Rauschhafte Interpretationen bachscher Klavierstücke

  • Bach hat, wie im Barock üblich, für Solisten selten exakte Tempovorgaben gemacht, es ist allerdings aus seinem Nekrolog bekannt, daß er selbst wohl tendentiell "lebhaft" spielte, was natürlich nicht mit irgendeinem heutigen Zeitmaß übereinstimmen muß. Nichtsdestotrotz gefällt mir häufig eine schnelle, "rauschhafte" Interpretation besser als eine langsame - wobei es auch Stücke gibt, die mir sehr langsam gespielt besser gefallen, aber um die geht es hier nicht - und vielleicht finden sich hier ja Mitstreiter, die das ähnlich sehen - oder anders.


    Ich möchte anhand ausgesuchter Beispiele zwei bis drei Interpretationen miteinander vergleichen und zu kommentieren versuchen, bei der eine "rauschhaft" ist und zumindest eine nicht.

  • Das erste Beispiel bezieht sich auf Rondo und Capriccio aus der Partita Nr. 2 BWV 826 -


    Martha Argerich legt eine wirklich rauschhafte Interpretation hin:



    Ist das nicht ein wunderbares Feuerwerk? Insbesondere ihre angedeuteten Swing-Einlagen um 2:12 finde ich süß. Die Betonungen sind deutlich, der Rhythmus exakt, jeder Ton fein differenziert. Eine Meisterleistung.

  • Sagitt meint: LEIDER hat sie in ihrer langen Karriere sehr wenig Bach eingespielt oder Live aufgeführt. Für ihren Bach stelle ich glatt Gould ins Regal zurück.


    Gleiches gilt für Pires und Katsaris.

  • Die Alternative kommt hier von Piotr Anderzewski, der beide Stück verhaltener spielt, technisch sicherlich auch sauber, aber eben nicht "rauschhaft".


    , ab 16:16 min


    Insbesondere das Rondo hört sich teilweise etwas "buchstabiert" an.


    Sicherlich eine gültige Interpretation, ich würde sie aber nicht Bekannten vorspielen, die sich einen Eindruck von Barockmusik verschaffen wollen.

  • Lieber Sagitt,


    ich möchte Dir da im Prinzip widersprechen, obwohl Du für diese beiden Stücke Recht hast, Gould ist nicht so berauschend wie Argerich. Aber bei vielen anderen Stücken ist er es.


    , ab 11:55 min

  • Sagitt meint:


    Ich würde den Begriff " Rauschhaft" nicht verwenden. Der Bach von Gould ist für mich eine präzise schwarz – weiß – Aufnahme, von Pianisten wie Argerich, Pires oder Katsaris bekomme ich ein Farbfoto.


    Ist wie immer, nur meine Wahrnehmung.

  • Die Kombination der beiden lebhaften letzten Sätze der c-moll-Partita ist schon ein sehr spezieller Fall, den es so bei Bach meines Wissens auch nicht noch einmal gibt und ich bedaure ebenfalls, dass Argerich nur so wenige Bach-Werke gespielt hat bzw. spielt. Alle Partiten oder Englische Suiten wäre nicht schlecht.


    Obwohl Gould manchmal auf der "trockenen" Seite sein kann, fasziniert mich in seiner Aufnahme der 4. französischen Suite Es-Dur eine ähnliche "kinetische" Steigerung wie beim obigen Beispiel. Er spielt die letzten drei Sätze (Gavotte, Air, Gigue) fast ohne Pause und erzielt durch steigendes Tempo einen kumulativen Effekt, den ich so in keiner anderen Einspielung wahrnehme.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ebenfalls auf Argerich-Niveau: Valentina Lisitsa - Sony gibt mit dem Rondo ein Appetithäppchen.


    , ab 3:15 min


    Wer sich vorher einklinkt, muß sich nicht wundern, wenn er nichts hört - die Marketingabteilung war wohl der Meinung, es hebe die Verkaufszahlen, wenn man einer tonlosen Lisitsa zuschauen dürfe.

