Von "klassischen" und "heutigen" Referenzen

  • Anlass für diesen Thread ist jener von Joseph II:
    Schostakowitschs Symphonien unter Vasily Petrenko — moderne Referenz?


    Er fragt dort, ob sich die Aufnahme aller Sinfonien unter Vassili Petrenko als "Moderne Referenz" am Markt etablieren könnte - und bringt bereits selbts einige Einwände die dagegen sprechen, beispielsweise, das Orchester aus Liverpool keinen typisch Russischen Sound erzeugt. Dann wiederum sei das Orchester "in Watte gepackt" - die Tonqualität indes sei "überragend".
    Eine weitere Aussage: "Teilweise fühlte ich mich seltsam unberührt" scheint mir auch kein guter Weg zur Referenz zu sein.


    Aber- und das betone ich ausdrücklich - handelt es sich HIER nicht um eine Einschätzung von Petrenkos Aufnahmen , sondern um ganz allgemeine Betrachtungen.


    Diese Aufnahme tritt gegen einige Konkurrenzaufnahmen an, die trotz ihres Alters dennoch (oder gerade deshalb :stumm: ) mit einer superben Tontechnik aufwarten können.


    Und endlich komme ich vom Speziellen ins Allgemeine: Referenzaufnahmen etablieren sich, wenn gewisse Parameter gegeben sind


    a) der Dirigent oder Interpret wird von Publikum UND Kritik über alle Maßen bewundert, geliebt und als Meilenstein gesehen (Mravinsky - Karajan - Böhm - Brendel)


    b) Bekannte "Kritikerpäpste haben eine Aufnahme gelobt, bzw begeistert rezensiert


    c) Die Aufnahmetechnik ist überragend


    d) Es handelt sich um ein Alpha Orchester mit Weltruhm (z. b Wiener und Berliner Philharmoniker)


    e) Es gibt keine vergleichbar gute Aufnahme aus Vergangenheit und Gegenwart.


    f) Die "Klassikgemeinde" betrachtet die Aufnahme kollektiv als eine Sternstunde der Schallplattengeschichte...



    Um Protesten im voraus zu begegnen:
    Selbstverständlich gibt es auch andere Gründe Referenzstatus zu erreichen - und ebenso selbstverständlich ist, daß es nicht erforderlich ist, ALLE angeführten Bedingungen zu erfüllen.


    Ich postuliere, daß es heute schwierig ist, neue Aufnahmen (Ersteinspielungen natürlich ausgeschlossen) in den Referenzstatus zu bringen weil es eben auch Parameter gibt, die dagegen sprechen:


    a) der Dirigent ist jung und kein "shooting star"
    b) das Orchester spielt nicht in der A Liga
    c) Die angepeilte Zielgruppe interessiert sich nicht für Neueinspielungen, da bestens mit äteren Referenzen versorgt.


    C ist die eigentliche Crux, denn es funktioniert wie eine selbsterfüllende Prophezeiung.
    Die Aufnahme ist noch unbekannt, wird kaum verkauft, und bleibt unbekannt.
    Oder sie wird verkauft - weil billig, was dem Image der Einspielung nicht nützt und ausserdem nicht die Zielgruppe der Opinion-Leader unter den Klassikkennern erreicht.


    Als Trost sei heutigen Interpreten/Produzenten gesagt, daß manche Aufnahme quasi ZUFÄLLIG zur "Referenz" erkoren wird.


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich habe das vermutlich vor einiger Zeit schon einmal in einem anderen Thread gesagt. M.E. gibt es schon lange keine "Referenzaufnahmen" in großen Teilen des Repertoires mehr. Dafür gibt es zum einen schon zu viele, zum anderen erscheinen eben immer noch zu viele. Referenzaufnahme war schon lange ein Marketingbegriff. Es hatte aber natürlich eine Berechtigung zu Zeiten, in denen es von vielen Werken eine sehr überschaubare Anzahl von Einspielungen gab und noch weniger, die klangtechnisch usw. hochwertig waren. (Mein Lieblingsbeispiel: Mozart-Sinfonien unter Böhm; kaum mehr als solide, aber außer bei vielleicht 10 Werken etwa 20 Jahre lang nahezu konkurrenzlos (guter Klang, berühmter Dirigent+Orchester, großes Label), daher automatisch "Referenz".)


    Aus heutiger Perspektive ist m.E. keine einzige Karajan-Einspielung klangtechnisch außerordentlich gut für die Entstehungszeit (die die ich gehört habe, schwanken zwischen gut/normal und eher unterdurchschnittlich ggü. etwa gleichzeitigen), aber sie waren anscheinend gut genug (bzw. die Marketingabteilung schon damals so fix), dass das irrelevant gewesen ist. Oder die Konkurrenz zu schlecht.


