starken klanglichen Faktor dar. Dies allerdings stets im Wechsel mit der wellenartigen Aufeinanderfolge von Oktaven, die sich im Verlauf des Liedes allerdings zu dreistimmigen Akkorden erweitern.


    In diesem Wechsel lässt sich ein regelrechtes System ausmachen: Immer dort, wo das lyrische Ich den Zustand des Schwebens und seine Folgen direkt an- und ausspricht, wird die melodische Linie von eben diesen, klangliches Schweben imaginierenden Akkordfolgen begleitet. Schon bei der nächsten, die Verse drei und vier der ersten Strophe beinhaltenden Melodiezeile ist dies zu vernehmen. Bei den Worten „Fühle nicht den Grund der Erde mehr“ steigt die melodische Linie in die hohe Lage eines „Gis“ auf und überlässt sich dort einer lang gedehnten Fallbewegung hin zu einem „Dis. Das Klavier folgt dieser Bewegung mit zwei- und dreistimmigen Akkorden in hoher Diskantlage und kommt bei dem Wort „mehr“ zusammen mit der melodischen Linie in einer Dehnung erst einmal zu einer kurzen Ruhe. Bei den Worten „weiß nicht mehr“, die in gedehnter Form auf nur zwei Tönen deklamiert werden, einem „Cis“ und einem „Ais“ nämlich, spricht das lyrische Ich einen Augenblick lang von der reflexiven Auseinandersetzung mit diesem Schwebezustand, und deshalb begleitet das Klavier wieder mit seinen Auftakt-Figuren, bei denen dieses Mal der Akkord ebenfalls dreistimmig ist.


    Der Appell „Seid still!“ wird zweimal auf dem gleichen in eine Dehnung mündenden Terzsprung deklamiert. Hier lässt Klavier wieder seine lang gehaltenen dreistimmigen Akkorde erklingen. Während für einen Augenblick eine gewisse Ruhe in die Liedmusik getreten ist, werden die Worte „nein redet“ dann wieder mit stärkerer Lebhaftigkeit deklamiert. Das geschieht mezzoforte, wobei das Wort „nein“, um die Expressivität zu steigern, durch eine Viertelpause von „redet“ abgesetzt ist. Das allerdings wird –erstaunlicherweise – auf einem gedehnten kleinen Terzfall deklamiert. Will das lyrische Ich vielleicht gar nicht, das „geredet“ wird? Fordert es nur dazu auf, weil es die Notwendigkeit der Rede erkannt hat? Das Klavier steigert jedenfalls die Expressivität dieser Passage mit einer Variante der Vorschlagsfigur, bei der die lang gehaltenen Akkorde zehnstimmig vom tiefen Bass bis in den hohen Diskant übergreifen.


    Mit den Worten „Singt, jedweder Mund! Sonst wird die Ewigkeit ganz meine Gruft“ erreicht das Lied den Höhepunkt seiner Expressivität. Den Aufstieg der melodischen Linie in hohe Lage begleitet das Klavier mit Terzen in Bass und Diskant. Der Fortsetzung dieses Aufstiegs hin zu dem Wort „Ewigkeit“ folgt es mit bitonalen und dreistimmigen Akkorden. Auf diesem Wort liegt eine extrem lange Dehnung in Gestalt eines sehr hohen „B“, das fortissimo vorgetragen wird. Am Ende geht dann die melodische Linie bei den Silben „-wigkeit“ in einen ebenfalls gedehnten Sekundfall aus dieser hohen Lage über. Auch das Klavier greift nun zum Forte und lässt hintereinander erst seine Vorschlags-Figuren, danach dann seine schwebenden Akkordfolgen erklingen. Zu dem Wort „Gruft“ hin senkt sich die melodische Linie zu einem tiefen, eine Dehnung tragenden „Es“ ab. Das ist eine Fallbewegung in der Melodik, die sich über das Intervall einer Duodezime erstreckt, und die Liedmusik bringt auf diese Weise zum Ausdruck, wie sehr das lyrische Ich sich mit einem Mal vom Verlust seiner Identität bedroht sieht.


    Vielsagend diesbezüglich ist die lange Pause, die nun in die melodische Linie tritt. Sie umfasst beinahe fünf Takte, in denen das Klavier die Artikulation seiner Akkordfolge fortsetzt, - dies in einem Decrescendo und bei zur Bitonalität sich verkleinernden Akkorden. Erst dann darf die Singstimme die Worte „Und nimmt mich auf wie einst den tiefen Christ“ deklamieren. Bemerkenswert ist dabei, in welcher melodischen Gestalt sie dies tut. Auf den Worten „wie einst“ liegt ein aus einer Dehnung kommender und in eine noch längere Dehnung mündender Quintsprung. Eine Pause folgt, die diese Worte melodisch exponiert. Die Worte „den tiefen Christ“ werden dann auf einem „F“ in tiefer Lage deklamiert, wobei sich die melodische Linie in einem großen und einem kleinen Sekundschritt dann zu einem tiefen „Es“ hin absenkt, Auch hier trägt jeder melodische Schritt Gewicht, weil er im Wert von halben Noten erfolgt. Das Klavier begleitet durchweg mit seiner Vorschlag-Figur und geht dann in einem recht langen (18 Takte ) Nachspiel zu seiner schwebenden Oktav-Folge über, die schließlich von lang gehaltenen (mindestens einen Takt) dreistimmigen Akkorden abgelöst werden, die sich immer weiter absenken und am Ende in einen mit einer Fermate versehenen Akkord aus den Tönen „Es-Ces-F-B“ münden.


    Dieser Liedschluss mutet so an, als habe Hindemith aus dem letzten Vers einen Ton des Bedauerns herausgelesen. Dieses lyrische Ich möchte eigentlich weiter im Zustand des abgehobenen Schwebens verharren und beugt sich nur widerwillig der Notwendigkeit, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen.

  • Der Schlaf entführte mich in deine Gärten,
    in deinen Traum – die Nacht war wolkenschwarz umwunden –
    Wie düstere Erden starrten deine Augenrunden,
    Und deine Blicke waren Härten –


    Und zwischen uns lag eine weite, steife
    Tonlose Ebene …
    Und meine Sehnsucht, hingegebene,
    Küsst deinen Mund, die blassen Lippenstreife.


    (Else Lasker-Schüler)


    Mit einem arglos idyllischen Bild, das sich regelmäßig fünffüßigem Jambus entfaltet, setzt das Gedicht ein. Aber schon unmittelbar darauf, noch im zweiten Vers, tritt der harte Kontrast in die Metaphorik, der sich als sein Wesensmerkmal enthüllt. Es ist keine schöne, milde Nacht, in der das lyrische Ich in die Gärten des Du entführt wird, sie begegnet ihm als „wolkenschwarz umwunden“. Das Ich sucht die liebevolle Begegnung mit dem Du, aber zwischen ihm und dem Anderen liegt eine weite Ebene, die es als „steif“ und „tonlos“ erfährt, als nicht einladend zum Betreten und Durchschreiten, - als vielleicht unüberwindbar? Denn da ist ja nichts, was dazu einlädt. Die Augenhöhlen des Anderen kommen ihm als „düstere Erden“ entgegen, als Orte lebloser Erde, aus denen harte Blicke kommen. Die Sehnsucht drängt das Ich dennoch hingebungsvoll zur Annäherung. Es wagt einen Kuss, und es trifft auf blasse Lippen, die nur schmale Streifen sind, ohne die Fülle des Lebens.


    Auch dieses Lied Hindemiths weist im Notentext keine Vorzeichen und Taktangaben auf, und der Harmonik fehlt ein tonales Zentrum. Letzten Endes ist sie atonal angelegt, ohne dass die Rückungen dabei freilich völlig ungebunden und frei schweifend erfolgen. Man stellt auch hier wieder fest, dass Hindemith den Klaviersatz auf bestimmten klanglichen Figuren aufbaut, die ihn in Variationen von Anfang bis Ende durchlaufen und den klanglichen Charakter wie ein Leitmotiv prägen. Das relativ lange (neuntaktige) Vorspiel, in dem die Singstimme am Ende auftaktig einsetzt, dient dazu, diese klanglichen Figuren einzuführen und vorzustellen. Sie sind generell als klangliche Evokation dessen zu vernehmen, was den zentralen Gehalt des lyrischen Textes ausmacht und die lyrischen Bilder prägt: Hier also der harte Kontrast, wie er sich aus dem Wunsch zur liebevollen Annäherung an das Du und dessen abweisende Kälte ergibt.


    Das den Klaviersatz in seiner Struktur konstituierende klangliche Motiv, wie es im Vorspiel erstmals erklingt, basiert auf einem kontrastiven Aufeinandertreffen von konsonanter und dissonanter Harmonik, die man tatsächlich als musikalische Evokation des Scheiterns in der Suche nach Nähe empfindet, von dem der lyrische Text spricht. In einen im Bass aus den Tönen „D-F-As-B“ angeschlagenen und gehaltenen konsonanten Akkord fällt im Diskant ein bitonaler, aus einer verminderten Septe bestehender Akkord auf geradezu schmerzlich wirkende Weise ein. Das ereignet sich im zweiten Takt gleich noch einmal, und danach erfolgt ein klanglich ebenfalls klanglich vielsagendes Auseinander-Laufen von z.T. triolisch sich bewegenden Quarten im Diskant und in die Tiefe laufenden Oktaven im Bass. Diese Verstörung konsonanter Harmonik durch dissonante prägt nicht nur das ganze Vorspiel, es ist ein klangliches Wesensmerkmal des ganzen Klaviersatzes und reflektiert darin die zentrale lyrische Aussage.


    Mit dem Einsetzen der melodischen Linie beginnt aber ein anderes klangliches Motiv immer mehr die Oberhand zu gewinnen: Die verminderten Septen, die im Vorspiel in die konsonanten Akkorde einfallen, beschreiben nun Terzfall-Bewegungen. Da die Worte Der Schlaf entführte mich“ drei Mal auf einem tonal identischen Terzfall in tiefer Lage deklamiert werden, wirkt der Klaviersatz wie ein Echo darauf, und er verstärkt den Anflug von Wehmut, den die melodische Linie an Anfang an aufweist. Ja er fügt gar, wie man das empfindet, die klangliche Komponente „Schmerzlichkeit“ hinzu. Bei der gedehnten Fallbewegung in hoher Lage, die die Vokallinie bei dem Wort „Gärten“ beschreibt, ist das zum ersten Mal deutlich zu vernehmen. Bemerkenswert aber: Immer wieder werden diese kleinen Septen einmal zu großen, - dies allerdings nur am Anfang des Falls. Die zweite Septe ist dann wieder eine verminderte. Es ist dieses Hin und Her zwischen Konsonanz und Dissonanz, das von Hindemith ganz offensichtlich als höchst subtiles Mittel der musikalischen Interpretation des lyrischen Textes eingesetzt wird.


    Auch die triolische Quartenbewegung, die im Vorspiel erstmals auftaucht, ist fester Bestandteil des Klaviersatzes. Wenn man genau hinhört, wo sie auftaucht, dann zeigt sich: Hindemith hat sie wohl, da es sich ja um große Quarten handelt, als ein klangliches Motiv eingesetzt, das die liebevolle Haltung des lyrischen Ichs gegenüber dem Du reflektiert. Der triolische Sekundfall und –wiederanstieg, den die melodisch Linie in hoher Lage bei den Worten „in deinen Traum“ beschreibt, und der durch Pausen einen markanten Akzent erhält, wird von eben diesen Quarten im Diskant mitvollzogen. Und diese prägen dann den Klaviersatz vor allem in der zweiten Strophe, dort bei dem Wort „Ebene“ (zweiter Vers), bezeichnenderweise dann bei „hingegebene“ und „deinen Mund“, und schließlich dann ganz am Ende der melodischen Linie bei dem Wort „streife“. In allen Fällen geht dieser Figur entweder unmittelbar, oder über eine zwischengelagerte Dehnung die so sehr dominante voraus: Der verminderte Oktaven-Terzfall.


    Das Medium des Klangs ist – wie auch die beiden bereits vorgestellten Lieder erkennen ließen – ganz offensichtlich das mit Vorzug eingesetzte Mittel der musikalischen Interpretation des lyrischen Textes. Auf beeindruckende Weise kann man dies bei den Versen drei und vier der ersten Strophe erfahren. Bei den Worten „Die Nacht war wolkenschwarz umwunden“ setzt die melodische Line in drei deklamatorischen Schritten auf der tonalen Ebene eines tiefen „Es“ ein und beschreibt von dort aus zwar einen Quartsprung, dies aber nur, um erneut in Schritten von kleinen und großen Sekunden wieder auf dieses „Es“ zurückzusinken. Im Klaviersatz ereignet sich dabei drei Mal die für das Lied so typische klangliche Bewegung: Im Diskant beschreiben große Quinten einen Quartfall hin zu kleinen, und Im Bass dreistimmig konsonante Akkorde einen Sekundfall hin zu vermindert-dissonanten.


    Bei den Worten „Wie düstere Erden starrten deine Augenrunden“ entfaltet die Liedmusik starke Expressivität. Die melodische Linie steigt in hohe Lage auf und beschreibt dort zwei gedehnte Fallbewegungen, wobei das Klavier, das zunächst seine Terzfall-Figuren in Gestalt von dreistimmigen Akkorden erklingen ließ, mit einer aufsteigenden Kette von Quinten und Quarten im Diskant der melodischen Linie Kontra gibt, im Bass hingegen Oktaven in extreme Tiefe fallen lässt. Am Ende der Strophe erreicht die Expressivität ihren Höhepunkt. Bei den Worten „waren Härten“ vollzieht die melodische Linie einen verminderten Quintsprung zu einem hohen „Ges“, verharrt dort forte in einer den Takt deutlich übergreifenden Dehnung und fällt am Ende wieder in die Ausgangslage zurück. Das Klavier begleitet dies mit dem Fall von Quarten in extrem hoher Diskantlage über Fallbewegungen von Terzen zu dreistimmigen Akkorden hin im Bass, die sich über Sekundfallbewegungen von sehr tiefen und lang gehaltenen Oktaven ereignen.


    Mit seinen letzten Worten zieht sich das lyrische Ich, so wie Hindemith seine Aussagen in Musik gesetzt hat, in sich zurück. Die melodische Linie geht vom Forte ins pianissimo über und beschreibt zwei Fallbewegungen, die bemerkenswert sind, weil sie an Stellen erfolgen, wo man eigentlich stärkere Expressivität erwartete. Zwar trägt das Wort „Sehnsucht“ eine Dehnung in hoher Lage, aber sie beinhaltet einen Sekundfall. Zu dem Wort „hingegebene“ beschreibt die melodische Linie einen Terzsprung zu einem hohen „E“, danach aber geht in eine starke, über eine ganze Oktave sich erstreckende Fallbewegung über, die überdies auch noch mit einem Decrescendo verbunden ist.


    Ähnlich verhält sich die melodische Linie auch bei den Worten „die blassen Lippenstreife“. Auch da keine Steigerung des Ausdrucks mehr bei lyrischen Ich im Aussprechen der Schmerzlichkeit des Erlebten, vielmehr wieder ein Fall der melodischen Linie nach der Dehnung auf dem Wort „Lippen“ von einem hohen „D“ über eine verminderte Oktave zu einem tiefen „Dis“, nach einer sehr langen Dehnung auf dem Wortteil „-streife“ freilich.


    Dieses lyrische Ich klagt nicht an, es leidet still an seiner Einsamkeit, in der es keine Brücke mehr hin zum geliebten Du gibt. Und das Klavier kommentiert dies mit seinen schmerzlich wirkenden Terzfall-Septen, in die sich drei Mal klanglich geradezu zärtlich anmutende Quarten-Triolen einfügen.

  • Auf der Treppe sitzen meine Öhrchen,
    wie zwei Kätzchen, die die Milch erwarten…
    Auf der Treppe sitzt mein Herz und harret,
    wie ein Geistchen, Kinn in Hand gestützet.


    Doch der Bote mit den Briefen kommt nicht.
    Taub und ohne Seele drin im Zimmer lieg ich.
    Wünsche nichts zurück zu haben.
    Nicht die rosa Kätzchen, nicht das Geistchen.


    (Christian Morgenstern)


    Ein typisches Morgenstern-Gedicht, - geistvoll-witzige Bilder, mit leichter Hand in sprachlich schlichte Verse gesetzt, hinter denen sich eine existenziell gravierende – zumeist schmerzliche – Erfahrung verbirgt. Dieses lyrische Ich hat sich ganz ins Hoffen, ins Erwarten entäußert. Es sagt nicht, worauf es wartet, aber die Bilder, in denen es spricht sagen, dass es etwas von großer Bedeutung sein muss. So groß, dass das Ich ganz Herz und Ohr geworden ist, und beide sich in der Position des Lauschens und Hoffens gar außerhalb des Ichs begeben haben.