  • Bei der DVD Argerich and friends spielen wohl nur die friends. Keinem der Video – Beispiele tritt Frau Argeric mit einem Bach – Konzert auf. Ebenso bedauerlich wie das Fehlen von Solo – Aufnahmen. Einerseits ist das Repertoire der Argerich riesig, andererseits im Kernbereich sehr lückenhaft: Wenig Mozart, wenig Beethoven, sehr wenig Schubert, wenig Brahms...

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  • Das nächste Beispiel ist das Echo aus BWV 831 (Ouvertüre nach französischer Art), gespielt von Alexis Weissenberg, ein recht kurzes Stück, dem Weissenberg aber einen pulsierenden Drive verleiht.


    , ab 24:53 min

  • Das Gegenteil von "rauschhaft" mit künstlich anmutenden Unterbrechungen und Betonungen gegen den Flow ist die folgende Einspielung:



    Scheinbar muß die Interpretin schwer arbeiten. Gibt es jemanden, der diese Interpretation verteidigt?

  • Prädestiniert für eine rauschhafte Interpretation ist natürlich der letzte Satz des Italienischen Konzerts BWV 971 mit dem Namen "Presto", also einer der bei Bach seltenen Tempobezeichnungen.


    Bei "rauschhaften" Stücken geht es aber nicht nur um Geschwindigkeit, sondern auch um etwas, das ich als "flow" bezeichnen möchte, also ein eher gleichmäßiges Strömen ohne unmotivierte Temposprünge. Insofern haben viele Stücke aus dem Nachbarock keinen Flow, weshalb sich solche bei mir minderer Beliebtheit erfreuen.


    Im nächsten Beispiel ist alles vorhanden: Tempo, Flow, Akzentuiertheit, Differenziertheit, die Tugenden guten Klavierspiels:


  • Der sicherlich hervorragende Pianist Andras Schiff setzt in folgendem Beispiel recht ausgeprägt Akzentuiertheit über Flow - und schon gefällt es mir nicht mehr so gut.


    , ab 8:12 min

  • Einen wunderbaren Flow hat Gould, und zwar in den meisten seiner Bach-Interpretationen, bei hohem Tempo und kristallklarer Differenziert verzichtet er auf zu wilde Akzente und macht damit auch alles richtig - es hätte vielleicht ein ganz winziges bißchen langsamer sein dürfen, hier ist deshalb Tomsic die Referenz.


    , ab 10:07 min

  • Sagitt hat Maria Joao Pires schon erwähnt, hier ist sie mit einem Stück, bei dem wieder die Post abgeht, und zwar dem zweiten Satz aus der Partita Nr. 1 BWV 825.


    , ab 1:54 min


    Ebenfalls eine imho großartige Interpretation.


    Unter Rauschaspekten ist auch die Gigue einschlägig, ab 15:20 min, obwohl melodiös etwas simpel gestrickt.

  • Helene Tysman scheint ein anderes Stück zu spielen.


    , 2:00 min


    Schneller spielt sie die Corrente, aber da kriegt sie den Flow nicht so hin.

  • Ivo Pogorelich spielt die zweite Englische Suite BWV 807, und gleich das Präludium ist wieder so ein Sahnestück! Und Pogorelich spielt es ohne Fehl und Tadel.



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  • Nachtrag zum Presto des Italienischen Konzerts:


    Daß es nicht nur um Geschwindigkeit geht, sondern um einen durchaus komplexen Gesamteindruck, zeigt die Einspielung von Martin Stadtfeld, der sich mehr oder weniger selbst überholt - technisch sicherlich nicht schlecht, interpretatorisch aber weit ab von meiner Wahl.



  • Fangen wir bei dem nächsten Stück mal mit der dunklen Seite der Interpretation an - auch hier meint wohl ein Noten-pro-Minute-Maximierer, der Brei, den er anrührt, wäre irgendwie genießbar - und verleiht damit dem Stück einen Rauschindex von 0.