    Heute kann es nur noch Referenzaufnahmen von Repertoire geben, in dem es insgesamt erst wenige und/oder offensichtlich nicht-ideale Einspielungen gibt. Von nahezu allen einigermaßen bekannten Orchester-, Kammermusik- und Klavierwerken seit etwa Mozart (und von vielen vorher) gibt es dutzende oder hunderte von hochklassigen Einspielungen. Klar, können neue Aspekte hinzugefügt werden. Aber doch wohl kaum so, dass weitgehende Einigkeit erzielt würde, eine Neuaufnahme gehörte zum Kreis einer Handvoll eindeutiger Empfehlungen. Und bei Opern scheint es schon länger schwierig bis unmöglich, überhaupt hochklassige Studioproduktionen mit durchweg hervorragender Besetzung zu produzieren.


    Man sieht das ja auch an den Alleinstellungsmerkmalen, mit denen versucht wird, dem Käufer etwas Neues anzudrehen. Alte Instrumente macht man seit über 40 Jahren, jetzt gibt es eben alles nochmal in minimaler Besetzung. Oder um die authentischen Säle! (Haselböck in Wien) Oder umgekehrt gräbt man Bearbeitungen barocker Werke von Mozart, Mendelssohn, Reger usw. wieder aus, um etwas anderes zu bieten. Klar, es gibt, gerade bei Instrumenten, Stimmsystemen, Spielweisen usw. in Alter Musik und Barock sicher noch sehr viel zu entdecken. Aber ich glaube kaum, dass eine Neuaufnahme des WTK in einer neuartigen Stimmungsrekonstruktion solche Akzeptanz und Verbreitung finden wird, dass sie als neue und klar Referenz gehandelt werden würde.


    Selbst in der Klangtechnik sind anscheinend eher wenige Hörer bereit, SACD o.a. hochauflösende oder Mehrkanalformate mitzumachen. D.h. obwohl auf diesem Gebiet sicher noch neue Referenzen möglich wären, interessiert das nicht genügend Hörer, als dass plötzlich eine solche Aufnahme als Standard oder Referenz gehandelt würde.


    Ob nun Schostakowitschs Sinfonien ein Fall sind, den man als "ausgereizt", d.h. kein Platz mehr für eine Referenzaufnahme, betrachten kann, weiß ich nicht genau. Das ist auch schwer zu beurteilen, da ja einigen sehr oft (ein-)gespielten Werken (5,7,8,10) andere, denen man eigentlich nur im Rahmen von GA (2,3...) begegnet gegenüberstehen und sich obendrein der Gegensatz von angeblich besonders authentischem Sound ggü. hervorragender Klangqualität anscheinend schon seit Jahrzehnten durch die Debatte der Vorzüge bzw. Nachteile bestimmter Aufnahmen zieht. (Bei Schostakowitsch gibt es obendrein ja noch den kaum zu bestreitenden Authentizitätsfaktor, den Einspielungen mit Freunden und Weggefährten, Widmungsträgern besitzen.)
    Anhand "theoretischer" Faktoren dürfte ein klarerer Kandidat für die heutige neue DSCH-Referenz Gergiev auf Blu-Ray bzw. DVD sein. Berühmtester russischer Dirigent seiner Generation, eindeutig "russisches" Orchester, modernstes Medium. Aber s.o., ich weiß nicht, ob Schostakowitsch-Sinfonien nicht schon zu dicht besetzt sind, dass es so eine Referenz noch geben könnte.


    Wir hatten schon mal einen anderen Thread, in dem die Frage, ob, wozu und wovon man heute überhaupt noch Neuaufnahmen benötigte, da es ja fast alles, oft schon vielfach im Repertoire gäbe. Es gibt, nicht nur im Nischenrepertoire, schon noch Lücken, wo ich schon noch Platz für eine "neue Referenz" sähe. Aber bei Beethoven- oder Brahmssinfonien ist das müßig.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Lieber Johannes Roehl!

    Heute kann es nur noch Referenzaufnahmen von Repertoire geben, in dem es insgesamt erst wenige und/oder offensichtlich nicht-ideale Einspielungen gibt. Von nahezu allen einigermaßen bekannten Orchester-, Kammermusik- und Klavierwerken seit etwa Mozart (und von vielen vorher) gibt es dutzende oder hunderte von hochklassigen Einspielungen.


    Das sehe ich ganz genau so! Auch Deine Argumente scheinen mir absolut triftig!


    Aber ich frage mich: woher kommt eigentlich die Sehnsucht nach Referenzaufnahmen?
    Dass die Musikkritik gerne solche Referenzaufnahmen ausruft, kann ich mir erklären.