    Man kann die beiden letzten Verse so und so lesen: Als lockeres Sich-Abfinden mit der nicht erfüllten Hoffnung und Erwartung oder als depressives Versinken in Hoffnungslosigkeit. Denn jemand, der sein Herz nicht zurück haben will, hat sich im Grunde selbst aufgegeben. Oder sind die Diminutive doch eher als sprachlicher Ausdruck des Leicht-Nehmens dessen zu lesen, was sich da ereignet hat. Sind Ausdruck eines souveränen menschlichen Umgangs damit?


    Paul Hindemith scheint wohl eher zu dieser Lesart geneigt zu haben. Denn seine Liedkomposition auf diese Verse präsentiert sich dem Hörer als ein höchst kapriziöses, überaus witziges und lebhaftes Wechselspiel zwischen Singstimme und Klavier, die sich beide im raschen Hintupfen von Tönen verstehen. Und das jeweils gleichsam dem Anderen vor die Füße: Beide nutzen vor allem die vielen Pausen, die der Andere gerade macht, um zum Ausdruck zu bringen, was sie zu sagen haben.


    Wieder gibt es keine Vorzeichen im Notentext. „Capriccioso“ steht oben am Anfang, versehen mit dem Zusatz „nicht zu schnelle Viertel“. Aber es kommt immer noch überraschend schnell daher, was man da – zumindest in der Interpretation durch Juliane Banse und Axel Bauni, wie in diesem Fall – gerade hört. Melodische Linie und Klaviersatz entfalten sich vorwiegend in Achteln und Sechzehnteln. Deren klangliche Kurzlebigkeit wird allerdings auf kompositorisch höchst witzige Weise erfahrbar gemacht: Durch in die Konfrontation mit Dehnungen in der melodischen Linie und durch Legato-Bindungen zwischen Achtel- und Sechzehntelfiguren im Klaviersatz. Eine ganz typische, den Klaviersatz klanglich stark prägende Figur ist das Sechzehntel oder Zweiunddreißigstel, das als Vorschlag zu einer Figur dient, die aus einer kleinen Sekunde im Wert eines Viertels besteht, das legato in eine andere Figur hineinragt, aus der nach einer extrem kurzen Pause ein neuer Vorschlag gleichsam heraus hüpft, um Vorschlag für die nächste gedehnte Figur zu werden.


    Mit einer solchen Figur, zweimal Sechzehntel-Vorschlag mit nachfolgendem Achtel und Sechzehntelpause dazwischen, setzt das Lied ein. Dann hat das Klavier fast einen ganzen Takt Pause, während die Singstimme in rascher silbengetreuer Deklamation ausschließlich auf einem „C“ in Mittellage die Worte „Auf der Treppe sitzen meine“ vorträgt. Zu dem Wort „Öhrchen“ hin macht die melodische Linie dann einen Terzsprung zu einem hohen „E“, das eine Dehnung trägt und mit einem Portato deklamiert werden soll, und geht danach in einen Quartfall über. Und erst jetzt lässt das Klavier wie in einem witzigen Kommentar dazu wieder eine seiner Vorschlagfiguren in sehr hoher Lage erklingen. Auch bei der melodischen Linie auf die Worte „wie zwei Kätzchen, die die Milch erwarten“, bleibt das Klavier anfänglich stumm, geht dann aber in eine – wieder durch Vorschläge rhythmisierte – Folge von in hohe Lage emporschießenden Sekunden über, wobei wiederum überaus witzig wirkt, dass es diese Bewegung nach oben fortsetzt, auch nachdem die Singstimme nach einem Quintfall auf der letzten Silbe von „erwarten“ eine Pause macht, und dann, als hätte es diesen zu spät bemerkt, seine Sekunden nachträglich einen Quintfall vollziehen lässt.


    Die Worte „Auf der Treppe sitzt mein Herz“ werden – wie die des ersten Verses – ebenfalls silbengetreu auf nur einem Ton deklamiert, nun aber eine kleine Terz tiefer, auf einem „As“ also. Und wieder schweigt das Klavier. Zu dem Wort „Herz“ hin beschreibt die melodische Linie nun aber keinen Fall, sondern eine Sprungbewegung in Gestalt einer kleinen Sekunde. Und man weiß schon, was nun passieren wird: Das Klavier kommentiert wieder mit einer kurz aufblitzenden Vorschlagsfigur. Diese, aus einem Zweiunddreißigstel-Ges und zwei um eine Quinte tiefer liegende Achtel-Sekunden bestehend, dient dem Klavier nun als Begleitung der melodischen Linie auf den Worten „wie ein Geistchen, Kinn in Hand gestützt“. Die melodische Linie darauf wirkt klanglich regelrecht stockend, weil in die Achtel und Sechzehntel, in denen sie sich bewegt, immer wieder Dehnungen und sogar eine Pause treten, - letztere nach dem Wort „Geistchen“, die Dehnungen in Gestalt von punktierten Vierteln auf den Worten „Kinn“ und „Hand“. Im Bass lässt das Klavier aus tiefer Lage eine Folge von Achteln in sehr hohe aufsteigen und geht dann in einen Wirbel von Sechzehnteln über, der sich, während die Singstimme vor der zweiten Strophe wieder eine Pause macht, fortsetzt, wobei im Diskant ein Wirbel gleicher Struktur hinzutritt. Das mutet an, als wolle das Klavier die Situation des Wartens von „Öhrchen“ und „Herzchen“ klanglich imaginieren.


    Beim ersten Vers der zweiten Strophe wiederholt sich das schon bekannte Spiel: Die Singstimme deklamiert die Worte „Doch der Bote mit den Briefen kommt nicht“ syllabisch exakt auf nun einem hohen „D“ und geht am Ende in die schon bekannte Kombination aus Terzsprung und Quartfall über. Und das Klavier – schweigt, kommentiert aber am Ende die Singstimme mit seiner Vorschlagsfigur, nun in sehr hoher Lage. Die nachfolgenden vier Melodiezeilen sind alle durch Pausen voneinander abgegrenzt, die bei dem Tempo, in dem das Lied vorgetragen wird, relativ lang wirken. Dadurch wird der konstatierende Akzent, den die Verse lyrisch-sprachlich aufweisen, noch verstärkt. Aber auch die jeweilige Struktur der melodischen Linie bewirkt dies. Bei allen Zeilen beschreibt die melodische Linie zwar Sprungbewegungen, verharrt davor oder danach aber in zwei bis drei deklamatorischen Schritten auf einer tonalen Ebene und beschreibt am Ende eine Fallbewegung. Das Klavier begleitet wieder mit den Figuren, die man schon aus der ersten Strophe kennt: Die Vorschlagfigur, die in großen Schritten in große Höhe laufenden staccato artikulierten Achtel und die aus Achteln und Sechzehnteln gebildete Wellenlinie.


    Und wie mutet diese Liedmusik an, in der das lyrische Ich immerhin davon spricht, das es „taub“ und „ohne Seele“ im Zimmer liege? Gewiss, einen deutlichen Beiklang von Resignation weist sie schon auf. Bei den Worten „Zimmer lieg“ ich beschreibt die melodische Linie einen Fall über eine kleine Quarte, eine große und eine kleine Sekunde. Das mutet durchaus resignativ an. Aber das Klavier lässt dazu seine spritzigen Vorschlagsfiguren erklingen. Bei „wünsche nichts zurück zu haben“ geht´s in vier Schritten über eine Quinte in die Tiefe“, aber das Klavier lässt in der eintaktigen Pause für die Singstimme danach Achtel über das Intervall von sechzehn Tonstufen in extrem hohe Diskantlage aufsteigen. Der letzte Vers wird in zwei kleine Melodiezeilen aufgeteilt. Auf dem Wort „Kätzchen“ liegt eine lange Dehnung in hoher Lage, die in einen Quartfall mündet. Das Klavier begleitet hier mit seiner Wellenfigur in sehr hoher Lage. Auf dem Wort „Geistchen“ liegt ein noch größerer melodischer Fall: Über eine Sexte geht’s es von einem „C“ hinunter zu einem „E“ in tiefer Lage.
    Man meint zu hören: Dieses lyrische Ich ist zwar enttäuscht, weil sein Warten vergeblich war, es lässt auch Anflüge von Resignation vernehmen. Dies in der fallenden Tendenz aller Melodiezeilen und in der Moll- und verminderten Harmonisierung, die sie aufweisen. Aber alle melodisch-lyrischen Aussagen werden viel zu rasch und zu lebhaft deklamiert, weisen in der Fallbewegung der melodischen Linie keine Dehnungen auf, wirken fast wie herausgestoßen, als dass dieses Ich wirklich seine Seele verloren haben könnte und die Resignation eine sein könnte, die an die existenzielle Substanz ginge.

  • Vor dir schein´ ich aufgewacht,
    und ich küsse dich am Halse,
    und du, ohne Lid zu heben,
    legst den Arm um mich, und sacht,
    wie nach einer Chopin Valse,
    meinst du mit mir hinzuschweben…


    (Christian Morgenstern)


    Den lyrischen Aussagen über eine liebevoll-zärtliche Begegnung zwischen dem lyrischen Ich und dem Du und den Bildern, die sie evozieren, wohnt eine Unbestimmtheit inne. Halb unbewusst ereignet sich das, was lyrisch beschrieben wird: Das lyrische Ich „scheint“ nur aufgewacht, das Du legt den Arm um es, und nicht das lyrische Ich selbst fühlt sich danach, als würde es „hinschweben“, sondern es geht davon aus, das das Du „meine“, dieses mit ihm zusammen zu tun. Konkret sind nur der Akt des Küssens und die Geste mit dem Arm. Alles andere verschwimmt in der Unbestimmtheit der Imagination. Und dazu passt, dass sich dabei die Assoziation eines Chopin-Walzers einstellt.


    Das lyrische Stichwort „Chopin Valse“ ist für Hindemith, wie sollte es anders sein, der Angelpunkt der Umsetzung dieser Verse in Liedmusik. Und so steht die Komposition denn auch in einem Dreivierteltakt und die Anweisung zu ihrem Vortrag lautet: „Das leichte Gleiten eines langsamen Walzers nachahmend“. Natürlich lässt er sich nicht dazu verleiten, den spezifischen klanglichen Ton eines Chopin-Walzers zu imitieren, aber dieses Lied ragt in einem Punkt auf recht markante Weise aus den anderen Kompositionen des Opus 18 heraus: Der Klaviersatz weist deutlich ausgeprägte melodiöse Elemente auf, denen die Anmutung eines klanglichen Schwebens eigen ist.


    Schon im Vorspiel klingen diese melodischen Figuren auf. Zunächst setzt es mit einer atonalen Akkordfolge ein. Im vierten Takt jedoch schält sich aus diesen in oberer Diskantlage eine wellenförmige Figur aus Achteln und Vierteln heraus. Und dies setzt sich in einer sich steigernden Weise sogar noch fort. Während der Bassbereich vorwiegend von Oktaven geprägt ist, erklingt die melodische Figur im Diskant um eine Sekunde angehoben gleich noch einmal, und dann erweitern sich die Einzeltöne zu Sexten, und diese formen sich ebenfalls zwei Mal zu einer melodischen Figur über der Grundlage von lang gehaltenen dreistimmigen Akkorden.


    Die melodische Figur, die im Vorspiel erstmals aufklingt, erweist sich als ein den ganzen Klaviersatz maßgeblich prägender Faktor. Man vernimmt sie in verschieden Varianten – mal in Gestalt von Einzeltönen, mal in der erweiterten Form von Terzen oder gar dreistimmigen Akkorden – in der Begleitung der melodischen Linie immer wieder. Und das Nachspiel besteht aus nichts anderem als ihr: Hin und her pendelnd zwei Harmonisierungen erklingt sie fünf Mal und verklingt dann im Pianissimo dergestalt, dass der letzte Schritt in ihr nicht mehr vollzogen wird.


    Die melodische Linie setzt mit einem Septfall auf den Worten „Vor dir“ ein. Er wirkt gewichtig, weil er aus Notenwerten von einem Viertel besteht, legato deklamiert werden soll und eine Pause ihm nachfolgt. Danach bewegt sich die melodische Linie bei den Worten „schein ich aufgewacht“ in Sekundschritten zwar langsam aufwärts in mittlere Lage, vollzieht aber am Ende wieder einen Sekundfall. Das Klavier begleitet diese Melodiezeile mit nichts anderem als zwei länger gehaltenen Oktaven in tiefer Basslage. Die melodische Linie, die auf dem zweiten Vers liegt, beschreibt eine über ein großes Intervall ausgreifende wellenartige Bewegung, die das Klavier gleich zwei Mal mit seinem melodischen Leitmotiv begleitet. Sowohl auf dem Wort „küsse“ als auch auf „Halse“ liegt ein gedehnter melodischer Fall. Aus diesem Grund, aber auch weil es sich bei dem auf „Halse“ immerhin um einen Sextfall handelt, der mit einem Decrescendo verbunden ist und die Harmonik sich durchweg im dissonanten Bereich bewegt, weist dieses lyrische Bild keinerlei klangliche Emphase auf. Die Liedmusik versteht diesen Akt als eine sanfte, in fast noch traumhafter Verhaltenheit vollzogene Geste.


    Die Pause, die nun in die Melodik tritt, ist deutlich länger, nimmt fast zwei Takte in Anspruch. Das Klavier füllt sie mit seinem Hauptmotiv, das bei zweiten Mal deutlich expressiver wird, weil es sich nun in Gestalt von Doppelterzen entfaltet. Auch die melodische Linie geht zu gesteigerter Expressivität über. Sie durchläuft in ihren von vielen Dehnungen geprägten Bewegungen einen großen tonalen Raum und übergreift dabei drei ganze Verse (drei bis fünf). Die Worte „und du“ werden, um ihrem Ansprache-Gestus gerecht zu werden, mit einem Terzsprung auf den Wort „und“ deklamiert, der in eine Dehnung in hoher Lage auf „du“ mündet. Dann aber ereignet sich, was man schon von dem Bild des Kusses am Hals kennt: Die melodische Linie senkt sich über eine Dehnung bei dem Wort „Lid“ über eine ganze Dezime in tiefe Lage ab und reflektiert darin wohl den Umstand, dass dies eine gleichsam im Halbschlaf erfolgende Geste ist.


    Immerhin setzt die nachfolgende Aufwärtsbewegung der melodischen Linie nicht bei „legst“ ein, das eine Dehnung in tiefer Lage trägt, sondern erst mit den Worten „den Arm um mich“. Hier nun verleiht das Klavier dem Aufwärtsdrang der Vokallinie einen deutlichen Schub in Gestalt von nach oben steigenden Terzsprüngen, denen allerdings in die Tiefe fallende Oktaven n im Bass gegenüberstehen. Auch die Dynamik verhält sich gleichsam gegenläufig: Sie sinkt mit einem Decrescendo vom Mezzoforte ins Pianissimo ab. Der lang gedehnten und am Ende in einen Septfall mündenden Fallbewegung der melodischen Linie auf den Worten „Chopin Valse“ geht eine ebenfalls lange Dehnung auf dem Wort „sacht“ voraus, und diese setzt den entscheidenden Akzent in der musikalischen Aussage: Die Assoziation „wie nach einer Chopin Valse“ stellt sich in der träumerischen Situation der beiden Liebenden auf höchst zarte Weise ein.


    Der letzte Vers ist syntaktisch zwar an den vorangehenden angebunden, Hindemith verleiht ihm aber eine eigene Melodiezeile, die durch eine dreitaktige Pause von der vorangehenden abgesetzt ist. Auf diese Weise erhält das Bild vom „Dahinschweben“ ein Gewicht und eine Aussagekraft, die über die lyrische hinausgehen. In der Pause lässt das Klavier wieder sein Hauptmotiv erklingen, es ist freilich nun um einen Sekundfall erweitert, so dass es wirkt, als würde es die Fallbewegung der Melodiezeile fortsetzen. Klanglich weist das alles, da in Moll und verminderte Harmonik gestellt, eine leichte Anmutung von Wehmut auf.


    Auf beeindruckende Weise imaginiert die Liedmusik das letzte lyrische Bild. Die melodische Linie steigt wieder auf die tonale Ebene empor, auf der sie gerade die lange, in einen verminderten Septfall mündende Dehnung bei dem Wort „Valse“ beschrieben hatte. Das aber nicht ganz. Sie bleibt um eine kleine Sekunde darunter und vollzieht zwei Mal über einen verminderten Achtel-Sprung aus langen Dehnungen heraus kleine Ausgriffe auf diese Ebene, um alsbald wieder zurückzufallen und die Dehnung fortzusetzen. Am Ende, bei dem Wortteil „-schweben“ ereignet sich dann ein veritabler Oktavfall. Im Klaviersatz meint man ganz von ferne ein wenig Chopin zu vernehmen: Dem nun akkordisch erweiterten Hauptmotiv sind zwei Mal wie Terzen-Triller wirkende Sechzehntel-Figuren vorgelagert, und dies alles über lang gehaltenen, dreistimmig aus Terzen gebildeten konsonanten Akkorden im Bass. Die Figuren im Diskant stehen dazu freilich in einem dissonanten Verhältnis, so dass das Klavier den Eindruck des Schwebens, den die melodische Linie bei diesem letzten Vers macht, mit verschwebender Harmonik begleitet und unterstützt.