  • Link funktioniert mal wieder nicht......


    Einspruch: Funktioniert doch … :yes:


    Einer der erhabensten Zwecke der Tonkunst ist die Ausbreitung der Religion und die Beförderung und Erbauung unsterblicher Seelen. (Carl Philipp Emanuel Bach)

  • Ich weiß auch nicht wieso das bei mir nicht funktioniert ....ich nutze die Am oder JPC Funktion und gebe die Nummer per Command + V Taste am Ipad ein, sie wird korrekt angezeigt - aber man sieht ja was dabei herauskommt.....


    Jedenfalls Danke für dir Korrektur !


    Kalli

  • Ivo Pogorelich ist bei diesen Musikbeispielen für mich das eine Extrem, Robert Levine das andere. Pogorelich spielt so, dass ein Verständnis der Musik Bachs recht erschwert wird. Dass es trotz dieses hochvirtuosen Nähmaschinenstils doch irgendwo sehr gut klingt, liegt an der unglaublich dichten und hohen Kompositionsqualität bei Bach, die auch bei solchen Versionen immer noch herauskommt. Er macht nicht den Eindruck, dass er besonders viel von dem, was er da zugegeben sehr virtuos und auch beherrscht spielt, wirklich versteht. Genau das Gegenteil wäre da Levine: So gute Englische Suiten habe ich auf dem Klavier noch nicht gehört - wirklich beeindruckend. Dieser Pianist zeigt mit jedem Takt, dass er nicht nur handwerklich hervorragend spielen kann, sonder vor allem eine Menge von seinem Bach versteht. Für mich eine erstaunliche Entdeckung, denn diese Aufnahmen kannte ich bisher nicht.


    LG
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Pogorelich spielt so, dass ein Verständnis der Musik Bachs recht erschwert wird. Dass es trotz dieses hochvirtuosen Nähmaschinenstils doch irgendwo sehr gut klingt, liegt an der unglaublich dichten und hohen Kompositionsqualität bei Bach, die auch bei solchen Versionen immer noch herauskommt. Er macht nicht den Eindruck, dass er besonders viel von dem, was er da zugegeben sehr virtuos und auch beherrscht spielt, wirklich versteht.

    So sehe bzw. höre ich das auch, lieber Glockenton! Pogorelich spielt das aalglatt herunter mit Null Sinn für barocke Stimmenpolyphonie. Was da alles fehlt, hört man z.B. bei der wunderbaren Alicia de Larrocha, deren Bach ich persönlich hinreißend finde - die Aufnahme der 6. Französischen Suite ist in der gezeigten, unbedingt empfehlenswerten Box enthalten und auch bei Youtube zu hören:




    Schöne Grüße
    Holger

  • Interessant! Interessant! Das Tamino-Forum ist doch wirklich eine gute Sache!


    Ich hatte die Aufnahme mit Ivo Pogorelich gehört, als der Link dazu eingestellt wurde (also am 13.März), und ich war höchst angetan davon. Hat mich beeindruckt. Dann las ich den Kommentar von Glockenton gestern und wurde stutzig. Also klickte ich den Link noch einmal an und hörte aufmerksamer hin, - und begriff, dass mein Ohr für Bachs Polyphonie wohl noch nicht genug gebildet ist. Und jetzt, nach dem Anhören der Aufnahme von Alicia de Larrocha, ist mir dann der letzte Rest von Licht aufgegangen.
    Vielen Dank, ihr Kenner und Fachleute! Meine Ohren haben was gelernt.

  • Hallo Glockenton,


    bevor ich zur Verteidigung Pogorelichs ansetze, würde ich Deine Kritik gern noch etwas besser verstehen: mir ist nicht ganz klar, was Pogorelich alles falsch macht, daß Du zu dem Schluß kommst, er hätte Bach gar nicht verstanden. Kannst Du das etwas verdeutlichen?

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