    Aber wieso können Musikliebhaber ein Interesse daran haben, eine Aufnahme eines Werkes als die optimale Empfehlung auszugeben? Wir sind doch in der glücklichen Lage, für die meisten Werke zwischen verschiedenen vorzüglich gelungenen Einspielungen wählen zu können. Ist der Reichtum an verschiedenen Interpretationen, die alle Wesentliches über das jeweilige Werk sagen, nicht herrlich. Dass ich heute eine Mozart-Sinfonie von Böhm hören kann, morgen von Beecham, übermorgen von Bernstein und nächste Woche noch von Harnoncourt, von Jacobs und Rattle, ist doch herrlich.
    Durch jeden dieser Dirigenten erfahren wir etwas anderes über das Werk und seinen Komponisten.


    Was will ich denn da mit einem Ranking oder einer Referenz?


    Beste Grüße
    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Ich wiederhole mich ungern, aber ein Teil des Repertoires der Referenzen würde sich in Luft auflösen, wenn die Musikkritiker die "Blindverkostung" einführen würden, die ja auch beim Testen von Wein und Sekt zu sehr ernüchternden Ergebnissen geführt hat. Eine silberne Scheibe und sonst nichts.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Aber wieso können Musikliebhaber ein Interesse daran haben, eine Aufnahme eines Werkes als die optimale Empfehlung auszugeben?


    Als ich angefangen habe, überwiegend klassische Musik zu hören, war für mich klar, dass ich mir immer nur eine Einspielung eines Werkes kaufen würde. Es gab ja so viel für mich zu entdecken, da konnte ich mich nicht mit mehrere Fassungen ein- und desselben Stückes aufhalten. Mit der Zeit hat sich das dann, natürlich und glücklicherweise, geändert. Aber bis dahin war »Referenzaufnahme« ein wichtiges Kriterium. Und das wird es für viele Nicht-»Hardcore«-Klassikhörer wohl immer noch sein.

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  • Es gibt hier so vieles, das angesprochen wurde und auf das ich gerne antworten möchte (und hoffentlich zu einem späteren Zeitpunkt auch tun werde)
    Aber der Übersichtlichkeit willen begnüge ich mich in diesem Beitrag mit der Beantwortung einer gestellten Frage - aus meiner Sicht:


    Zitat

    Aber ich frage mich: woher kommt eigentlich die Sehnsucht nach Referenzaufnahmen?

    Dafür gibt es mehrere Gründe; Die Menschheit liebt es, zu vergleichen und Wertungen abzugeben, das beginnt schon bei den Misswahlen*, geht über "die grössten Komponisten" und die "hitparade" bei Schlagern, die Vergabe von "Oscars" und "Grammys", Turniere im Mittelalter und die Olympischen Spiele im antiken Griechenland bis heute. Man will sich beweisen und bejubelt werden. Damit nicht genug; auch "Zitronen" werden vergeben.
    Kritiker gewinnen an Bedeutung, wenn sie es geschafft haben der staunenden Menge eine "Referenzaufnahme" zu präsentieren - wie man ein Kaninchen aus dem Hut zaubert.
    Dann gibt es die Weihnachtskäufer, welche dem mutmaßlichen Erbonkel eine "ganz tolle CD-Box schenken möchten. Der Name "Karajan" am Cover oder aber ein "Grand Prix du Disque" Aufkleber sind hier - ebenso wie die Bezeichnung "Referenzaufnahme" eine ideale Kaufhilfe.
    Auch gut betuchte Klassikeinsteiger kaufen gern Referenzeinspielungen, weil sie sich dann auf der sicheren Seite wähnen....


    mfg aus Wien
    Alfred


    Zitat

    * abgesehen vom Doppelsinn des Wortes ist dies das ideale Anschauungsmaterial, wo zu sehen ist, wie stark eine Jury danebenhauen kann - oder auch absichtlich danebenhaut, weil durch zuviel Schmieren ausgerutscht.....

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Als ich angefangen habe, überwiegend klassische Musik zu hören, war für mich klar, dass ich mir immer nur eine Einspielung eines Werkes kaufen würde. Es gab ja so viel für mich zu entdecken, da konnte ich mich nicht mit mehrere Fassungen ein- und desselben Stückes aufhalten. Mit der Zeit hat sich das dann, natürlich und glücklicherweise, geändert. Aber bis dahin war »Referenzaufnahme« ein wichtiges Kriterium. Und das wird es für viele Nicht-»Hardcore«-Klassikhörer wohl immer noch sein.


    Lieber Dieter!
    Da hast Du sicher recht!