  • Lieber Helmut,


    die zeitlich rasche Abfolge Deiner Beiträge verhindert, dass ich sinnvoll darauf eingehen kann.


    Hindemith kann/hat aber auch andere Lieder komponiert
    https://www.youtube.com/watch?v=GEVtmMNJAHc


    Freude wünsche ich, den Liedern zu lauschen.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Ja, Hindemith hat auch andere Liedmusik komponiert, und es ist gut, dass Du, lieber zweiterbass, darauf hingewiesen und sogar einen Link dazu eingestellt hast. Ich danke Dir dafür!
    Es handelt sich um die in den Jahren 1914-16 entstandenen „Lustigen Lieder in Aargauer Mundart für hohe Stimme und Klavier“, die die Widmung tragen „Für Herrn und Frau Dr. Weber zur Erinnerung“, - was erkennen lässt, dass es sich offensichtlich um eine Gelegenheitsarbeit handelt. Sie tragen die Titel: „Schössli beschnyde“, „Zur Unzeit“, „Die Hexe“, „Dä liess ig y“, „Kindchen“, „Erwachen“ und „Tanzliedli“.
    Ich hatte sie zwar in der Einleitung zu diesem Thread erwähnt, will mich aber, einfach um diese Sache hier nicht zu umfangreich werden zu lassen, nicht näher auf sie einlassen. Umso besser, dass hier nun noch einmal ein ausführlicherer Hinweis auf ihre Existenz erfolgte.


    Was Deine kritische Anmerkung anbelangt, lieber zweiterbass, „die zeitlich rasche Abfolge Deiner Beiträge verhindert, dass ich sinnvoll darauf eingehen kann“, so hast Du sie mir gegenüber ja schon einmal, und zwar anlässlich des Brahms-Lieder-Threads erhoben, und sie ist voll und ganz berechtigt. Ich habe übrigens daraufhin damals das Tempo meiner Vorgehensweise etwas verringert, das hat aber auch nichts gebracht, was eine Stellungnahme zu den einzelnen Liedbesprechungen anbelangt.


    Die Hindemith-Lieder wurden bislang im zeitlichen Abstand von zwei Tagen eingestellt. Das ist möglich, weil die entsprechenden Beiträge fix und fertig vorliegen, so dass ich sie, nach nur kurzer redaktioneller Überarbeitung, einfach aus einer Word-Datei rüberkopieren kann (ich habe übrigens daran jeweils länger als zwei Tage gearbeitet).
    Frag mit bitte nicht, warum ich das in dem – von Dir zu Recht monierten – Tempo tue. Ich müsste mich dann nämlich auf den Sinn meiner Betätigung in diesem Forum und die damit verbundenen Probleme näher einlassen, und so etwas in aller Öffentlichkeit zu tun, das gehört sich für mich ganz einfach nicht. Mal ganz abgesehen davon, dass es auch nichts brächte.
    Aber Du könntest ja doch, so denke ich gerade, wenn Du zu einem der Lieder - oder auch mehreren – etwas anmerken möchtest, worüber ich mich sehr freuen würde, das auch
    sozusagen im Rückgriff tun. Ich würde dann innehalten und mich noch einmal im Gespräch mit Dir auf ein solches zurückliegendes Lied einlassen. Schön wäre das!!

  • Bin so müde.
    Alle Nächte trag´ ich dich auf dem Rücken.
    Auch deine Nacht,
    Die du so schwer umträumst.


    Hast du mich lieb?
    Ich blies dir arge Wolken von der Stirn
    Und tat ihr blau.


    Was tust du mir
    In meiner Todesstunde?


    (Else Lasker-Schüler)


    Das ist ein in der Kargheit seiner Worte, der Direktheit, mit denen sie ausgesprochen werden und sich an das Du richten, und in der existenziell elementaren Frage, in die sie münden, zutiefst erschütterndes Gedicht. Das lyrische Wort kommt aus einer Müdigkeit, die keine des Tages und seines Anspruchs ist, sondern eine abgründige, eine den ganzen Menschen erfassende und seiner Existenz den Boden entziehende. Dabei war und ist diese ganz in Liebe, Zuwendung, ja Fürsorge auf den Anderen ausgerichtet. In starken, weil die Sache unmittelbar benennenden Bildern spricht das lyrische Ich aus, was es in Liebe für das Du erbracht hat: Nicht nur die Wolken hat es ihm von der Stirn geblasen, es hat die helle Bläue das Tages in die Finsternis dort gebracht und auch die Nächte des Anderen auf den Rücken genommen, und mit ihnen die Last der schweren Träume.
    Umso erschütternder die Leere, in der die letzte, die Existenz in ihrem Kern auf solch elementare Weise berührende Frage verhallt.


    All dem begegnet man in diesem Lied wieder, und es beeindruckt tief, weil die lyrischen Aussagen in ihrer Bereicherung durch das evokative Potential der Musik in ihren Bedrückenden Dimensionen gesteigert wirken. Die Einsamkeit des lyrischen Ichs, dieses Auf-sich-selbst-Zurückgeworfen-Sein reflektiert die Liedmusik durch die Zerstückelung der melodischen Linie in insgesamt acht Zeilen, die durch relativ lange, z.T. mehr als ganztaktige Pausen voneinander getrennt sind, und durch einen Klaviersatz, der durchweg von atonaler, schmerzlich-dissonanter Harmonik geprägt ist und dabei große klangliche Expressivität entfaltet, was die Tatsache, dass die Singstimme die melodische Linie mehrmals in einem klanglich leeren, durch das Schweigen des Klaviers geschaffenen Raum vorträgt, umso eindringlicher werden lässt.


    Auch in diesem Lied – und das ist ganz offensichtlich ein kompositorisches Prinzip Hindemiths in diesem Opus 18 – weist der Klaviersatz wieder ein in seiner Struktur und seiner Klanglichkeit prägendes Motiv auf. Man begegnet ihm gleich im sechstaktigen Vorspiel, und das sogar vier Mal: Ein Achtel geht über einen Vorschlag mit einem Terzsprung in einen triolischen Achtel-Sekundfall über und mündet in einen zumeist länger gehaltenen dissonanten Akkord. Im Vorspiel ist dieser gebildet aus den Tönen F-As-E-Ces-Es, und mit diesem setzt das Lied auch ein. Der kleinen Melodiezeile auf den Worten „bin so müde“, die in silbengetreuer Deklamation von einem „B“ in mittlerer Lage in einen gedehnten Terzfall bei dem Wort „müde“ übergeht, ist im Vorspiel eine klangliche Figur vorgelagert, die wie eine Hinführung auf diese melodische Aussage wirkt und ihr damit in ihrer klanglichen Schmerzlichkeit noch größeres Gewicht verleiht: Aus einem höchst dissonanten, aus den Tönen D-As-E-B-Fis gebildeten und lange gehaltenen Akkord steigt in Bass und Diskant eine Kette von Achteln nach oben, die in eine wiederum dissonante klangliche Figur mündet. Die Worte „Bin so müde“ erklingen dann in den beiden ersten deklamatorischen Schritten in der Stille, erst der Terzfall bei dem Wort „müde“ erhält dann einen Akzent durch einen lang gehaltenen dissonanten Akkord aus den Tönen F-As-E-Ces-Es. Und in der nachfolgenden Pause der Singstimme im Wert von einem halben Takt lässt das Klavier wieder sein Hauptmotiv erklingen.


    Die Worte „Alle Nächte trag´ ich dich auf dem Rücken“ werden auf einer melodischen Linie deklamiert, die aus der hohen Lage eines „Es“ über einen Sekund- und einen Septfall um eine ganze verminderte Oktave in die Tiefe stürzt und sich in langsam, mühsam wirkenden Schritten von großen und kleinen Sekunden zu einem hohen „F“ hinauf bewegt, wo sie dann bei dem Wort „Rücken“ einen gedehnten Sekundfall beschreibt. Sie ist hier vom Klavier völlig alleingelassen. Bei den Worten „alle Nächte“ lässt es den oben beschriebenen dissonanten Akkord, den es zuvor noch einmal angeschlagen hat, ausklingen und geht in ein Schweigen über, das erst wieder beendet wird, wenn die Singstimme ihrerseits in ein mehr als eintaktiges Schweigen verfällt. Hier nun artikuliert das Klavier wieder sein Hauptmotiv, das anschließend in eine drängend fallende Figur übergeht, in der das Hauptmotiv sich aufzulösen scheint (Anweisung: „Ein wenig drängen“). Die Liedmusik mutet hier – und nachfolgend noch mehrmals – so an, als würde ein einsames Ich all das, was es bewegt und bedrückt, in die Stille sprechen und das Klavier würde dem in einem Kommentar wiederum für sich allein Nachdruck verleihen.


    Mit der nächsten Melodiezeile, die die Verse drei und vier der ersten Strophe umfasst, kommt eine deutliche Steigerung der Expressivität in das Lied. Die Singstimme, die anfänglich im Piano verblieb, setzt nun mezzoforte ein, geht mit einem Crescendo ins Forte über und erreicht bei der Wiederholung der Frage „Hast du mich lieb?“ gar das Fortissimo. Die Worte „Auch deine Nacht“ werden silbengetreu auf nur einem Ton (einem Ges) deklamiert, der am Ende (bei „Nacht“) in einen Sekundfall übergeht. Auch bei den nachfolgenden Worten („die du so schwer umträumst“) verharrt die melodische Linie zunächst auf nur einer, allerdings schon um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene. Dann aber beschreibt sie einen Aufstieg über eine Sexte und geht bei dem Wortteil „-träumst“ in eine Dehnung in hoher Lage über, die forte deklamiert wird. Das Klavier entfaltet eine regelrecht ungestüme und in ihrer Expressivität sich steigernde Klanglichkeit: Das Hauptmotiv löst sich in fallende Bewegung auf und wächst in seiner klanglichen Substanz mächtig an, weil es nun aus vierstimmigen Akkorden besteht. Und im Bass stürmen Oktaven in die Tiefe und steigen von dort wieder auf.


    Diese regelrecht stürmisch anmutenden, z.T. triolischen Bewegungen von Akkorden im Diskant und in immer wieder neue Anläufen nach oben eilenden Oktaven prägen die Liedmusik bis hin zu dem Augenblick, wo wieder Stille einritt: Mit den beiden Versen der letzten Strophe, ihrer so tief treffenden Frage: „Was tust du mir in meiner Todesstunde?“. Zuvor aber steigert sich der drängende Gestus in Melodik und Klaviersatz noch. Die Frage „Hast du mich lieb“ wird – und das ist ungewöhnlich für Hindemiths Liedmusik – gleich zwei Mal auf nur einen tonalen Ebene mit kleinem Sekundfall am Ende deklamiert. Beim zweiten Mal fortissimo und um eine Quarte in hohe tonale Lage angehoben. Bei den Worten „Ich blies dir arge Wolken von der Stirn und tat ihr blau“ beschreibt die melodische Linie, immer noch in Fortissimo-Deklamation, zunächst eine wellenartige Bewegung, wobei der verminderte Quintsprung auf dem Wort „arge“ in Legato-Dehnung vorgetragen werden soll. Mit den Worten „Wolken von der Stirn“ stürzt die melodische Linie aus hoher Lage über eine None in die Tiefe und verbleibt dort auch, bis sie schließlich bei den Worten „ihr blau“ zu einem verminderten Quintsprung mit nachfolgender Dehnung übergeht.


    Nun geschieht Überraschendes. Das Klavier bricht die triolischen Oktavenbewegungen im Bass ab und lässt in der Pause der Singstimme zunächst nur sein Hauptmotiv im Diskant erklingen, dem ein lang gehaltener dissonanter Akkord folgt, aus dem sich fallende Achtel lösen. Die letzte Frage des lyrischen Ichs wird nun, nach diesem Ausbruch in die expressive Ansprache des Du, wieder in der völligen Zurücknahme in sich selbst in die Stille hinein deklamiert. Dies in Gestalt von zwei kleinen Melodiezeilen, zwischen die sich eine haltaktige Pause drängt, in der das Klavier, das ansonsten schweigt, einmal sein Hauptmotiv artikuliert. Bei den Worten „Was tust du mir“ beschreibt die melodische Linie, die zunächst auf einem hohen „Es“ verharrt, am Ende einen ausdrucksstarken Septfall. Und die Worte „in meiner Todesstunde“ werden piano auf einer melodischen Linie deklamiert, die sich aus hoher Lage wie in übergroßer Müdigkeit, weil über zwei Dehnungen erfolgend, langsam in mittlere absenkt und in einem verminderten Sekundfall erstirbt.
    Das Klavier hat im fünftaktigen Nachspiel nur noch eine Folge seines triolischen Hauptmotivs beizutragen und beschließt das Lied mit einem aus einem Oktavanstieg im Bass und fallenden akkordischen Figuren im Diskant hervorgehenden lang gehaltenen fünfstimmigen Akkord. Es ist – erstaunlich, nach all den vorausgehenden Dissonanzen – ein reiner Moll-Akkord.

  • Durch die abendlichen Gärten,
    über glänzende Asphalte
    wirbelt mich die Mondesfülle.


    Auf dem nassgetropften Laube
    schimmern Kerzen, Mondlichtaugen.
    O, lunare Visionen.


    Eingetaucht in Gaslaternen, Blendekreise
    schüttelt sich die Seele.
    Das Gefühl perlt Wasser wie von
    Entenfedern.


    Bis befreundet gelbe Aureole der Laterne
    brüderlich dir naht,
    Aug´ in Auge harrend,
    du gebannt Arme spannst in Nacht.


    (Heinar Schilling)


    Da ist kein großer Lyriker am Werk. Die Bilder wirken konstruiert, weit hergeholt und missglücken dabei, - wie etwa das vom „Gefühl“, das „Wasser wie von Entenfedern“ „perlt“. Hindemith scheint sich daran nicht gestört zu haben. Er nimmt die mehr angesprochenen als wirklich evokativ umgesetzten Emotionen und seelischen Befindlichkeit des lyrischen Ichs zum Anlass, sie mit seiner Liedmusik gleichsam zu beschreiben und in klangliche Evokation umzusetzen. Herausgekommen ist dabei ein Lied, zu dem die Vortragsanweisung „stürmisch“ lautet. Und in der Tat: Man begegnet darin einem wahren stürmischen Wirbel von Klanglichkeit, die sich in einem Klaviersatz entfaltet, der sich in einer nicht ende wollenden Flut von in Bass und Diskant synchron dahineilenden Sechzehntel-Ketten oder – einmal zur Abwechslung – Achtel-Sekunden und repetierenden Oktaven oder Akkorden ergeht. Die Singstimme wirkt davon wie mitgerissen, durchläuft dabei deklamatorisch große tonale Räume und überlässt sich Dehnungen in hoher Lage. Dies alles in einem Tempo, dass man Mühe hat, ihr dabei zu folgen und ihre Aussagen zu erfassen. Erst mit dem letzten Vers kommt ein wenig Ruhe in die Liedmusik, - freilich nur eine relative.


    Wie es keine Ruhe in diesem Lied gibt, so auch keine länger andauernde Stille. Forte und Fortissimo dominieren dynamisch, Crescendi und Decrescendi wechseln sich permanent ab. So setzt die melodische Linie zwar piano ein, aber den Aufstieg in großen und kleinen Sekunden von einem „G“ in mittlerer Lage zu einem „Fes“ in hoher bei den Worten „Durch die abendlichen Gärten“ vollzieht sie in einem Crescendo. Bei dem Wort „Gärten“ hat sie zwar das Forte erreicht, sofort aber setzt ein Decrescendo noch in dem Sekundfall auf diesem Wort ein und der melodische Sekundanstieg auf dem Wort „über“ muss schon wieder piano vorgetragen werden.


    Hindemith folgt auch hier seinem liedkompositorischen Grundprinzip, die Semantik des lyrischen Textes und die Aussage seiner Bilder sozusagen wörtlich zu nehmen und in adäquate Klanglichkeit umzusetzen. Dabei kommt dem Klaviersatz eine Vorrangstellung zu. Seine Struktur und die ihn prägenden klanglichen Figuren werden an der zentralen lyrischen Aussage festgemacht. So ist es in diesem Fall ganz offensichtlich so, dass das erste lyrische Bild, dieses über glänzenden Asphalt durch die „Mondesfülle“ Gewirbelt-Werden des lyrischen Ichs diesen die ganz erste Strophe hin andauernden Wirbel von Sechzehntel-Ketten in Bass und Diskant gleichsam ausgelöst hat. Der lyrische Text wird also tatsächlich liedmusikalisch wörtlich genommen. Dazu gehört auch, dass die melodische Linie drei Mal in eiligen Sekundschritten in hohe Lage aufsteigt und dort bei den Worten „Gärten“, „Asphalte“ und „Mondesfülle“ in der Länge sich steigernde melodische Dehnungen beschreibt.


