Regisseur Sebastian Ritschel verlegt Alcinas Zaubergarten der Lust in eine Eiswelt. Man sieht halberfrorene und -erstarrte Lustknaben im Winterpelz, die wie Zombies die Zauberin umschwärmen: als Lustobjekte von ihr gleichsam spinnenhaft ausgesaugt und des Lebens beraubt. Lust will „tiefe, tiefe, Ewigkeit“, heißt es in Friedrich Nietzsches Zarathustra. Hier, in Alcinas Eiswelt mit versilberten Früchten und Gläsern wird die zauberhafte Kraft des Vergessens, die dem Lustprinzip eignet, zum Ausdruck von Leblosigkeit und Ereignislosigkeit: In Alcinas phantastisch entmenschlichten Welt „passiert“ nichts mehr, was irgend eine Geschichte, einen neuen Anfang stiften könnte. Dann aber geschieht das Wunderbare des Geschichte stiftenden Anfangs dennoch. Alcina verliebt sich. Doch die ganze Konstellation ist eine tragische Verkehrung von Leben und Tod, von Lüge und Wahrheit. Alcina verdankt ihre wahre Liebe ihrem täuschenden Zauber. Genau deshalb verliert in dem Moment, wo ihr Geliebter die Täuschung entdeckt, das Lustprinzip, welches sie verkörpert, seine Zauberkraft. Der grandioseste Moment der Inszenierung ist Alcinas große Arie zum Schluss des ersten Aktes. Auf dem Eis im grauweißen Kleid stehend ergießt sich über sie der Regen. Sie sinkt zusammen, ertrinkt also physisch fassbar in ihrem Schmerz. Die Inszenierung bringt hier in einer modernen Transformation der barocken Maschinerie der Zauberoper das Wunderbare sinnenfällig auf die Bühne: Alcinas weißes Kleid färbt sich durch das Wasser schwarz. Das schmelzende Eis, für Alcina bedeutet es nicht Leben, sondern den Tod: nicht den physischen Tod, vielmehr den des eisigen Lustprinzips, das im Leid ertrinkt. Das Publikum war spürbar beeindruckt – und ich auch.
Die Aufführung wird ohne Zweifel getragen von der unglaublichen Präsenz von Henrike Jacob als Alcina – eine Rolle, die für ihren dramatischen Sopran wie geschaffen scheint. Mit ihrer Stimmgewalt überragt sie das ganze Ensemble, gibt der Rolle dramatische Kraft und der Figur das große Format einer antiken Heldin – schon ihr erstes Auftreten lässt Alcina wie die Furie Medea erscheinen. Händels Musik, in ihrer Darstellung beschwört sie die antike Tragödie herauf. Da geht es nicht wie in der Klassik und Romantik um sentimentalisch reflektiertes Gefühl, sondern den elementaren Affekt. Es ist nicht zuletzt das Verdienst von Henrike Jacobs beeindruckender Darbietung, nicht nur das barocke Theater der Darstellung von Affekten wieder auferstehen zu lassen, sondern zugleich spürbar zu machen, was die antike Tragödie bedeutete. Händels Musik ist gerade in den tragischen Momenten, dem Ausdruck des Schmerzes, wirklich ganz großer Ausdruck und zeitloses Zeichen wahrer Humanität. Auch Lisa Wedekind in der Kastratenrolle des Ruggiero, Eva Bauchmüller als Morgana, Charlotte Quadt als Bradamante, Youn-Seong Shim als Oronte und Filippo Bertoschi als Melisso vermochten gesanglich und auch darstellerisch voll zu überzeugen. Die musikalische Leitung war hervorragend – mir schien allerdings der Haartracht nach zu urteilen nicht wie im Programmheft geschrieben Attilio Cremonesi, sondern Stefan Veselka am Pult zu stehen. Aber vielleicht irre ich mich ja auch.
Noch eine Bemerkung zur Barockoper und ihrer modernen Inszenierung: In Händels Oper vollzieht sich zum zweiten Akt der Umschlag von Lust in Leid: Das Intrigen- und Verstellungsspiel mit seinem illusionären, lustvollen Liebesspiel wird von der Erkenntnis der Wahrheit abgelöst, von Schmerz und Klage über verfehltes Glück und enttäuschte Liebe. Als reflektierender Hintergrund zur Darstellung des Leids überzeugt die Inszenierung, welche auf ein illustratives Bühnenbild verzichtet und statt dessen das Äußere zum reflektierenden Spiegel von Alcinas Innenwelt werden lässt. Im ersten Akt jedoch, wenn es um die Darstellung barocker Lebenslust geht, wirkt diese das Lustprinzip verneinende Eiswelt als Kulisse dann doch etwas wie ein Fremdkörper. Die Intention der Inszenierung ist zwar immer gut nachvollziehbar, doch widerstreitet moderne Reflektiertheit gerade hier bei der Darstellung der Lust dem barocken Theater, dass anders als das moderne nicht reflektiert. Die große Qualität der Inszenierung beweist sich also nicht vom Anfang, sondern vom Ende her, dem vollzogenen Umschlag von Lust in Leid, der sich eben reflektierend als Alcinas Tragödie vollzieht, die Wahrheit der Liebe nur durch Täuschung und Verstellung erlangen zu können.
Verblüffend Händels Schluss – lange vor den Möglichkeiten elektronischer Medien gibt es zum Schluss einen Ausblendeffekt – die Musik entfernt sich mehr und mehr, mit dem zarten Cembalo endend. Ein Ende findet die Geschichte nicht angesichts Alcinas Unsterblichkeit des Leids. Ein beeindruckender und höchst sehenswerter Opernabend!
Schöne Grüße
Holger