    Dazu vielleicht eine kleine Geschichte:
    Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich meine erste Operngesamtaufnahme kaufen wollte, die nicht von Supraphon war (In Berlin konnte man durch Umtausch von West-DM in Ostmark vergleichsweise billig Schallplatten im Ostteil der Stadt kaufen. Im Haus der Tschechischen Kultur. Da bekam man aber nur Tschechische Opern. Kein Mozart und Beethoven, kein Wagner, Verdi, Puccini oder Strauss).

    Es sollte die von mir heißgeliebte Salome sein. Da gab es zwei Aufnahmen. Die von Krauss mit der Goltz und die mit der Wegner unter Moralt. Ich habe mehrere Nachmittage lang die beiden Aufnahmen in dem kleinen Abhörkabuff verglichen, da ich sicher war, dass es nie eine zweite Möglichkeit geben würde, mir wieder eine Salome zu leisten. Ich habe dann die Goltz gekauft. Wie viele ich heute habe, mag ich gar nicht sagen.


    Beste Grüße


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


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  • Dass man sich auf Jahre keine weitere Einspielung leisten können/wollen würde, war sicher sogar auch im CD-Zeitalter noch lange ein wichtiger Punkt. Freilich konnte es auch sein, dass das Geld eh nicht für die "Referenzeinspielung" reicht. Ich wurde davon schnell kuriert, nachdem sich eine sauteure CD (Karajans digitale Brahms 1. mit dem "Laserstrahl-Cover") als gar nicht so überragend herausstellte und ich wenig später für nicht viel mehr als für diese Einzel-CD Wands Brahms-Sinfonien komplett kaufen konnte: 3 CDs für meiner Erinnerung etwa DM 40 war damals (ca. 1989/90) günstiger als midprice und ungewöhnlich günstig für eine angesehene Aufnahme eines Nichtbilliglabels.


    Aber die Idee, eine Einspielung könnte ein Werk ein für allemal festlegen, ist natürlich Unsinn (bzw. Marketing :D) und man kann kaum genügend betonen, wie fremd eine solche Denkweise Komponisten und Musikern vor dem Beginn der Schallaufzeichnung (und aufgrund deren Schwächen bei vielen auch noch lange danach) gewesen sein muss.


    Nichtsdestoweniger ist nachvollziehbar, dass man als Nichtmusiker, der ein Stück nicht selbst durchspielen oder anhand der Noten vorstellen kann und als jemand, der nicht ständig ins Konzert gehen kann (was bei weniger bekannten Stücken auch nicht viel hilft, sofern man nicht auch beliebig Zeit und Mittel für Reisen hat) eine zuverlässige Referenz (i.S.v. Bezugspunkt) auf Tonträgern haben möchte.
    Dass das die Plattenfirmen in ihrem Marketing ausnutzen ist klar. Sie sind dabei aber immer mit dem Persil-Paradox (Das weißeste Weiß Ihres Lebens) konfrontiert, denn alle paar Jahre muss ja eine neue "Referenz" an den Kunden gebracht werden (und anders als Waschpulver verbrauchen sich auch Vinylplatten nicht so schnell).

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  • ..... nachvollziehbar, dass man als Nichtmusiker, ....... eine zuverlässige Referenz (i.S.v. Bezugspunkt) auf Tonträgern haben möchte.


    Ja. lieber Johannes Röhl, das ist nachvollziehbar.
    Aber ich hätte mir doch nie im Leben von jemandem sagen lassen, dieses oder das ist die Referenz-Salome und die dann gekauft. Für 48.-- DM. Nein, das wollte ich schon selbst herausfinden, welche der Salome-Aufnahmen meinen Vorstellungen am ehesten entgegenkommt. Und ich höre auch heute noch, warum ich mich damals für die von Clemens Krauss entschieden habe.


    Wenn ich heute nur eine kaufen würde, wäre es wohl eine andere. Das Angebot ist ja schier unübersehbar. Aber vermutlich wäre es nicht die Referenz, die irgendein Rezensent bestimmt hat oder die durch Abstimmung in einem Internetforum erwählt wurde. Es wäre die Aufnahme, für die ich mich entschieden habe, weil sie für mich mehr bedeutet als die andere Aufnahmen.