    Bei der zweiten Strophe greift Hindemith die gleichsam punktuellen sinnlichen Elemente vom „naßgetropften Laub“ und den dem lyrischen Ich als „Lichtaugen“ begegnenden Kerzen mit einem Klaviersatz auf der bis zum Wort „Kerzen“ hin aus permanent repetierenden kleinen Sekunden in hoher Lage über länger gehaltenen Terzen im Bass besteht, dann in im Terzabstand sich auf und ab bewegende Sekunden übergeht und mit einem Mal – in fast überraschender Weise – in einen lang gehaltenen dissonant arpeggierenden Akkord mündet. „Verantwortlich“ dafür ist der Ausruf „O lunare Visionen“. Auf dem „O“ liegt dabei eine Dehnung in hoher Lage, danach geht es bei dem Wort „lunare“ melodisch über das Intervall einer veritablen Dezime in großen Schritten abwärts, und bei „Visionen“ beschreibt die melodische Linie dann in silbentreuer Deklamation einen zweifachen Sekundfall in tiefer Lage. Und hier begleitet das Klavier auch wieder mit – dieses Mal nicht auf einer tonalen Ebene verbleibenden, sondern in Bass und Diskant nach oben rauschenden – Sechzehntel-Ketten.


    Das Bild von der Seele, die sich, eingetaucht in Gaslaternen, schüttelt, greift die Liedmusik mit einer melodischen Linie auf, die zunächst in Gestalt von Dehnungen zwischen zwei tonalen Ebenen hin und her springt, wobei sie das Klavier mit einer ähnlichen Figur begleitet: Über das Intervall einer Quinte hin und her springenden Sekunden. Bei den Worten „schüttelt sich die Seele“ geht die melodische Linie zu einer in hoher Lage ansetzenden Fallbewegung über, und das Klavier begleitet sie dabei mit einer ebenfalls fallenden Sechzehntel-Kette. Die melodische Linie auf den Worten „Das Gefühl perlt Wasser wie von Entenfedern“, die von zwei Dehnungen (auf „Gefühl“ und „Entenfedern“) geprägt ist, begleitet das Klavier wieder mit seinen wirbelnden Sechzehntel-Figuren, die sich mit Auf-und Ab-Sechzehnteln ablösen.


    Mit dem „Sich-Nahen“ der Laterne kommt so etwas wie menschliche Wärme und Nähe in die kalten und abweisenden Bilder des Gedichts, und das bringt einen deutliche Wandel in der Struktur des Klaviersatzes und damit für den klanglichen Charakter des Liedes mit sich: Er nimmt erstmals akkordische Gestalt an. Freilich gibt er damit seinen stürmischen Charakter nicht auf. Während die Singstimme bei den Worten „Bis befreundet gelbe Aureole“ in Sekundschritten in die Höhe eilt, artikuliert das Klavier zunächst noch lang gehaltende fünfstimmige Akkorde. Dann jedoch geht es zu einem stoßartig wirkenden Wechsel zwischen Oktaven im Bass und vierstimmig dissonanten Akkorden im Diskant über, die, während eine fast dreistimmige Pause in die melodische Linie tritt, in fortissimo repetierende Akkorde übergehen.


    Die Worte „Aug in Auge harrend“ nehmen eine exponierte Stellung in dem Lied ein. Eine lange Pause geht der Melodiezeile voraus, eine lange folgt nach. Das Klavier schlägt zunächst in sehr hoher Lage repetierende Sekunden an und lässt in der zweiten Pause einen hochexpressiven klanglichen Wirbel von fallenden Sechzehnteln erklingen die in eine Kette von sich auf und ab bewegenden Sechzehnteln übergehen. Auch bei den letzten Worten zerfällt die melodische Linie in kleine durch Pausen voneinander abgehobene Zeilen auf den Worten „du gebannt“, „Arme“, „spannst in Nacht“. Die beiden letzten Worte werden auf einem gedehnten Sekundanstieg in tiefer Lage wiederholt. Das Klavier begleitet die kleinen Melodiezeilen jeweils mit lang gehaltenen dissonanten Akkorden und geht dann in den Pausen zu repetierenden Achtel-Akkorden über. Mit diesen beschließt es dann auch das Lied im fünftaktigen Nachspiel.

  • Unter verschnittenen Weiden,
    wo braune Kinder spielen
    und Blätter treiben,
    tönen Trompeten.


    Ein Kirchhofsschauer. Fahnen von Scharlach
    stürzen durch des Ahorns Trauer,
    Reiter entlang an Roggenfeldern,
    leeren Mühlen.


    Oder Hirten singen nachts
    und Hirsche treten in den Kreis ihrer Feuer,
    des Hains uralte Trauer.


    Tanzende heben sich von einer schwarzen Mauer;
    Fahnen von Scharlach,
    Lachen, Wahnsinn, Trompeten.


    (Georg Trakl)


    Das sind dem Expressionismus zugehörige, weil sich ihres evokativen Potentials in expressiver Weise entäußernde Verse. Die lyrischen Bilder evozieren eine verstörte Welt. Zwei wie grelle Signale daherkommende Bilder wirken prägend, weil sie wiederkehren: Die Trompeten und die Fahnen von Scharlach. In das Bild von „braunen“, also unscheinbaren nicht bunt und lebensfroh gekleideten „Kindern“, die unter „verschnittenen Weiden“ spielen, bricht der Ton von Trompeten ein. Die Assoziation „Militär“ wirkt geweckt. Die Reiter entlang von Roggenfeldern, von denen die zweite Strophe spricht, könnten ihr zugehören, ebenso wie die roten Fahnen, denen mit dem Wort „Scharlach“ ein schneidender Ton verliehen wird. Wie die Trompeten im ersten Bild wirken auch diese Fahnen tief verstörend und beunruhigend. Sie stürzen durch des Ahorns Trauer, sein ruhiges Dahinwelken im Herbst. Ein Bild ist da, von dem Ruhe und Frieden auszugehen scheint; - das von den Hirten. Ihm wird jedoch sofort in der letzten Strophe das wieder tief beunruhigende von den Tanzenden entgegengesetzt, die sich von einer schwarzen Mauer erheben, - Schattenrisse, in die wieder die Fahnen von Scharlach einfallen. Und am Ende werden die Trompeten Teil eines Bildes, in dessen Zentrum der Wahnsinn und irres Lachen stehen.


    Diese Liedkomposition ist für denjenigen, der das Wesen und die spezifische Eigenart von Hindemiths Liedsprache erfassen möchte, insofern von besonderem Interesse, als es erkennen lässt, wie er sich in der Auseinandersetzung mit dem literarischen Expressionismus vom musikalischen Expressionismus des Schönberg-Kreises löst und den Weg zur Neuen Sachlichkeit einschlägt.


    Wäre seine eigene liedkompositorische Intention eine genuin expressionistische, er würde in die Expressivität der lyrischen Bilder Trakls eine ihrerseits expressiv angelegte Liedsprache einbringen, und dies versehen mit den Akzenten, wie sie sich aus der subjektiven Rezeption derselben ergeben. Das aber ist nicht der Fall. Das Lied zeigt wieder – wie dies bei allen anderen Liedern des Opus 18 in mehr oder weniger ausgeprägter Form der Fall ist – das Arbeiten mit spezifischen, die melodische Linie und vor allem den Klaviersatz prägenden, weil dominierenden musikalischen Motiven, die aus dem Zentrum der lyrischen Aussage hergeleitet sind. In der Hindemith-Literatur findet sich unter Bezugnahme auf diesen Sachverhalt der Begriff „Technik des Klangzentrums“.


    Auch hier – man kennt das ja schon von den sieben vorangehenden Liedern her – taucht das musikalische Hauptmotiv des Klaviersatzes gleich zu Beginn des Vorspiels auf, - das bei diesem Lied bemerkenswert kurz ist, nämlich nur einen Takt umfasst: Es ist ein Quartsprung, der sich dann später zu einem klanglichen Motiv gleichsam auswächst, das aus einer triolischen Kombination aus Quart-und Terzsprung mit nachfolgendem in eine Dehnung mündenden Terzfall besteht. In dieser Form voll ausgebildet vernimmt man das Motiv erstmals in der Pause am Ende der die Verse der ersten Strophe umfassenden ersten Melodiezeile.


    Es ist nicht nur sehr naheliegend, es ist sogar sachlich berechtigt, in diesem klanglichen Motiv den liedmusikalischen Niederschlag des lyrischen Bildes von den „Trompeten“ zu sehen, - Dem ersten partiellen Auftritt hat Hindemith die Vortragsanweisung beigegeben: „Wie ein Signal“. Und nun ist es natürlich hochinteressant, zu verfolgen, wie er dieses „Signal“ liedkompositorisch einsetzt. Da dem Bild von den „Trompeten“ bei Trakl ein gleichsam verstörend-destruktives Potential innewohnt, müsste dergleichen auch im Hindemiths Komposition auf diese Verse zu vernehmen sein. Und so ist es auch. Das Motiv hat unüberhörbar die Funktion einer sowohl klanglichen wie rhythmischen ruhigen, weil statisch angelegten Klanglichkeit.


    Im eintaktigen Vorspiel ist dies – freilich erst in elementarer Form – zu vernehmen. Das Klavier schlägt pianissimo einen nur mäßig dissonanten, weil aus den Tönen „As-Es-B-Es-As“ (einer Kombination von Quinte und Quart also) gebildeten und den ganzen Takt über gehaltenen Akkord an, aus dem sich der in eine Dehnung mündende Quartsprung im Diskant herausschält. Er besteht aus den Tönen „H“ und „E“ und stellt deshalb eine dissonante Störung der Ruhe dar, die vom Klavierbass ausgeht. Hindemith hat den Klaviersatz so angelegt, dass er im Bassbereich ausschließlich von z.T. sehr lang gehaltenen (ganze und halbe Noten und Legato-Bindungen über die Taktgrenzen hinweg) klanglich geprägt wird. Der Anfangs-Akkord taucht insgesamt noch acht weitere Male auf. Das in der Aufstiegsbewegung triolisch angelegte und dann in eine Dehnung mündende Signalmotiv entfaltet darin eine permanent anwachsende rhythmische und klanglich dissonante Verstörung, vor allem deshalb, weil es immer häufiger auftritt und die melodische Linie auf den Worten der dritten Strophe – mit dem Bild von den Hirten und den Hirschen – in permanenter Aufeinanderfolge im Diskant begleitet. Und es klingt auch noch mehrfach in signalhafter Weise nach, nachdem die Singstimme schon lange im Pianissimo verstummt ist.


    Ruhige Bewegung zeichnet die Melodik dieses Liedes aus, allerdings eine, in deren durchweg vorherrschendes Piano und Pianissimo sich immer wieder einmal ein kurzer expressiver Ausbruch in Gestalt eine Aufstiegs in hohe Lage mit Dehnung dort und nachfolgendem Fall ereignet, dies allerdings nur drei Mal verbunden mit einem Anwachsen der Dynamik hin zum Forte-Bereich. Bei den Worten „Unter verschnittenen Weiden“ setzt die melodische Linie in silbengetreuer Deklamation auf nur einer tonalen Ebene (einem „As“ in mittlerer Lage) ein und senkt sich nach einem Sekundsprung um eine Terz ab. Auch bei den beiden nächsten Versen der ersten Strophe neigt sie dazu, auf der gerade eingenommenen tonalen Ebene deklamatorisch zu verharren. Erst bei den Worten „und Blätter treiben“ beschreibt sie einen ersten Septsprung und bei „tönen Trompeten“ geht sie, das lyrische Bild reflektierend, in eine Aufwärtsbewegung über. Und dies ist exakt die des Trompetensignals im Klaviersatz: Die triolische Kombination von Quart- und Terzsprung mit nachfolgender, aus einem Terzfall hervorgehender Dehnung. Nur ist sie hier länger als in der Klaviersatz-Figur, weil sie sich über die beiden letzten Silben des Wortes „Trompeten“ erstreckt.


    Mit lang gehaltenen, vorwiegend sich in Moll-Harmonik bewegenden tiefen Akkorden hat das Klavier bislang begleitet, nun aber setzt es in der Pause der Singstimme gleich zwei Mal sein Trompeten-Signal dissonant in sie hinein, das wie ein Nachklingen der melodischen Linie anmutet. Diese verbleibt dann bei den Worten „ein Kirchhofsschauer“ in sehr tiefer Lage und senkt sich darin auch noch in Sekunden zu einem sehr tiefen „H“ ab. Wieder begleitet sie das Klavier hier mit seinem Signalton. Nach einer fast eintaktigen Pause kommt nun aber etwas mehr Bewegung in die melodische Linie: Sie greift das hochexpressive Bild von den „Fahnen von Scharlach“ auf, die durch „des Ahorns Trauer“ stürzen. Und bezeichnend ist, in welchem Grad der Zurückhaltung in ihren expressiven Möglichkeit sie dies tut, - ganz der kompositorischen Grund-Intention Hindemiths entsprechend: Ihre Bewegung bleibt im Wesen ruhig, durchläuft aber nun einen größeren tonalen Raum, den einer None nämlich, und sie beschreibt dabei zweimal einen Fall über eine Septe. Die Dynamik steigt dabei über eine Crescendo in den Forte-Bereich an, und das Klavier begleitet, nun von seinen lang gehaltenen Akkorden abgehend, mit einer Folge von vierstimmigen Akkorden im Wechsel von Werten einer Viertel-und einer halben Note. Bei dem Wort „Trauer“ erklingt freilich wieder die Signalfigur über einem Lang gehaltenen Akkord, den sie, da er konsonant angelegt ist, mit ihren Dissonanzen klanglich stark stört.


    Das Bild von den „Reitern entlang an Roggenfeldern“ löst im Klaviersatz lebhafte Bewegungen aus. Zweimal erklingt eine akkordische Figur aus zwei Sechzehnteln, die wie der Vorschlag zu einer triolischen Achtel-Folge wirken. Dazwischen eingelagert ist wieder die Signal-Figur, und bei dem Wort „Roggenfeldern“ geht diese mezzoforte in oktavische Gestalt über. Auch die melodische Linie entfaltet nun stärkere Expressivität. Aus langen Dehnungen in hohen Lagen beschreibt sie erst einen Fall über eine ganze Oktave und danach einen schrittweisen Abstieg über eine veritable Undezime, dies allerdings über einen neuerlichen, nun gedehnten Oktavfall am Ende bei dem Wort „Mühlen“, den das Klavier in drei Schritten in Diskant und Bass mitvollzieht.


    Damit hat das Lied aber seinen Höhepunkt an Expressivität erreicht, die allerdings, gemessen an der des lyrischen Textes immer noch sehr verhalten bleibt und nur bei der über ein extremes Intervall erfolgenden Fallbewegung der melodischen Linie bei den Worten „leeren Mühlen“ noch ein letztes Mal kurz in den Forte-Bereich vordringt. „Sehr zart“ soll die melodische bei dem Bild von den Hirten vorgetragen werden. Die Liedmusik leitet es in der Pause für die Singstimme mit einer in konsonante Moll-Harmonik gebetteten kurzen triolische Melodie im Klavierdiskant ein. Die überaus ruhig sich entfaltende und bei den Worten „des Hains“ in eine lange Dehnung in hoher Lage übergehende melodische Linie begleitet das Klavier zunächst wieder mit seinen lang gehaltenen tiefen Moll-Akkorden, lässt zwar danach wieder seine Signal-Figur erklingen, nun aber sehr gedämpft, weil in tiefer tonaler Lage artikuliert und geht dann zu einer permanenten Abfolge dieser Figur im Wechsel mit einem triolischen Sekundsprung in hoher Diskantlage über. Man vernimmt das wie eine leichte Störung dieses Hirtenbildes im Aufgreifen der von Trakl angefügten Worte „uralte Trauer“.


    Das Signal-Motiv begleitet die Singstimme auch in permanenter Folge bei der Deklamation der Worte „Tanzende heben sich von einer schwarzen Mauer“, die auf einer ruhig sich in Dehnungen entfaltenden melodischen Linie erfolgt. Vor den beiden letzten Versen erklingt in der zweitaktigen Pause für die Singstimme noch einmal das Motiv, mit dem das Lied im Vorspiel einsetzt. Die hochgradig evokative sprachliche Gestalt mit ihren kontextlos hingesetzten signalhaften Worten wird von der Liedmusik mit kleinen, durch Pausen voneinander abgesetzten Melodiezeilen aufgegriffen, denen jegliche sich nach außen richtende Expressivität abgeht. Die melodische Linie wird durchweg pianissimo, ja bei dem Wort „Wahnsinn“ gar „ppp“ vorgetragen, und sie besteht drei Mal aus einer Fallbewegung
    , die sich aus der Deklamation auf einer tonalen Ebene heraus ergibt. Bei dem Wort „Wahnsinn“ ist dies freilich eine, die über eine None erfolgt und stark gedehnt ist.


    Das Klavier begleitet mit lang gehaltenen fünfstimmigen Akkorden und lässt in den Pausen zwischen den Melodiezeilen wieder sein Signal-Motiv erklingen. Auf diesem deklamiert die Singstimme dann auch das letzte Wort „Trompeten“, nur dass die Fallbewegung am Ende nun nicht aus einer Terz besteht, sondern aus einer in extrem tiefe Lage sich erstreckenden Oktave. Mit einer Folge des Signal-Motivs, das sich aus Einzeltönen zu Quinten erweitert, klingt das Lied im Nachspiel aus.

  • Gewiss hat Werner Oehlmann (in Reclams „Liedführer“) so unrecht nicht, wenn er bei den Liedern des Opus 18 von “zum Teil leicht hingeworfenen Bagatellen, Spielereien mit neuen, noch unverbrauchten Klängen, mit Quintsextakkorden und Septimenparallelen“ spricht und hinzufügt, dass dies damals „frappieren“ konnte, heute aber „verblasst“ sei.


    Das mag für einige dieser Lieder in der Tat zutreffen, es gibt in diesem Opus aber auch welche, die eine gewichtige liedmusikalische Aussage aufweisen und ihre Rezipienten darin anzusprechen vermögen.
    Das letzte, hier gerade vorgestellte Lied gehört – aus meiner Sicht – ganz sicher dazu. Vielleicht ist es gar das bedeutendste unter diesen acht Liedern. Eine Komposition, die liedmusikalisch viel zu sagen hat und deshalb zu beeindrucken vermag, ist aber auch die Nummer sechs dieses Opus mit dem Titel „Du machst mich traurig – hör´“, dies deshalb, weil die lyrischen Aussagen in ihrer Bereicherung durch das evokative Potential der Musik in ihren bedrückenden Dimensionen gesteigert wirken. Ist es Zufall, dass die zugrundeliegenden Texte in beiden Fällen von bedeutenden Lyrikern stammen?
    Gar gern wüsste ich, wie die Freunde und Liebhaber des Kunstliedes hier im Forum das sehen und wie sie diese Hindemith-Lieder beurteilen.

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  • Dem Zyklus „Das Marienleben“, op.27, liegt der gleichnamige Gedicht-Zyklus von Rainer Maria Rilke zugrunde, den dieser zwischen dem 15. und 22. Januar 1912 auf Schloß Duino (Adria) verfasste. Es handelt sich dabei ohne Frage um das bedeutendste liedkompositorische Werk Hindemiths, und es wurde, als dieser es im Jahre 1924 veröffentlichte, sogleich als ein repräsentatives Werk der Neuen Musik wahrgenommen und eingeschätzt. Entstanden ist es 1923. Was Hindemith dazu bewogen haben mag, zu diesem Zyklus Rilkes zu greifen, ist nicht mit Sicherheit auszumachen. Vielleicht fand er sich in der zentralen dichterischen Aussage des Werkes wieder, in dessen Zentrum der – wie Rilke es selbst ausgedrückt hat – „grenzenlose, nirgends mehr eingeschränkte Entschluß eines Menschen zu seiner reinsten inneren Möglichkeit“ steht.
    Auf jeden Fall ist es als kompositorisch bedeutsames Dokument von Hindemiths musikalisch-künstlerischer Grundhaltung zu verstehen und zu bewerten. Es handelt sich hier um mehr als nur, wie H. Mersmann („Die moderne Musik seit der Romantik“) meint, um das „Ende eines impressionistischen Zugangs zu Rilke“, sondern, um „das Ende einer kurzen und – in Deutschland – heftigen Phase des Expressionismus. Der Weg zur >Objektivierung< war frei.“ (Andreas Meyer, in: „Musikalische Lyrik).


    Im Jahre 1948 legte Hindemith dann eine Neufassung dieses Zyklus vor, an der er seit 1936 immer wieder mehr oder weniger intensiv gearbeitet hatte. Was ihn dazu bewog, hing im wesentlichen mit der Weiterentwicklung seines liedkompositorischen Konzepts zusammen, das ja mit einer Abwendung vom Konzept des romantischen Klavierliedes als subjektive Interpretation des lyrischen Textes einsetzte. Das war ihm in der ersten Fassung ganz offensichtlich nicht konsequent genug realisiert, und tatsächlich handelt es sich bei der Neufassung um ein neues Werk, das nur noch wenig mit dem alten gemein hatte. Nur wenige Lieder wurden unverändert aufgenommen, die meisten aber tiefgreifend verändert. Das soll bei der Vorstellung der Lieder im einzelnen aufgezeigt werden.


    In seinem Kommentar zur Neufassung kritisierte Hindemith an der Erstfassung u.a.:
    „Die alte Fassung war im wesentlichen eine Reihe von Gesängen, zusammengehalten durch den Text und die in voranschreitende Handlung, darüber hinaus aber keinem kompositorischen Gesamtplan folgend. Kein übergeordneter Drang nach Ordnung suchte dieses Potpourri so zu verdichten und eindringlich zu machen, daß allein die rein formale Seite der Komposition dem Hörer schon einen erhöhten ästhetischen Genuß hätte bereiten können. (…)
    Die fünfzehn Lieder ordnen sich jetzt in vier deutlich voneinander getrennte Gruppen. Die erste Gruppe endet mit dem vierten Liede, der >Heimsuchung<, und in ihr sind alle Lieder vereint, die in lyrischer (Lieder 1, 3, 4) und epischer Weise (Lied 2) das persönliche Erleben Marias behandeln. Die zweite Gruppe enthält die dramatischeren Gesänge vom >Argwohn Josephs< bis zur >Hochzeit zu Kana< (…). In Ihnen wird eine Fülle von Menschen, Handlungen, Landschaften und Umständen gezeigt, und nur im letzten dieser Lieder tritt unsere Haupthandelnde wieder aktiv auf. In der dritten Gruppe sehen wir Maria als Leidende. In dieser Gruppe wird nach größter Intensität des Ausdrucks, nach der Erregung sublimster Seelenstimmungen im Zuhörer gestrebt. In der vierten Gruppe erreichen wir den Punkt, wo in höchster Abstraktion fast nur noch rein musikalische Ideen und Formen sprechen: ein Epilog, in dem Menschen und Handlungen keine Rolle mehr spielen.“


    In seinem Bestreben, dem traditionellen Klavierlied, dessen kompositorisches Konzept er als romantischen Subjektivismus ablehnte und nicht mehr zeitgemäß fand, zielt die Liedmusik nicht auf das Erfassen und klangliche Ausloten der emotionalen Ebene des lyrischen Textes und seiner Metaphorik ab, sondern setzt schon in der ersten, aber erst recht in der zweiten Fassung an seiner sprachlichen Struktur und seiner Semantik an. Die Musik lässt sich nicht in der Absicht, seine semantische Tiefe auszuloten, interpretierend auf den lyrischen Text ein und unterwirft sich ihm gleichsam dabei, sie tritt ihm vielmehr als eigenständiges künstlerisches Gebilde gegenüber, - ein Gebilde, das zwar einen deutlich ausgeprägten Bezug zum lyrischen Text aufweist, sich darin aber als autonomes musikalisches Werk präsentiert und daraus seine künstlerische Aussage gewinnt. Sie gewinnt sie, so könnte man die spezifische Eigenart dieses liedkompositorischen Konzepts auf einen Punkt bringen, geradezu aus diesem Dualismus zwischen lyrischem Text und aus der auf ihn bezogenen Musik.


    In Hindemiths Worten stellt sich dieser Sachverhalt so dar:
    „So wie die Musik vom Textwort genährt, angetrieben, erfüllt und über die Sphäre reinmusikalischer Schönheit und Glaubwürdigkeit hinausgehoben wird, so soll auch umgekehrt ein reinmusikalisches Einwirken rückwirkend das Wort durchleuchten, ahnungsvoll machen und nun seinerseits auf eine Ebene heben, die Worten allein nicht erreichbar ist.“


    Weil er das Lied in diesem Sinne als autonomes musikalisches Werk sieht, ist für ihn der Aspekt der „tonalen Anlage der Stücke“ von besonderer Wichtigkeit. Dabei geht er von der „alten Gleichung Tonart=Gefühlsausdruck“ aus. Tonarten können für ihn – und darin vertritt er eine im achtzehnten und anfänglichen neunzehnten Jahrhundert weit verbreitete musikästhetische These - ganz bestimmte Emotionen im Hörer auslösen, was zur Folge hat, dass es in den Liedern dann feste Zuordnungen einer „Tonalität“ zu Personen und inhaltlichen Sachverhalten des lyrischen Textes gibt. Das soll dann im Einzelfall jeweils aufzeigt werden.

  • Für diejenigen, die die nachfolgende Vorstellung und Besprechung der Lieder mitverfolgen möchten, aber über keine eigene Aufnahme des Zyklus verfügen, möchte ich hier einen Link einstellen, damit das bequem möglich ist:


  • O was muß es die Engel gekostet haben,
    nicht aufzusingen plötzlich, wie man aufweint,
    da sie doch wußten: in dieser Nacht wird dem Knaben
    die Mutter geboren, dem Einen, der bald erscheint.


    Schwingend verschwiegen sie sich und zeigten die Richtung,
    wo, allein, das Gehöft lag des Joachim,
    ach, sie fühlten in sich und im Raum die reine Verdichtung,
    aber es durfte keiner nieder zu ihm.


    Denn die beiden waren schon so außer sich vor Getue.
    Eine Nachbarin kam und klugte und wußte nicht wie,
    und der Alte, vorsichtig, ging und verhielt das Gemuhe
    einer dunkelen Kuh. Denn so war es noch nie.


    Die Verse ergehen sich ganz und gar in narrativer Sprachlichkeit. Es wird erzählt und geschildert, und Gegenstand sind Engel und das Gehöft des Joachim, auf dem sich die Geburt Marias ereignete. Die Erzählung reflektiert also den himmlischen Raum und den irdischer Ländlichkeit. Das geschieht im ruhigen Dahinfließen von fünffüßigen Trochäen, in die immer wieder Daktylen eingelagert sind.


    Hindemiths Liedmusik greift diese Eigenart des lyrischen Textes mit einer ruhig sich entfaltenden, gleichsam erzählenden melodischen Linie auf, die, darin den eigentlichen, obwohl gar nicht direkt explizit gemachten Kern des Gedichts reflektierend, die Geburt Mariens also, in einen wiegenden Grundrhythmus gebettet ist. Dem Lied liegt ein Dreivierteltakt zugrunde, und die Vortragsanweisung lautet: „Leicht wiegende Viertel. Durchweg sehr zart und schlicht“. Das Nebeneinander von himmlischer und irdischer Sphäre schlägt sich in der Harmonik in der Weise nieder, dass neben der Tonalität „H“, die den Engeln zugewiesen ist, die Tonalität „G“ tritt, in der die melodische Linie harmonisiert ist, in der es um das Gehöft Joachims geht. Allerdings ist, wenn von „G“ und H“ die Rede ist, nur die Grundtonart gemeint, um die die Harmonik in vielerlei Modulationen und Verminderungen bei wechselndem Tongeschlecht kreist und zu der sie immer wieder zurückkehrt. Die „Tonalität H“ ist für Hindemith „Deuter und Bestimmer“ der Grundtonalität „E“, und er fügt hinzu: „so wie für das irdische Dasein Christi seine Mutter die Voraussetzung ist.“


    Das sechstaktige Vorspiel besteht aus einer Folge von drei- und zweistimmigen Akkorden im Diskant, in der sich eine melodische Linie abzeichnet, die anschließend von der Singstimme übernommen wird. Es gibt zugleich den wiegenden Rhythmus vor, der dadurch entsteht, dass in einem Takt ein Viertel-Akkord auf den im Wert von einer halben Note folgt, der nächste Takt dann aber von drei Viertel-Akkorden ausgefüllt ist. Diese Struktur weist die Begleitung der melodischen Linie aber nur beim ersten und dem Anfang des zweiten Verses und bei den beiden letzten Versen der dritten Strophe auf. Auch das neuntaktige Nachspiel ist in dieser Weise klanglich strukturiert.


    Die melodische Linie der Singstimme ist in dem Sinne wortorientiert, dass sie einerseits in ihrer Grundstruktur den narrativen Gestus des lyrischen Textes reflektiert, - dies in Gestalt großer Melodiezeilen -, andererseits aber auch – in ihrer Binnenstruktur sozusagen – deren jeweilige Semantik in ihrem deskriptiven Gehalt. Bei den ersten beiden Versen der ersten Strophe greift sie den Ausruf „O“ am Anfang in der Weise auf, dass sie anschließend zwei Mal eine Bogenbewegung beschreibt und darin auch noch eine Steigerung im Ausgreifen in höhere Lage vollzieht: Bei den Worten „gekostet“ und „aufzusingen“. Wenn das zentrale Ereignis angesprochen wird, wie das mit den Worten „in dieser Nacht wird dem Knaben / die Mutter geboren, dem Einen, der bald erscheint“ geschieht, entfaltet die Liedmusik deutlich mehr Expressivität. In die melodische Linie treten Dehnungen in hoher Lage, deren Länge sich steigert, und der Klaviersatz geht, nachdem er gerade noch (bei den Worten „wie man aufweint, da sie doch wußten“) aus lang gehaltenen Terzen und Quarten bestand, in eine lebhafte, in hohe Lagen aufsteigende Kette von Achteln über, die dort eine dann eine wellenartige Bewegung beschreiben. Auf den Worten „dem Einen“ liegt eine mit einem Quintsprung einsetzende Dehnung in hoher Lage, die sich über fast drei Takte erstreckt und am Ende in einen kleinen Terzfall übergeht. Die Harmonik bewegt sich hier im Bereich von Cis und Gis, und all das lässt auf eindringliche Weise vernehmen, dass hier erstmals das zentrale Thema des Zyklus angesprochen wird.


    In der zweiten Strophe geht die melodische Linie in den Gestus ruhiger Erzählung über. Sie bewegt sich, nur im Dreiviertel-Takt dadurch leicht rhythmisiert, dass der erste Ton am Taktanfang eine punktierte oder eine halbe Note ist, in mittlerer tonaler Lage und beschreibt nur ganz wenige Ausgriffe in höhere. Diese sind wieder inhaltlich motiviert. Sie ereignen sich nämlich bei dem Namen „Joachim“ und dort, wo die Engel in sich und im Raum „die reine Verdichtung“ fühlten. Hier rückt die Harmonik, die sich vordem im Raum der Tonalität „G“ bewegte, in den Bereich von „As“, und für Hindemith steht diese „Tonalität“ „für unsere Unfähigkeit, Dinge zu begreifen, die jenseits unserer Auffassungsgabe liegen“. Große Ruhe geht in dieser Strophe auch vom Klaviersatz aus. Über lang gehaltenen Akkorden im Bass bewegen sich im Diskant Viertel im Quartintervall auf und ab und erzeugen so die klangliche Anmutung eines geradezu idyllischen Sich-Wiegens der Liedmusik.


    Diese Begleitung behält das Klavier auch am Anfang der dritten Strophe bei, ebenso wie die melodische Linie ihren Gestus des ruhigen Erzählens im Sich-Bewegen auf mittlerer tonaler Ebene. Nur bei dem Wort „Getue“ beschreibt sie einen Terzsprung zu einem gedehnten hohen „Es“ hin. Der Ort, um den diese Verse kreisen, ist ja immer noch das ländlich Gehöft des Joachim. Das ist zwar auch bei den letzten beiden Versen der Fall, aber hier kommt – indirekt – wieder die Aura des Sakralen in sie. Der „Alte“ „verhält“ das „Gemuhe einer dunkelen Kuh“ ja deshalb, weil er spürt: „So war es noch nie“ an diesem Ort. Aus diesem Grund kehrt die Liedmusik auch wieder zu ihren Anfängen zurück. Das Klavier lässt wieder seine wiegende rhythmisierten drei- und zweistimmigen Akkordfolgen erklingen, die melodische Linie bewegt sich nun aber anders, - das lyrische Bild des „vorsichtig Gehens“ reflektierend. Sie verbleibt in ruhigem Dahinschreiten weitgehend auf einer tonalen Ebene, und dies pianissimo. Das Wort „vorsichtig erhält eine eigene kleine, von Viertelpausen abgegrenzte Melodiezeile. Das ist dann am Ende auch bei den Worten „Denn so war es noch nie“ der Fall. Durch zwei jeweils aus einer Sprungbewegung hervorgehende Dehnungen auf „so“ und „nie“ und mit einem lang gehaltenen fünfstimmigen Akkord verleiht sie ihnen das klangliche Gewicht, das ihnen zukommt.