    Beste Grüße


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


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  • Bei mir war es so, daß ich in mit 15 Jahren (und vermutlich bis etwa 19) sehr oft sogenannte "Sampler" kaufte. Diese waren nicht unbedingt billig, aber doch etwas preiswerter als übliche Schallplatten. (ös 99 statt 150) das kann man natürlich nicht umrechnen, auf den Kaufwert gesehen würde ich sagen: Normalpres CD vs Midprice (20 vs 12-14 Euro).
    Solch ein Sampler oder Sonderpreisserie, war etwa vergleichbar mit der Serie "Eloquence" wo üblicherweis kaum je alle Aufnahmen von einem Dirigenten vorhanden waren, es war vielmehr ein Mix aller Interpreten, Das führte dazu, dass wenn man beispielsweise die 5. Beethoven kaufte, auf der Rückseite z.B die Eroica war. Kaufte man dann aber beispielsweise die Sinfonie Nr 6 "Pastorale", dann konnte es sein, daß auf der Rückseite EBENFALLS die Eroica war - oder z.B die 5.
    Dieses Ärgernis - ich musste ein mit bekanntes Werk ein 2. Mal bezahlen - entwickelte sich dann aber zum Guten, als ich erstmals bemerkte, wie unterschiedlich im Idealfall ein und dasselbe Werk klingen kann, wenn ein anderer Dirigent und ein anderes Orchester diese Aufnahme gemacht hat, von tontechnischen Unterschieden ganz zu schweigen.
    Nach einer erste Irritation ("klingt fremd - ist nicht MEIN Beethoven") erkannte ich die Chancen, die sich da vor einem auftaten, und seither bin ich leidenschaftlicher Interpretationssammler. Bedauerlicherweise kommt es im Laufe der Zeit vor, daß man etliche Aufnahmen erwischt, die einander sehr ähneln - Um diesem Überstand abzuhelfen gibt es seit gestern einen entsprechenden Thread....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Ich bin vom Elternhaus "klassisch" sozialisiert worden, es gab nichts anderes im Elternhaus zu hören. Mit der Einschulung, wenn ich mich recht erinnere, kam der erste Plattenspieler (Grundig oder Telefunken, die kleinen Lautsprecher im Deckel) als Geschenk von einer Großtante mit der 17cm-Scheibe Mozart, KV 525, die Sätze 1 und 2 vorn, die Sätze 3 und 4 hinten (Telefunken, Füllschriftverfahren nach Rhein, Südwestdeutsches Kammerorchester, Tillegant). Damals wäre ich nicht auf den Gedanken gekommen (und da bin ich nahe bei Dieter Stockert), von ein und demselben Stück, egal, was es auch sei, mehrere Interpreten zu haben. Der Gedanke, interpretatorische Vergleiche anzustellen, war mir, aber auch meinen Eltern, wesensfremd, dafür sollte bei der nächstbesten Gelegenheit lieber eine neue Scheibe her. Und das war 1951 und Folgejahre noch sehr teuer. Das erwähnte "Damals" dauerte übrigens bis zu meinem Tamino-Eintritt 2010.


    Und Referenz? Das hat mir nie etwas bedeutet. Dazu hätte ich auch entsprechende Infos benötigt, aber die hatte ich nicht - weil ich notwendige Zeitschriften (die es sicherlich ab 19xx gab) nicht kannte oder nicht gekauft habe. Entscheidend war für mich nur der Preis des Objekts der Begierde. Und die war ja immer groß, weil ein erfüllter Wunsch sofort Junge bekam.


    Heute habe ich von einigen Werken tatsächlich mehrere Aufnahmen (was vielfach an den "Gesamtausgaben" in Boxen liegt), bin aber wegen vielem, was noch fehlt, knauserig bei Vergleichseinspielungen. Da wird sich wohl in diesem Leben auch nicht mehr viel ändern.


    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER

  • Referenz? Tja das ist schon ein Problem.
    Es war immer der Wunsch der Tonträgerindustrie einen Standard oder - noch besser - eine "Referenz" zu schaffen.
    Das war IMO ein Projekt das in letzter Konsequenz zum Scheitern verurteilt ist.
    Caruso als Referenz für alle folgenden Tenöre? Na ich weiß nicht. Die damalige Aufnahmetechnik steht IMO dem Begriff "Referenz" wirklich im Wege.
    Das Problem (oder zumindest eines von vielen) ist ja, daß wenn eine "Referenzaufnahme" gekürt wurde, die Konkurrenz mit einer weiteren Einspielung ins Rennen geht. Sollte es wieder Erwarten gelingen die Neuaufnahme Kritik und Publikum als "neue Referenz" zu verkaufen, dann ist der Markt zumindest gespalten. Auch ich schreibe hier gelegentlich von "Referenzen" (obwohl ich nicht wirklich daran glaube). Aber der Leser hat seine Freude daran und die Tonträgerindustrie auch.
    Es gibt übrigens einen Manager dieser Industrie, der nicht an "Referenzen" glaubt. Er äusserte sich einmal in einem Interview sinngemäß in die Richtung, daß er nicht an die Einzigartigkeit einer Interpretation glaube, es gäbe immer wieder erstklassige Aufnahmen. Desgleichen sprach er sich gegen ewig dauernde Probezeiten und massenhaft Postproduktions-Eingriffe aus, er sei der Meinung, daß jeder Solist (Orchester, etc) sein Metier so gut verstehen sollte, daß es ihm möglich sei - wie im Livekonzert auch - ein Stück in einem Guss fehlerfrei zu spielen.


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich bin ganz bei Johannes.


    "Referenzen" sind weitestgehend Marketing. Der mündige und erfahrene Hörer weiß, dass es die allein seelig machende Deutung zumeist nicht gibt, vermutlich nicht geben kann. Viele Wege führen nach Rom und können dabei interessant sein.
    Referenzen als zumindest eine Liste von Einspielungen eines Werkes haben jedoch dahingehend eine Berechtigung, dass sie Einsteigern und denjenigen, die sich nicht intensiver befassen wollen (was absolut legitim ist!) Orientierung geben können. Im Sinne von: das ist zwar nicht die "einzig wahre" Aufnahme, aber eine gültige, in der Fachwelt akzeptierte Sicht, die auch vernünftig bzw. zeitgemäß (gut) klingt.


    Von den Punkten, die Alfred als "Parameter" (Voraussetzungen?) für das Vorliegen einer Referenz postuliert, halte ich überwiegend nichts (ich kommentiere mal farbig in das Zitat hinein):


    Viele Grüße
    Frank

  • Referenzaufnahmen mit bereits verstorbenen oder inaktiven Musikern (Brendel) kenne ich viele.
    Kenne ich aber auch Referenzaufnahmen mit noch aktiven Musikern?
    Ja, durchaus, aber es sind eben nicht so viele.


    Referenzcharakter haben für mich die Aufnahmen, die man als maßstäblich ansieht und auf die man sich immer wieder bezieht. Man kauft sich (oder streamt sich...) andere Aufnahmen desselben Werkes und kehrt dann immer wieder zu einer bestimmten Aufnahme zurück, bei der es eben passt. Das Hinzukaufen geschieht vielleicht in der Hoffnung, eine neue Referenz erwerben zu können, doch oft wird sie dann doch enttäuscht.


    Egal, ob es sich bei mir um Barock oder Musik von Mozart bis Wagner handelt: die große Mehrheit meiner Referenzen stammt von Dirigenten oder Pianisten, die entweder schon verstorben oder inaktiv sind.
    Ich habe ich mir einmal die Mühe gemacht, meine All-time-Referenzen zu sammeln und habe dafür schon einen Beitrag vorbereitet. Dann habe ich es nicht gepostet, weil ich dachte, das wäre in diesem Thread eventuell nicht passend.
    So sortierte ich die Aufnahmen nach bereits verstorben und noch aktiv und stellte fest, dass es bei den Aufnahmen der Aktiven eigentlich nicht so viele gibt, denen ich diesen Status gebe.
    Wenn man also Bach mit Herreweghe oder Suzuki einmal ausnimmt und mehr auf die symphonische Literatur geht, dann gibt es nur zwei 100%ige Referenzaufnahmen, auf die ich auf keinen Fall verzichten könnte: Brahms-Symphonien mit Rattle (CD) und Beethoven-Symphonien mit Thielemann (Blue-ray).


    Es sind mir zwar gute und sehr gute Aufnahmen untergekommen, aber so richtig Referenz ...... da bleibe ich erst einmal bei den beiden genannten.
    Ich müsste vielleicht noch länger überlegen, komme jetzt aber nicht wirklich auf etwas Anderes.
    Das hängt natürlich vom Musikgeschmack ab, und Opern habe ich jetzt auch so ziemlich ausgenommen. Vielleicht wäre da noch Parsifal und Lohengrin mit Nagano, aber sonst gibt es da gar nicht so viele Aufnahmen, die für mich einen solchen starken Bezugs-Charakter haben.


    Bin ich gestrig?
    Ich meine nicht, denn ich höre doch sehr genau hin, manchmal auch mit Partitur, und will auch neueren Sichtweisen eine Chance geben. So habe ich gestern sehr viel Zeit damit verbracht, die Dritte von Brahms in allen drei DG-Karajan-Einspielungen zu hören, dann aber auch Rattle, Giulini (DG), Wand ( NDR), Abbado, Harnoncourt, Thielemann, Böhm (habe ich mir gerade bestellt, aber ich höre sie schon auf Spotify) und eben auch Hengelbrock (die neue Aufnahme aus der Elbphiharmonie). Es fällt mir z.B. im ersten Satz wirklich schwer, den Hengelbrock nicht gleich zu stoppen, weil ich das schnelle Tempo als irrsinnig, schon als Karikatur empfinde. An den grandiosen Brahms des Vorgängers Wand kann er für mich keineswegs anknüpfen. Besser gefiel mir auch Jansons, aber am Ende überzeugte es mich doch nicht so recht.
    Karajan ist hier übrigens erstaunlich gut, gerade die Aufnahme aus den 60er-Jahren finde ich sehr schön, aber auch die anderen haben ihre Vorzüge. Er landet für mich hinter der außergewöhnlichen Rattle-Aufnahme auf dem zweiten Platz, ungefähr zusammen mit Wand. Die Karajan-Ästhetik scheint mir für Brahms sehr gut zu passen. Barenboim (ach ja, den hörte ich auch noch) sagte einmal sinngemäß zu Karajans Brahms " das soll ihm erst einmal einer nachdirigieren". Damit hat er recht.