  • Um zu begreifen, wie sie damals war,
    muß du dich erst an eine Stelle rufen,
    wo Säulen in dir wirken; wo du Stufen
    nachfühlen kannst; wo Bogen voll Gefahr
    den Abgrund eines Raumes überbrücken,
    der in dir blieb, weil er aus solchen Stücken
    getürmt war, daß du sie nicht mehr aus dir
    ausheben kannst: du rissest dich denn ein.
    Bist du so weit, ist alles in dir Stein,
    Wand, Aufgang, Durchblick, Wölbung, - so probier
    den großen Vorhang, den du vor dir hast,
    ein wenig wegzuzerrn mit beiden Händen:
    da glänzt es von ganz hohen Gegenständen
    und übertrifft dir Atem und Getast.
    Hinauf, hinab, Palast steht auf Palast,
    Geländer strömen breiter aus Geländern
    und tauchen oben auf an solchen Rändern,
    da dich, wie du sie siehst, der Schwindel fasst.
    Dabei macht ein Gewölk aus Räucherständern
    Die Nähe trüb; aber das Fernste zielt
    in dich hinein mit seinen graden Strahlen -,
    und wenn jetzt Schein aus klaren Flammenschalen
    auf langsam nahenden Gewändern spielt:
    wie hältst du´s aus?


    Sie aber kam und hob
    den Blick, um dieses alles anzuschauen.
    (Ein Kind, ein kleines Mädchen zwischen Frauen.)
    Dann stieg sie ruhig, voller Selbstvertrauen,
    dem Aufwand zu, der sich verwöhnt verschob:
    So sehr war alles, was die Menschen bauen,
    schon überwogen von dem Lob
    in ihrem Herzen. Von der Lust
    sich hinzugeben an die innern Zeichen:
    Die Eltern meinten, sie hinaufzureichen,
    der Drohende mit der Juwelenbrust
    empfing sie scheinbar: Doch sie ging durch alle,
    klein wie sie war, aus jeder Hand hinaus
    und in ihr Los, das, höher als die Halle,
    schon fertig war, und schwerer als das Haus.


    Rilkes ungewöhnlich umfangreiches, balladenhaft anmutendes Gedicht bietet Hindemith zwei Gruppen von Bildern, die ihn liedkompositorisch zu inspirieren und der Musik die entsprechenden Akzente zu verleihen vermögen: Das ist hier der mächtige sakrale Raum des Tempels mit Säulen, Stufen, Aufgang, Wölbung, Räucherständern und all dem Glanz von „ganz hohen Gegenständen“, dort aber das kleine Mädchen Maria, das diesen Raum betritt, kommt, „sich dieses alles anzuschauen“ und durch alles „hindurchgeht“, weil ihre Bestimmung höher ist als all das um sie herum. Seiner Komposition legt er die musikalische Form der Passacaglia zugrunde. Zwei Gründe mögen ihn dazu bewogen haben: Auf der einen Seite repräsentiert der formal geregelte, gleichsam architektonische Bau des Liedes die Anlage des Tempels; auf der anderen Seite bietet ihm das Satzmodell der Passacaglia die Möglichkeit, die Fülle der Bilder und Aussage des lyrischen Textes in eine innere Einheit zu bringen und zugleich über das Prinzip der Variation ihrer inhaltlichen Vielfalt gerecht zu werden. Die zentrale Tonalität, um die die vielen harmonischen Modulationen kreisen und auf die sie hingeordnet sind, ist „C“. Zu ihr merkt Hindemith an: „Die Tonalität C tritt immer dann auf, wenn die Unendlichkeit, das Ewige in unsere Vorstellung eintreten sollen. Sie beherrscht vollständig das zweite Lied (Darstellung) und erklärt und damit, daß die dort beschriebenen Räume, Durchblicke und Wölbungen mehr sind als Teile irdischer Paläste: es ist die Architektur des Universums, die uns hier gezeigt wird.“


    Das Lied setzt ohne Vorspiel ein. Die ersten sieben Takte, in denen die Singstimme die melodische Linie auf den beiden ersten Versen deklamiert, enthalten im Bass das Grundthema der Passacaglia, gebildet aus den Tönen: C-G-As-C-H-Fis-G-B-A-Gis-Cis-Fis-Gis-A-E-Cis-Dis-C. Diesem folgen nun insgesamt siebzehn Variationen im Umfang von jeweils sieben Takten nach, wobei diese Tonfolge vielerlei figurale Veränderungen durchläuft. Der Klaviersatz reflektiert dabei die jeweilige Aussage der melodischen Linie. Es dürfte wenig sinnvoll sein, dies nun in detaillierter Weise aufzuzeigen und nachzuweisen. Stattdessen soll sich der analytische Blick auf besonders markante und für das liedkompositorische Konzept Hindemiths repräsentative Stellen der Komposition richten.


    So ruhig, wie der Klaviersatz im Bass – bei schweigendem Diskant – in der beschriebenen Tonfolge einsetzt, tut dies auch die melodische Linie der Singstimme. Nur bei der Aufforderung „mußt du dich erst“ steigt sie kurz in höhere Lage auf, um dann aber gleich wieder in tiefe zurückzukehren. Schon bei den ersten beiden Variationen (Verse 3-6) wird vernehmlich, in welcher Weise Melodik und Klaviersatz die jeweilige lyrische Aussage reflektieren. Durch in ihrer Lebhaftigkeit sich steigernde Aufstiegsbewegungen, Sprünge und Dehnungen in hoher Lage akzentuiert die melodische Linie die Relevanz der lyrischen Aussage, wie sie sich aus dem religiösen Kerngehalt des lyrischen Textes ergibt. Im Klaviersatz schlägt sich dieses liedkompositorische Konzept in Gestalt klanglich dichterer und größere tonale Räume durchmessender figuraler Bewegungen nieder.


    So beschreibt die melodische Linie bei dem Wort „Säulen“ einen Oktavsprung, auf dem Wort „kannst“ liegt eine Dehnung in hoher Lage, das Wort „Abgrund“ erhält mittels einer den Takt übergreifenden Dehnung auf einem hohen „G“, die dann über einen Sekund- und einen Oktavfall übergeht, einen sehr starken klanglich-melodischen Akzent. Und bei den Worten, „der in dir blieb, weil er aus solchen Stücken getürmt war“ steigt die melodische Linie, die mezzoforte und „marcato“ vorzutragen ist, zwei Mal aus tiefer Lage über das Intervall einer Oktave in hohe Lage empor, um dann bei „Stücken“ einen verminderten Quintfall zu beschreiben, und das Klavier lässt im Diskant a eine chromatisch aufwärts steigende Kette von Achtel-Akkorden erklingen, die am Ende in einen lang gehaltenen vierstimmigen Akkord mündet.


    Die melodische Linie reflektiert in markanter Weise den lyrisch sprachlichen Gestus der Anrede, durch den das Gedicht ja stark geprägt ist, wobei sich der jeweilige semantische Gehalt in ihrer Struktur niederschlägt. So ist sie zum Beispiel bei den Worten „daß du sie nicht mehr aus dir ausheben kannst“ (Vers 7-8) stark rezitativisch angelegt, bei „du rissest dich denn ein“ geht sie jedoch forte und mit Portato deklamiert, in expressiv wirkende Sprünge in Oktavintervallen über und endet in einer den Takt übergreifenden langen Dehnung in hoher Lage auf dem Wort „ein.“ Die Worte „Bist du so weit“ erhalten auch starkes deklamatorisches Gewicht, indem sich die melodische Linie in Viertelnoten-Werten auf nur einer tonalen Ebene bewegt und am Ende wieder in eine Dehnung mündet. Das Klavier begleitet hier im Diskant mit einer bogenförmig steigenden und wieder fallenden Kette von Achteln in hoher Lage.


    Bei den Worten „da glänzt es ganz von hohen Gegenständen“ ((Vers 13, Variation 6) steigt die melodische Linie in gedehnter Form zu einem hohen „As“ empor, hält dort lange inne und beschreibt diese Aufstiegsbewegung dann gleich noch einmal, bevor sie dann dem Wort „Gegenständen“ mittels einer Kombination aus gedehntem Sprung und Fall einen starken Akzent verleiht. Das Klavier begleitet hier mit ebenfalls zwei Mal ansteigenden und wieder fallenden Achtel-Parallelen in Bass und Diskant, also Oktaven.


    Den Höhepunkt an Expressivität erreicht das Lied in den Variationen zehn und elf. Die Dynamik erreicht den Fortissimo-Bereich. Der Klaviersatz ist von einem lebhaften Auf und Ab von dreistimmigen Sechzehntel-Akkorden im Diskant und Oktaven im Bass geprägt, die das Grundthema artikulieren. Auf dem Wort „Flammenschalen“ (Vers 22) liegt ein in hoher Lage (einem G) ansetzender und sich in vier legato zu deklamierenden Sekundschritten vollziehender Sekundfall, der sich über fast vier Takte erstreckt. Bei den Worten „auf langsam nahenden Gewändern“ steigt die melodische Linie, nun mit einem Crescendo in den Fortissimo-Bereich versehen, in Sekundschritten von einem „Cis“ in mittlerer Lage zu einem hohen „As“ empor, wo sie bei dem Wort „Gewändern“ wieder in eine gedehnte Fallbewegung übergeht. All diese hochexpressiven melodischen Bewegungen begleitet das Klavier mit einem wahren klanglichen Wirbel von bis ins dreifache Forte vordringenden akkordischen Sechzehntel-Figuren. Erst bei der Frage „Wie hältst du´s aus?“ kommt wieder relative Ruhe in das Lied.


    Wenn die Liedmusik sich mit den Worten „Sie aber kam…“ (Vers 25) dem Auftreten Marias im Tempel zuwendet (Variation 12), nimmt sie einen Ton an, der im Vergleich zu ihrem gerade erfolgten Ausbruch in stürmische Expressivität geradezu idyllisch anmutet. Die melodische Linie bewegt sich in kleinen, ruhig wirkenden, weil immer wieder von eingelagerten längeren Notenwerten gleichsam gebremsten Schritten in mittlerer tonaler Lage, und das Klavier beschränkt sich im Diskant auf die Artikulation von durch Pausen klanglich isolierten Figuren aus Quinten, Quarten und Terzen, aus denen sich ein Einzelton löst. Wenn der lyrische Text aber von der Beschreibung des Verhaltens Mariae ablässt und sich kurz allgemeinen religiösen Aspekt zuwendet, wie das bei den Versen 30 und 31 der Fall ist („So sehr war alles, was die Menschen bauen…“, Variation 14), werden die melodischen Schritte mit einem Portato deklamiert und der Klavierbass vollzieht jeden einzelnen davon mit.


    Auch bei dem Bild von dem „Drohenden mit der Juwelenbrust“ geht die Liedmusik nicht von der großen Ruhe ab, die nun in sie gekommen ist. Den melodischen Schritten wird nur etwas mehr deklamatorisches Gewicht verliehen, und das Klavier geht im Diskant zur Artikulation einer Folge von Achteln und Vierteln über, die sich vereinzelt zu Terzen, Quarten, Quinten und Oktaven erweitern. Nur bei den Worten „empfing sie scheinbar“ kommt es mit einem Quartsprung mit Dehnung in höherer Lage, der mezzoforte vorgetragen wird, noch einmal zu einem kurzen Ausbruch in gesteigerte Expressivität. Die Worte „klein wie sie war, aus jeder Hand hinaus“ (Vers 38, Variation 17) werden auf einer lieblich anmutenden melodischen Linie deklamiert, die zweimal eine Dehnung in hoher Lage aufweist und vom Klavier mit terzbetonten Akkorden begleitet wird.


    Den letzten Worten, jenen, die vom „Los“ Marias sprechen, das „höher als die Halle“ und „schwerer als das Haus“ ist, wird von der Liedmusik das ihnen angemessene Gewicht verliehen. Das Klavier akzentuiert von ihrer Aussage her wichtige Worte jeweils mit zwei- und dreistimmigen Akkorden. Auf dem Wort „Los“ liegt eine den Takt übergreifende lange Dehnung in hoher Lage. Die letzten Worte („Schon fertig war und schwerer als das Haus“) deklamiert die Singstimme im Wechsel von einer halben und einer Viertelnote silbengetreu auf nur einem Ton, einem „C“ in oberer Mittellage. Das Klavier begleitet im Diskant mit einer Abfolge von Akkorden, die jeweils auf den Taktanfang liegen und denen Einzeltöne nachfolgen. Der Bass artikuliert das Grundmotiv in akkordischer Form, und am Ende, bei dem Wort Haus“ erklingt – erstmals – ein reiner C-Dur-Akkord.

  • Gestern war´s. Das nächste „Marienleben“-Lied stand zur Besprechung an. Ich starrte missmutig auf den Notentext, neben mir das Tamino-Forum auf dem Computer-Bildschirm. Der Gedanke kam mir: Alfred Schmidt sollte die Rubrik „Antworten und Zugriffe“ aus der Themenübersicht herausnehmen. Da bliebe wenigstens Raum für Träume und Illusionen.
    Ich suchte nach einem Buch, von dem ich wusste, dass sich darin eine briefliche Äußerung Hindemiths über sein „Marienleben“ findet, - in der Hoffnung, dass mir das auf die Sprünge helfen würde, konnte es aber nicht finden.
    Da hörte ich plötzlich eine Stimme: „Aufhören nicht gestattet. Und du solltest eigentlich wissen warum.“
    Pflichtbewusst setzte ich fort, was bereits seit einigen Tagen an Vorarbeiten zum nächsten Lied vorlag. Hier ist, was am Ende dabei herauskam.

  • Nicht daß ein Engel eintrat (das erkenn),
    erschreckte sie. Sowenig andre, wenn
    ein Sonnenstrahl oder der Mond bei Nacht
    in ihrem Zimmer sich zu schaffen macht,
    auffahren -, pflegte sie an der Gestalt,
    in der ein Engel ging, sich zu entrüsten;
    sie ahnte kaum, daß dieser Aufenthalt
    mühsam für Engel ist. (O wenn wir wüßten,
    wie rein sie war. Hat eine Hirschkuh nicht,
    die, liegend, einmal sie im Wald eräugte,
    sich so in sie versehn, daß sich in ihr,
    ganz ohne Paarigen, das Einhorn zeugte,
    das Tier aus Licht, das reine Tier -.)
    Nicht, daß er eintrat, aber daß er dicht,
    der Engel, eines Jünglings Angesicht
    so zu ihr neigte; daß sein Blick und der,
    mit dem sie aufsah, so zusammenschlugen
    als wäre draußen plötzlich alles leer
    und, was Millionen schauten, trieben, trugen,
    hineingedrängt in sie: nur sie und er;
    Schaun und Geschautes, Aug und Augenweide
    sonst nirgends als an dieser Stelle -: sieh,
    dieses erschreckt. Und sie erschraken beide.


    Dann sang der Engel seine Melodie.


    Hindemith hat bei der Neufassung der Lieder dieses Zyklus unterschiedlich starke Veränderungen an der Faktur vorgenommen. Beim ersten Lied waren es nur sehr wenige, hier aber, bei „Mariae Verkündigung“ kann man fast von einer Neukomposition sprechen. Darauf kann hier nicht eingegangen werden. Es ist aber wohl sinnvoll, aus dem Kommentar zu zitieren, den er selbst dazu gegeben hat, weil das erkennen lässt, welche musikalische Aussage-Intention er mit diesem Lied verfolgte:


    „Der psychologisch wichtige Moment gegenseitigen Verstehens, wo im Text von >Nicht, daß er eintrat< bis >Und sie erschraken beide< das Ineinanderdringen himmlischer und irdischer Hingabe seinen Ausdruck findet, durfte keinesfalls mehr einer in der ersten Fassung durch gespannte Vorhalt-Auflösungsharmonien zu fast hysterischer Aufregung neigenden zügellösen Komponierlust anheimfallen, ihm mußte seiner geistigen, poetischen und formalen Wichtigkeit entsprechend ein in sich geschlossenes Formstück zugewiesen werden, das durch den ihm aufspringenden metrischen Drang im Hörer ein ähnliches Pulsieren seines Herzens anzuregen vermag.“


    Und das ist in dieser Liedkomposition ja auch gegeben. Sie ist dreiteilig angelegt, mit dem Vers vierzehn („Nicht, daß er eintrat…“) nimmt die Liedmusik einen deutlich ausgeprägt anderen klanglichen Charakter an, mit dem langen Zwischenspiel, das den Worten „Und sie erschraken beide“ folgt, kehrt sie aber wieder zu ihrem Anfangston zurück. Die liedkompositorische Größe des Liedes gründet, ebenso wie die klangliche Faszination, die von ihm ausgeht, in eben dieser inneren Gliederung: Beinhaltet sie doch den Einbruch tiefer Erschütterung in den Raum sakraler Ruhe, wie ihn die mystische Vereinigung des Engels mit Maria im Blick mit sich bringt.