    Doch wie gesagt: Wo sind die neuen Referenzen? Vielleicht eher in anderen Bereichen der Musik. Herreweghe hat im Bach-Bereich sehr sehr schöne Kantaten gemacht, Suzuki auch. Im symphonischen Bereich überzeugt es mich dann wieder nicht so ganz, was der Erstgenannte so macht, auch wenn es natürlich gut ist und oft auch besser, als das, was andere HIP-orientierte Orchesterleiter so machen (meine Meinung...)


    Wenn es um die Aufnahmetechnik geht, so ist es ja so, dass man schon von den späten 60er-Jahren an erstaunlich gute Qualität bekommen kann. Bei manchen der verstorbenen oder inaktiven Ausführenden der Referenzaufnahmen sind die Aufnahmen sogar als Blue-ray, oder SACD im vollendeten Surround-Klang und hochaufgelöst zu haben. Neue Aufnahmen haben es diesbezüglich also schwer, hier noch einen "draufsetzen" zu können.


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Naja, aber das ist jetzt ja reiner Zufall. Vor zwei Jahren waren alle "Referenzaufnahmen" mit Nikolaus Harnoncourt noch die eines lebenden und aktiven Musikers, jetzt ist das nicht mehr der Fall. An den Aufnahmen hat sich nichts geändert und auch an ihrem Status nicht.

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  • Karajan ist hier übrigens erstaunlich gut [...]


    Bitte korrigiert mich, aber galt Brahms nicht allgemein als eines der absoluten Steckenpferde Karajans? Ich tendiere da übrigens zu den ganz späten Aufnahmen. Es gibt einen sehr guten Studiozyklus von etwa 1986/87; noch besser sind die Live-Aufnahmen der Ersten, die er 1987 in der Philharmonie und 1988 in London und Tokio dirigierte. Die beiden letzteren erschienen auch auf CD.


    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Vor zwei Jahren waren alle "Referenzaufnahmen" mit Nikolaus Harnoncourt noch die eines lebenden und aktiven Musikers, jetzt ist das nicht mehr der Fall. An den Aufnahmen hat sich nichts geändert und auch an ihrem Status nicht.

    Ja, eben, das ist auch so. Seine zweite Aufnahme der Brandenburgischen Konzerte etwa ist für mich tatsächlich nach wie vor DIE Referenz, die einem das Erlebnis und das Verständnis für die Musik öffnet. Sie stammt aus den 80er-Jahren, ist aber technisch durchaus noch gut und akzeptabel, auch schon digital. Das 3. oder das 6. Konzert habe ich oft genommen, um damit Hifi-Teile zu testen.
    Gibt es einen neuen Musiker mit der Persönlichkeit und der Bedeutung eines Harnoncourt? Ich finde ihn kaum. Oft höre ich, dass jemand meint, etwas verstanden zu haben (ich höre sofort, wo die Idee herkommt, etwa bei der Haffner-Symphonie...) und es dann auch auf seine Art so machen will. Gerade das überzeugt mich aber im Bereich Mozart bis Romantik oft überhaupt nicht. Das Original ist mir dann lieber.
    Harnoncourt hat viel in Gang gesetzt und sehr überzeugend gewirkt, manchmal so überzeugend, dass bestimmte Dinge von ihm sich quasi als Standard durchsetzen. So hörte ich ein Dirigenten-Musikergespräch in Oslo, wo sie sich gegenseitig bestätigten, dass sie jetzt auch Naturtrompeten ins "moderne" Orchester hineinnehmen wollen. Für mich war aber gerade das mit der Zeit eine immer zweifelhaftere Maßnahme. Wenn sich nun der neue Mainstream in der Klangvorstellung in Richtung schmetternd und scharf hinbewegt, dann finde ich einen Künstler wesentlich interessanter, der nicht mit der Herde mitläuft, sondern das kritisch hinterfragt und sich für einen warmen und dunklen Klang einsetzt. Für mich passt das Blech des modernen Orchesters von der Klangsignatur her einfach besser zu den modernen Instrumenten.



    Bitte korrigiert mich, aber galt Brahms nicht allgemein als eines der absoluten Steckenpferde Karajans?