    Das relativ lange (20 Takte) Vorspiel setzt mit einer klanglichen Figur ein, die sich alsbald als musikalisches Schlüsselmotiv des Liedes erweist, denn sie ist durchgehender Bestandteil des Klaviersatzes im ersten und dritten Teil des Liedes, und das Nachspiel, das erklingt, nachdem die Singstimme die Worte „Dann sang der Engel seine Melodie“ deklamiert hat, enthüllt ihr Wesen: Es ist die musikalische Evokation des Engel-Gesangs. Das aber bedeutet: Das mystische Ereignis der Begegnung von Maria mit dem Engel bildet nicht nur das Zentrum des Liedes, es ist von Anfang an gegenwärtig und verleiht allen musikalischen Aussagen ihre ganz spezifische Bedeutsamkeit. Das Motiv besteht aus einer Kombination aus Sekund- und Terzsprung von Achteln, der über einen Terzfall in ein punktiertes Viertel mündet. Im Vorspiel ereignet sich das parallel in Bass und Diskant, in oktavischer Gestalt also, und gewinnt dadurch ein starkes klangliches Gewicht. Auch später geht diese Figur da und dort noch einmal in diese Gestalt über, vor allem im Nachspiel ist das dann der Fall, ansonsten aber ist sie auf die Abfolge von Einzeltönen reduziert.


    Aus diesen Figuren schält sich im Vorspiel eine Folge von Oktaven heraus, die in ihrer Abfolge eine melodische Linie skizzieren. Bevor die melodische Linie der Singstimme auftaktig einsetzt, ereignet sich im Klaviersatz eine Art klangliche Eröffnung: Zweistimmige Akkorde steigen in Diskant auf- und im Bass abwärts und erweitern sich dabei zu dreistimmigen. Die melodische Linie ist anfänglich in ihrer Struktur ganz vom wenig lyrischen, eher narrativen Gestus der Verse geprägt. Sie wirkt, als wäre sie ganz und gar in die in ihrer oktavischen Form klanglich stark dominante Folge der Hauptfigur eingebettet, mit der das Klavier sie begleitet und trägt. Aber schon hier zeichnet sich ab, wie die Liedmusik reagiert, wenn der lyrische Text auf den Engel zu sprechen kommt: Die melodische Linie löst sich von ihrem deklamatorischen Verharren in mittlerer tonale Lage und geht, nun in stärker akzentuierter Deklamation zu größere tonale Räume übergreifenden Bewegungen über, die in Dehnungen in hoher Lage münden, und das Klavier lässt von der Artikulation seiner Hauptfigur ab und lässt lang gehaltene mehrstimmige Akkorde erklingen. So bei den Worten „pflegte sie an der Gestalt, in der ein Engel ging, sich zu entrüsten.“ Und bei den nachfolgenden Worten „sie ahnte kaum, daß dieser Aufenthalt mühsam für Engel ist“ beschreibt die melodische Linie eine aus tiefer Lage sich über eine Dezime nach oben erstreckende Bogenbewegung, die am Ende ist eine Dehnung auf einem hohen „Dis“ mündet, die über zwei Takte gehalten wird.


    Eine ganz eigene Gestalt nimmt die Liedmusik bei den Versen an, die um das Bild von der „Hirschkuh“ kreisen und von Rilke in Klammer gesetzt wurden. Sie ist in kleinere Melodiezeilen gegliedert, die sich an der Syntax orientieren und durch Viertelpausen voneinander abgegrenzt sind. Während die Singstimme deklamiert, schweigt das Klavier entweder, oder es lässt lang gehaltene, Bass und Diskant übergreifende vierstimmige Akkorde erklingen. In den Pausen aber artikuliert es sein musikalisches Hauptmotiv in oktavischer Gestalt, und dieses wirkt wie ein Echo auf die melodische Linie. Mit einem Mal bemerkt man, dass diese am Ende der einzelnen Zeilen ebenfalls in die Struktur dieser Figur übergegangen ist. Nur bei den beiden letzten Melodiezeilen ist dies anders. Bei den Worten „daß sich in ihr, ganz ohne Paarigen, das Einhorn zeugte“ bewegt sie sich zunächst nur auf zwei tonalen Ebenen und geht dann am Ende, bei dem Wort „Einhorn“, zu einem Sprung in hohe Lage mit Dehnung und nachfolgender Fallbewegung über. Das Klavier begleitet hier mit einem nur einmal angeschlagenen vierstimmigen Akkord, der über vier Takte langsam verklingt. Auch die letzte Melodiezeile verleiht dem Einhorn einen starken musikalischen Akzent. Wieder ereignet sich, über gehaltenen Akkorden im Klavier, eine Sprungbewegung in nun noch höhere Lage, und aus der dortigen Dehnung erfolgt ein wiederum gedehnter Quartfall.


    Überraschend ist der Umschlag der Liedmusik in lebhafte Bewegtheit, die sich nun auf der Grundlage eines Dreihalbe-Taktes statt der bisherigen sechs Achtel entfaltet. Überraschend deshalb, weil er nicht mit der Deklamation der Worte „Nicht, daß er eintrat…“ erfolgt, sondern aus dem gedehnten Sekundsprung den die melodische Linie am Ende bei den Worten „das reine Tier“ beschreibt. Das hohe „E“ auf dem Wort „Tier“ wird forte deklamiert, und im selben Augenblick geht das Klavier, ebenfalls forte, zur Artikulation einer nach oben steigenden Folge von Oktaven über, die sich zu dreistimmigen Akkorden erweitern und im Bass von repetierenden Oktaven, Septen und Quinten begleitet werden. Zwei Takte lang ergeht sich das Klavier in dieser stürmisch anmutenden, dabei durch den Wechsel von Achtel- und Viertelnoten markant rhythmisierten Klanglichkeit, bevor die Singstimme dann zur – ebenfalls lebhaften – Deklamation der melodischen Linie übergeht, die auf den Versen mit dem zentralen Ereignis der Begegnung Marias mit dem Engel liegt. Dieser unvermittelte Übergang der Liedmusik aus der, die auf dem Bild vom „Einhorn“ liegt, zu diesem stürmischen Gestus will wohl so verstanden werden, dass die Begegnung mit dem Engel, von dem die Liedmusik nun spricht, einen Menschen betrifft, der rein ist wie das Einhorn, mit dem Maria im Christentum seit dem Physiologus symbolisch in Verbindung gebracht wird. Bemerkenswert ist ja doch, dass die melodische Linie auf den Worten „Nicht, daß er eintrat, aber daß er dicht, der Engel“ genau die Bewegung beschreibt, die die Akkorde des Zwischenspiels in ihrer Abfolge vorgaben.


    Der mystischen Begegnung, bei der sich ja eigentlich um eine im Blick sich ereignende Vereinigung handelt, nähert sich die Liedmusik mit beeindruckender Behutsamkeit. Die Worte „daß sein Blick“ tragen eine eigene kleine Melodiezeile in Gestalt eines Quartsprungs und –falls. Es ist schließlich der Blick des Engels. Der Blick Marias, mit dem sie zu ihm „aufsah“ ist ein demütiger, ein empfangender. Und die melodische Linie reflektiert dies, indem sie bei dem Wort „aufsah“ eine Fallbewegung vorwiegend in Sekunden über das Intervall einer kleinen Sexte in tiefe Lage beschreibt. Das Wort „so“ trägt eine lange Dehnung in hoher Lage. Zu dem Wort „zusammenschlugen“ hin ereignet sich aber ein verminderter Quintfall, und erst danach steigt die melodische Linie wieder an. Das Klavier begleitet all das mit Achtelfiguren in Bass und Diskant, die häufig bogenförmig angelegt sind, also aus einem Aufstieg wieder in eine Fallbewegung übergehen. Hindemith nimmt diesen für seine Liedkomposition zentralen Vorgang als ein letztlich unbegreifliches Geschehen, bei dem sich die Liedmusik mit vorsichtig-deskriptiven Andeutungen begnügen muss.


    Anders ist das, wenn es um das Verständnis dieses Vorgangs geht, seine theologische Interpretation, wie sie die Verse „und, was Millionen schauten, trieben, trugen, / hineingedrängt in sie: nur sie und er;“ zum Ausdruck bringen, Die melodische Linie beschreibt hier einen fast dramatisch anmutenden Aufstieg aus tiefer Lage in hohe, in den das Klavier am Ende mit einer im Bass nach oben drängenden Achtelkette einfällt. Bei den Worten „nur sie und er“ geht sie dann in zwei Dehnungen über, wobei die erste, die auf dem Wort „sie“ nur die Länge einer punktierten halben Note einnimmt, die auf dem Wort „er“ aber fast zwei Takt in Anspruch und forte vorgetragen wird. Das Klavier begleitet diese hochexpressive Passage des Liedes mit zweistimmigen Achtelakkord-Folgen im Diskant und permanent aus der Tiefe in mittlere Lagen emporschießenden Achtelketten.


    Die Liedmusik auf den Versen 21 bis 23 („Schaun und Geschautes“) wirkt wie ein klanglich gewichtiger Kommentar zu dem, was sie gerade in ihrem Sich-Einlassen auf das lyrische Zentrum zum Ausdruck brachte. „Etwas breiter“ soll sie hier vorgetragen werden. Und in der Tat: Sie bewegt sich in deklamatorisch silbengetreu erfolgenden gewichtigen Schritten von halben und Viertelnoten. Auf dem Wort „Schaun“ liegt gar eine Dehnung in hoher Lage, die den ganzen Takt ausfüllt. Die Worte „Aug“, „Augenweide“ und „Stelle“ erhalten durch eine Dehnung in hoher Lage einen starken melodischen Akzent. Das Klavier trägt seinerseits dazu lang gehaltene Oktaven im Bass und im Diskant – bei der Melodik zu Vers 21 – eine durch zusätzliche melodische Schritte erweiterte Variation des Grundmotivs bei. Auf den Worten „sieh“, „dieses erschreckt“ und „und sie erschraken“ liegt je eine eigene, durch Pausen abgesetzte Melodiezeile, die bei „erschraken“ eine am Ende in einen verminderten Terzfall mündende lange Dehnung trägt.


    Damit ist der Kommentar aber noch nicht zu Ende. Ein siebzehntaktiges Nachspiel folgt, das sich aus dem zentralen Grundmotiv des Liedes generiert und es in vielfältiger Weise variiert. Und am Ende erklingt, von einem einmal angeschlagenen Akkord aus den Tönen „B-E-F-C“ begleitet, die gewichtig deklamierte, bei dem Wort „Engel“ in einer Dehnung aufgipfelnde, bei „seine“ und „Melodie“ auf einer tonalen Lage verharrende, am Ende dann aber doch in einen gedehnten Terzfall mündende melodische Linie auf dem Schlussvers: „Dann sang der Engel seine Melodie.“ Im Nachspiel macht sie das Klavier vernehmlich: Eine in hohe Lage aufsteigende Folge des Grundmotivs.

  • Lieber Helmut,
    ich bin sehr dankbar, dass Du diese Stimme gehört hast.
    Vermutlich bist Du einer der wenigen denen es gegeben ist zum (Kunst-)Lied und zu Hindemith im Besonderen hinzuführen. Dass Du Deine Betrachtungen aufschreibst und fürs Forum überarbeitet bei Tamino veröffentlichst schätze ich sehr. Mir macht es jeweils Freude zu sehen, dass es in den von Dir betreuten Threads wieder neue Betrachtungen gibt (manchmal muss ich jedoch mit Lesen etwas zuwarten, einfach weil die nötige Muße fehlt).
    Zur Vertonung von "Du machst mich traurig" hatte ich bei Youtube eine Aufnahme gefunden (persönlich fand ich sie ansprechend, wusste einerseits jedoch nicht, ob Du bei der Besprechung absichtlich nicht darauf verwiesen hattest und es mir auch nicht so ganz passend schien, den link während der Besprechung des Marienlebens einzustellen).
    Mit freundlichen Grüßen, quodlibet

  • Selbstverständlich ist das „passend“, liebe quodlibet, hier, mitten in der Besprechung des „Marienlebens“ noch einmal auf das Lied „Du machst mich traurig“ aus op.18 einzugehen. Das ist schließlich alles Hindemith- Liedmusik, und es gibt für jemanden wie mich, der versucht, sie hier vorzustellen – was in diesem Fall ein harter Brocken ist! – nichts Schöneres, als wenn er erfährt, dass von einem anderen Menschen mitgelesen und mitgehört wird und sogar eine Äußerung dazu erfolgt. Ich danke Dir dafür!
    Mit der Aufnahme bei YouTube meinst Du vermutlich diese:



    Ich hatte sie nicht entdeckt, weil mir, wenn ich den Titel des Liedes eingebe, eine Aufnahme von Hindemith-Liedern präsentiert wird, in der das Lied gar nicht vorkommt. Nun habe ich mir sie angehört, und ich stimme Dir darin zu, dass die Interpretation durchaus gelungen ist. Sängerin und Pianist realisieren das klangliche Wesen dieses Liedes sehr gut. Vor allem wird der wesenhaft existenziell motivierte Ausbruch der Liedmusik in hohe klangliche Expressivität bei der Frage „hast du mich lieb?“, und das nachfolgende Zurückgeworfen-Sein des lyrischen Ichs in der Frage „was tust du mir in meiner Todesstunde?“ sehr eindringlich herausgearbeitet und vorgebracht. Das ist übrigens, wie mir in diesem Zusammenhang wieder einmal bewusst wurde, eines von den Hindemith-Liedern, die mich sehr anzurühren vermögen. Und das liegt natürlich am zugrundeliegenden lyrischen Text und dem, was die Liedmusik daraus zu machen verstand.


    Dieses Gedicht von Else Lasker-Schüler hat, wie ich bei meiner Suche nach einer Aufnahme bei YouTube feststellte, auch eine junge Pop-Musikerin namens Mieze Katz zu einem Song inspiriert:




    Das Hintereinander-Hören der beiden Aufnahmen wurde für mich zu einem seltsamen und höchst aufschlussreichen Erlebnis. Hier eine Musik, die den lyrischen Text in seiner Aussage mit schierem Schönklang regelrecht zumüllt, dort eine, die die Aussage in all ihren semantischen und vor allem seelischen Dimensionen erschließt und die Abgründe vernehmlich, ja erlebbar werden lässt, die sich hinter der Frage auftun, auf die in diesem Gedicht alles zuläuft: „Was tust du mir / In meiner Todesstunde?“.

  • Noch erging sie´s leicht im Anbeginne,
    doch im Steigen manchmal ward sie schon
    ihres wunderbaren Leibes inne, -
    und dann stand sie, atmend, auf den hohn


    Judenbergen. Aber nicht das Land,
    ihre Fülle war um sie gebreitet;
    gehend fühlte sie: man überschreitet
    nie die Größe, die sie jetzt empfand.


    Und es drängte sie, die Hand zu legen
    auf den andern Leib, der weiter war.
    Und die Frauen schwankten sich entgegen
    und berührten sich Gewand und Haar.


    Jede, voll von ihrem Heiligtume,
    schützte sich mit der Gevatterin.
    Ach der Heiland in ihr war noch Blume,
    doch den Täufer in dem Schoß der Muhme
    riss die Freude schon zum Hüpfen hin.


    Das Lied hat die in Lukas 1,39 berichtete Episode zum Gegenstand, in der Maria ihre Verwandte Elisabeth besucht („Visitatio Mariae“), die selbst im sechsten Monat mit dem späteren Johannes dem Täufer schwanger war, um mit dieser die Freude über die Schwangerschaft zu teilen. Elisabeth soll sie begrüßt haben mit den Worten: „Gesegnet bist du mehr als alle anderen Frauen und gesegnet ist die Frucht deines Leibes. Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?“.


    Auch hier weist das Lied in seinem Klaviersatz ein zentrales Motiv auf, aus dem heraus dieser sich gleichsam entfaltet und die klanglichen Akzente bezieht, die er der Aussage der melodischen Linie der Singstimme verleiht. Man kennt es vom ersten Lied her: Es ist das Marien-Motiv. Allerdings begegnet es einem hier nicht in akkordischer Gestalt, sondern gleichsam klanglich ausgefaltet in einer Bewegung von Achteln. Gleich am Anfang des dreitaktigen Vorspiel erklingt es, - wie das eigentlich die Regel bei Hindemith ist: Eine Kombination aus kleinem Sextsprung und Terzfall geht in ein zunächst leicht fallendes Auf und Ab in Sekundschritten über. Dieses Motiv erklingt immer wieder einmal in dieser Grundform, und zwar insgesamt, nach dem Vorspiel, noch weitere fünf Mal. Es wird aber überdies in vielerlei Weise variiert und harmonisch moduliert, in seinen Intervallen leicht verändert, in andere klangliche Figuren integriert oder komprimiert. Die permanente Gegenwart in der Vielfalt seiner Escheinungsformen macht wohl ganz wesentlich den Reiz aus, der von diesem Lied ausgeht, und es zeigt überdies, dass der Klaviersatz der eigentliche Gegenstand von Hindemiths Liedkomposition ist, ihren substanziellen Kern darstellt.


    Nicht dass die melodische Linie der Singstimme von sekundärer Relevanz wäre. Diese hat sie durchaus in ihrer Funktion, den lyrischen Text zu tragen und dessen Semantik und Metaphorik in ihrer Struktur zu reflektieren und zu akzentuieren. Ihr kommt darin freilich keine dominante Rolle im Satz des Liedes zu, eher wirkt sie wie ein integraler Bestandteil desselben. Dass das Klavier im Diskant oder auch im Bass zuweilen der melodischen Linie in ihren Bewegungen folgt, ist sozusagen klassischer Bestandteil des romantischen Klavierliedsatzes. Bei Hindemith scheint es aber eher umgekehrt zu sein: Die melodische folgt in ihren Bewegungen den klanglichen Figuren des Klaviersatzes oder greift sie später auf.


    Man kann das in diesem Lied gleich am Anfang vernehmen. Die melodische Linie auf den Worten „doch im Steigen manchmal ward sie schon ihres wunderbaren Leibes inne“ stellt zwar eine komplexe, in der Tendenz aufwärts gerichtete Bewegung von Achtel- und Viertelnoten dar, reduziert man diese aber auf ihre Grundstruktur, dann bildet diese die thematische Grundfigur des Liedes ab, wie sie das Klavier im Vorspiel vorgegeben hat. Es begleitet die melodische Linie bei dieser Zeile zwar mit Achtel-Figuren in Bass und Diskant, aber in der nachfolgenden halbtaktigen Pause der Singstimme lässt es wieder sein Grundmotiv erklingen, und das tut es auch in der Pause, die auf die kleine Melodiezeile folgt, die auf den Worten „und dann stand sie“ folgt. Hier ist die Fallbewegung dieser Figur freilich als Quintole ausgeweitet, und in dieser Gestalt erklingt sie gleich noch zwei Mal während die Singstimme die Worte „atmend auf den Judenbergen“ deklamiert. Das geschieht auf einer zunächst leicht fallenden, dann aber bei „Judenbergen“ in einer Dehnung in hoher Lage aufgipfelnden melodischen Linie. Bemerkenswert ist aber, dass sich noch innerhalb des Wortteils „Juden-„ ein verminderter Septfall ereignet, der sofort wieder in einen Quartsprung übergeht. Wie ist dieser melodische Akzent zu verstehen?


    Vielleicht einfach als klangliche Konkretion des Stehens, von dem der lyrische Text hier spricht. Ohnehin weist die Liedmusik bei der ersten Strophe in ihrer Untergliederung in kleinere Melodiezeilen die Anmutung schildernden Erzählens auf. Auf jeden Fall aber kommentiert das Klavier das in der Pause für die Singstimme nun wieder mit der Originalform des Grundmotivs, dieses Mal sogar in der ausführlichen, d.h. mit Nachspiel versehenen Form, wie es am Anfang des Vorspiels erklingt, und leitet damit zur zweiten Strophe über, die sich nicht nur im narrativen Gestus ihrer lyrischen Sprache, als auch in der Liedmusik darauf nicht wesentlich von der ersten unterscheidet. Auch hier gliedert sie sich wieder in kleine Zeilen, die einem in der Struktur ihrer Melodik und des sie begleitenden Klaviersatzes als ein narrativ-deskriptives Verweilen in den einzelnen Situationen und Stationen dieses Wanderweges hin zur „Muhme“ Elisabeth begegnet, einschließlich der religiösen Gedanken und Gefühle, die sich für Rilke um sie herumranken.


    Das ganze Lied entfaltet sich in diesem situativ ausgerichteten erzählenden und schildernden musikalischen Gestus. Bei den Worten „ihre Fülle war um sie gebreitet“ weist die melodische Linie gleich zwei Dehnungen auf, die in einen legato vorzutragenden Quartsprung münden. Bei den Worten „gehend fühlte sie“ kommen hingegen wieder lebhaftere Achtel-Schritte in sie. Das ist auch bei den Worten „und es drängte sie“ der Fall. Bei dem Bild des Hand-Auflegens auf „den andern Leib, der weiter war“ kommt aber wieder etwas mehr Ruhe in die melodischen Bewegungen: Auf den Worten „Hand“ und „Leib“ liegen Dehnungen in mittlerer Lage, und gegen Ende dieser Melodiezeile senkt sich die melodische Linie in untere Mittellage ab. Eine fast zweitaktige Pause folgt für sie, die das Klavier wieder für die Artikulation seiner thematischen Grundfigur nutzt, - dieses Mal in einer geradezu artifiziellen Gestalt, einem quartolischen Aufstieg die extrem hohe Lage eines „C“ mit nachfolgender melismatischer, eine Sechzehntel-Figur einschließender Fallbewegung. Dem lyrischen Bild wohnt ein hoher affektiv-emotionaler Gehalt inne.


    Ihren Höhepunkt an Expressivität erreicht die Liedmusik – wer hätte es anders erwartet – bei den letzten drei Versen, in denen es um die beiden Kinder im Mutterschoß geht, - den Heiland und den kleinen künftigen „Täufer“, dem vor Freude schon zum Hüpfen zumute ist. Wieder wird dieses letzte Liedkapitel in einer Singstimmen-Pause vom Klavier mit dem Grundmotiv eingeleitet, dieses Mal aber mit der Folge, dass der Klaviersatz in die Oktav-Region des Diskants springt. Bei den Worten „Ach der Heiland in ihr war noch Blume“ steigt die melodische Linie in relativ raschen Schritten zu einem hohen „E“ auf und verharrt dort in einer Dehnung, der eine Pause folgt. Die Geburt des Heilands steht noch nicht bevor. Das Bild vom kleinen „Täufer“, der bald das Licht der Welt erblickt, beflügelt die melodische Linie aber so stark, dass sie, mit einem Crescendo versehen, von einem tiefen „C“ in Sekundschritten über das Intervall einer Duodezime bis zu einem hohen „G“ emporsteigt und dort forte einen gedehnten Sekundfall beschreibt.


    Aber mitten in diesem Aufstieg hält sie doch noch einmal kurz inne: Bei dem Wort „Freude“ nämlich, in Gestalt einer Dehnung, wobei das Klavier wieder sein Grundmotiv erklingen lässt, das dieses Mal, in extrem hohe Lage aufsteigend, größere Intervalle und einen melismatischen Vorschlag aufweist. Und am Ende deklamiert die Singstimme die Worte „zum Hüpfen hin“ staccato auf einer melodischen Figur, bei der dem legato zu deklamierenden kleinen Terzsprung ein verminderter duolischer Staccato-Quintfall vorausgeht, - klanglich das Wort „Hüpfen“ imaginierend.

  • Und der Engel sprach und gab sich Müh
    an dem Mann, der seine Fäuste ballte:
    Aber siehst du nicht an jeder Falte,
    daß sie kühl ist wie die Gottesfrüh.


    Doch der andre sah ihn finster an,
    murmelnd nur: Was hat sie so verwandelt?
    Doch da schrie der Engel: Zimmermann,
    merkst du´s noch nicht, daß der Herrgott handelt?


    Weil du Bretter machst, in deinem Stolze,
    willst du wirklich den zur Rede stelln,
    der bescheiden aus dem gleichen Holze
    Blätter treiben macht und Knospen schwelln?


    Er begriff. Und wie er jetzt die Blicke,
    recht erschrocken, zu dem Engel hob,
    war der fort. Da schob er seine dicke
    Mütze langsam ab. Dann sang er lob.


    Wie das vorangehende Lied „Mariae Heimsuchung“ so wurde auch dieses bei der Neufassung des Zyklus nur unwesentlich verändert. Die Tonalitäten „F“ und „Des“ spielen in diesem eine wichtige Rolle. Hindemith merkt dazu an: „F, das im Tritonusverhältnis zu H steht, verbindet sich mit allem, das wegen seiner Falschheit und Kurzsichtigkeit uns zu Bedauern und Mitleid zwingt, wie der „Argwohn Josephs“.Cis oder Des als Tonika bezeichnet stets das Unabwendbare, die Starrheit, das Festentschlossene. Siehe (…) Josephs Dickköpfigkeit.“


    „Lebhaft“ soll das Lied vorgetragen werden. Klanglich beeindruckt es durch die sich über einen großen Teil erstreckende Unisono-Führung der Achtel-Bewegungen in Bass und Diskant, denen nur wenige Passagen gegenüberstehen, in denen dort Eigenständigkeit in der Struktur herrscht. Denn außer dem Unisono finden sich auch noch Passagen, in denen die Bewegungen in Bass und Diskant parallel geführt werden. In seiner Gesamtheit stellt der Klaviersatz ein ganz und gar eigenes klangliches Gebilde dar, das man ohne weiteres ohne die zugehörige musikalische Linie der Singstimme aufführen könnte. Im Zusammenspiel mit ihr entfaltet er eine so starke Dominanz, dass man den Eindruck gewinnt, das Klavier wolle durchweg zu dem, was die Singstimme zu sagen hat, das letzte kommentierende Wort behalten.


    Man begegnet in diesem Lied wieder einmal einem Beispiel für Hindemiths konzeptionell liedkompositorisches Denken vom Klaviersatz her. Und hier bringt das eine Komposition hervor, in der eben diese hochgradige Eigenständigkeit des Klaviersatzes im Zusammenspiel mit der Singstimme die zentrale musikalische Aussage zu generieren vermag: Den störrischen Eigensinn des Zimmermanns Joseph, der ihm die Ohren für die Worte des Engels versperrt. Mit einer energischen, forte in Bass und Diskant unisono abgeschlagenen Kombination aus Quartsprung und Quintfall setzt das Vorspiel ein. Und danach geht das Klavier zur Artikulation eines permanenten Flusses von Achteln über, der sich zweimal klanglich zu Sechzehnteln verdichtet und nur ein einziges Mal zwei Takte lang in Gestalt von durch Pausen strukturierte Akkordfolgen unterbrochen wird.


    Es drängt sich geradezu auf, in diesem wie unaufhaltbar wirkenden stürmischen Vorandrängen der Achtel, das bei der ersten und der letzten Strophe ganz und gar unisono erfolgt, eine klangliche Imagination des verstockt-eigensinnigen Joseph zu vernehmen, wie Rilke ihn hier lyrisch skizziert hat. Und wie dieser nicht auf das hört, was der Engel ihm zu sagen hat, so hört auch der Klaviersatz nicht auf die Aussagen der Singstimme. An einer einzigen Stelle nur ereignet sich eine Gemeinsamkeit in der Bewegung von Singstimme und Klaviersatz, und es ist höchst bezeichnend, wo das geschieht: Bei den ersten Worten des Engels nämlich. Wenn er Joseph mit den Worten beschwört „Aber siehst du denn nicht an jeder Falte“, dann geschieht das auf einer in hoher Lage ansetzenden und in Sekunden über das Intervall einer Septe fallenden melodischen Linie. Und diese Bewegung vollzieht das Klavier in Bass und Diskant unisono mit. Ansonsten finden sich zwar Wechselwirkungen zwischen melodischer Linie und Klaviersatz im Sinne einer klanglichen Akzentuierung der Aussage der Singstimme durch das Klavier, sie sind aber nicht sehr zahlreich und wirken wie singuläre Ereignisse.


    Auffällig ist, dass die melodische Linie der Singstimme in ihren Bewegungen, die im Vergleich zum Klaviersatz relativ ruhig wirken, viele Dehnungen aufweist. Da hier vom Engel gesprochen wird, oder der Engel selbst spricht, muss den deklamatorischen Schritten das angemessene Gewicht verliehen werden. Bei den einleitenden Worten „Und der Engel sprach“ liegt auf dem „und“ eine Dehnung im Wert einer halben, und auf dem Wort „sprach“ eine im Wert einer ganzen Note. Die nachfolgende aus tiefer in mittlere Lage aufsteigende melodische Linie auf den Worten „und gab sich Müh an dem Mann“ endet in einer Dehnung im Wert einer punktierten halben Note, und das Bild vom Ballen der Fäuste erhält, da es ja gegenüber einem Engel erfolgt, einen starken melodischen Akzent dadurch, dass auf dem Wort „Fäuste“ eine zwei Takte übergreifende Dehnung liegt, die aus einer bogenförmig fallenden Achtelfigur und einem gedehnten kleinen Terzfall besteht. Und wenn der Engel spricht „daß sie kühl ist wie die Gottesfrüh“, dann liegt nicht nur auf „Gottesfrüh“ eine lange Dehnung, die auf hoher tonaler Ebene verbleibt, sondern auch das einleitende Wort „daß“ trägt eine.


    Joseph, dem sich gegenüber dem Engel Sperrenden, wird eine ganz andere melodische Linie zugeordnet. Die Worte „Doch der andre sah ihn finster an“ werden auf nur einer tonalen Ebene deklamiert, und das staccato. Das Klavier begleitet das mit der ebenfalls staccato artikulierten immer gleichen Figur: Vier in Sekunden nach oben laufenden Achteln. Wenn darauf der Engel „Zimmermann“ schreit, wird die zugehörige melodische Linie mit einer langen Dehnung auf dem Wort „doch“ eingeleitet, dann geht sie in eine höchst gewichtige, weil nur aus halben Noten bestehende Aufwärtsbewegung über, und das Wort „Zimmermann“ wird dann silbengetreu und forte auf drei hohen „Es“ deklamiert, wobei das letzte einen ganzen Takt einnimmt. Das Klavier geht hier zu aufgeregt nach oben schießenden Sechzehntel-Figuren über, und zwar parallel in Bass und Diskant.


    Hohe Expressivität entfaltet das Lied, wenn der Engel den Höhepunkt seines rhetorischen Eindringens auf Joseph erreicht hat, - bei den Worten „Der bescheiden aus dem gleichen Holze Blätter treiben macht und Knospen.“ Die Vortragsanweisung lautet hier „breiter“ und ein Forte ist vorgegeben. Eine lange Dehnung in Gestalt eines Terzfalls in hoher Lage liegt auf dem Wort „Blätter“, auch das Wort „macht“ trägt eine, und in die Dehnung auf dem Wort „Knospen“ ist ein Achtel-Melisma eingelagert. Das ist auch die Stelle, wo das Klavier der melodischen Linie den stärksten akzentuierenden Nachdruck verleiht, - mit einer langsam nach oben steigenden triolischen Sechzehntel-Achtel-Figur im Diskant und lang gehaltenen, dann in Vierergruppen übergehenden Oktaven im Bass.


    Das nachfolgende „Er begriff“ ist in markanter Weise aus der Liedmusik hervorgehoben. In den langen (erst zwei Takte, dann einer) Pausen davor und danach schießen in Bass und Diskant parallel Sechzehntel-Ketten nach oben, und dies auch, während die Singstimme diese beiden Worte auf nur einem Ton, einem „B“ in mittlerer Lage, deklamiert, wobei nur die Silbe „be“ keine Dehnung trägt, die Silbe „-griff“ jedoch eine, die einen ganzen Takt einnimmt. Bemerkenswert aber: Hier herrscht das Piano vor! In der letzten Strophe kehrt das Klavier bei den Worten „zu dem Engel hob“ (Ende zweiter Vers) wieder zu den unisono laufenden Achtel des Liedanfangs zurück. Es wiederholt den dortigen Satz bis einschließlich der Worte „Da schob er seine dicke Mütze langsam ab“. Sie werden auf einer bei „dicke Mütze“ aufsteigenden melodischen Linie deklamiert, die dann aber bei „langsam ab“ in drei Dehnungen auf mittlerer Lage übergeht, - die auf der Silbe „-lang“ erstreckt sich dabei über einen ganzen Takt.


    Und natürlich müssen die Schlussworte „Dann sang er Lob“ eine herausragende Stellung in diesem Lied einnehmen. Sie werden forte auf einer melodischen Linie deklamiert, in der auf jedem Wort eine Dehnung in Gestalt einer ganzen Note liegt, bemi letzten sind es gar zwei. Sie beschreibt dabei erst einen Quartsprung, dem folgt ein Sekundanstieg zu einem hohen „G“, und dann geht sie in einen Quintfall über und klingt auf einem sehr lang gehaltenen „C“ in mittlerer Lage aus. Das Klavier steigt dabei in zwei Anläufen von Unisono-Achtelketten in extrem hohe Lage auf und fällt danach hauptsächlich in Sekundschritten über das Intervall von siebzehn Tonstufen bis in das zweitaktige Nachspiel hinein zu einem tiefen „D“ ab, dem ein kleiner Triller vorgelagert ist.

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