    Absolut ja. Sein Brahms überzeugt mich auch mehr als sein Bruckner, der - gerade bei den Spätaufnahmen - aber auch etwas für sich hat.
    Den sehr guten Studiozyklus habe ich auch, jedoch auch die DG-Aufnahmen aus den 60ern und 70ern. Der 70er ist besonders "klangstromig", wodurch er ungeheure große Bögen und Spannungen erzeugen konnte. Ich glaube aber, dass ich die Aufnahmen aus den 60-ern und den 80ern-für mich bevorzuge.


    Zudem hört man beim Karajan immer wieder eine ungeheure maskuline Wucht bei den Ausbrüchen.
    Vielen Dank für die Hinweise auf die beiden CDs, die ich noch nicht kannte. Ich sammle ja - ohne dass ich je ein Sammler sein wollte - ganz offensichtlich Brahms-Symphonien, doch müssen sie mir auch wirklich gefallen. Wahrscheinlich liegt das mit dem Sammeln daran, dass ich diese Musik so sehr liebe. Bei der h-moll Messe von Bach gibt es bei mir auch den Trend zur Zehnt-Aufnahme (und mehr...).
    Das sind nun einmal Werke, mit denen man lebt, und mit denen man irgendwie nie "fertig" ist.


    Für mich sind diese Vergleiche auch immer goldene Gelegenheiten, etwas zu lernen. Ich höre dann sehr genau mit dem Kopfhörer, und entdecke sehr viel über alle möglichen Parameter, auch über den Instrumentenklang verschiedener Orchester. Bei den Klarinettensoli etwa klingt es beim NDR-Rundfunkorchester sehr anders als bei den Berliner Philharmonikern, bei deren jetzt schon älteren Karajan-Aufnahmen fällt mir eine mittlerweile nicht mehr so gern gehörte Ästhetik bei der Tonbildung der Querflöte auf (ziemlich laut und viel Dauervibrato). Die heutigen Solisten spielen für mich da sensibler und musikalischer. Auch bei den Hornsoli merkt man schon, dass es jeweils andere Leute spielten. Die Wiener Oboe der Wiener Philharmoniker (merkwürdig, heute klingt es nicht mehr so wie damals...) hat einen für mich recht engen, quäkigen Sound, der mich immer wieder stört. Doch wie gesagt, bei Thielemanns Beethoven fiel mir das merkwürdigerweise nicht mehr auf. Liegt es an der Aufnahmetechnik, oder verwenden sie mittlerweile "normalere" Oboen? Das wüsste ich schon gerne....


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Referenzen als persönlicher Fixpunkt, ja klar, da würde ich sogar soweit gehen, dass solche Aufnahmen zur Einordnung und Orientierung für jeden Sammler und Interpretationen Vergleichenden beinahe zwangsläufig existieren. Solange man solche Einspielungen nicht als allgemeingültig erklärt, habe ich auch keinerlei Problem damit.


    Viele Grüße
    Frank

  • Es gibt einfach Aufnahmen, die eine alles überragende Qualität haben in musikalischer und interpretatorischer Hinsicht, die Interpretationsgeschichte geschrieben haben, die "zeitlos" sind und die deshalb als Maßstab fungieren, an denen die vielen anderen gemessen werden. Musiker kennen meist solche Aufnahmen, mit denen man sich auseinandersetzen muss, auch wenn man es anders machen will. Davon gibt es immer noch genug.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich persönlich habe "Referenz" nie als auf EINE Aufnahme bezogen gesehen, sondern auf eine Gruppe von Auserwählten, Diese Gruppe bedarf einer gewissen Akzeptanz von Publikum und Kritik und wird daher in ihrere Zusammensetzung je nach Ort und Zeit der Beurteilung unterschiedlich sein. Karajan war zu Lebzeiten in vieler Hinsicht "Referenz" - ein Anspruch der heute nicht mehr von allen Musikfreunden anerkannt wird. Dennoch - ein Stück Interpretations- und Schallplattengeschichte.
    Zumindest in Sachen Beethoven Sinfonien wird dieser Anspruch vermutlich noch über Jahrzehnte aufrecht erhalten werden können.....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Diese Gruppe bedarf einer gewissen Akzeptanz von Publikum und Kritik und wird daher in ihrere Zusammensetzung je nach Ort und Zeit der Beurteilung unterschiedlich sein.


    Dann muss man allerdings anführen, dass der Aufnahmemarkt heute viel voller ist, als früher, sowohl mit "alten" als auch mit "neuen" Produktionen, was in der Folge Einigkeit und Akzeptanz erschwert - es gibt einfach mehr Auswahl. Allein das erschwert das Küren "heutiger Referenzen" ganz erheblich.


    Viele Grüße
    Frank

  • Eben. Es kommt noch ein weiterer ganz äußerlicher Umstand hinzu: Die heute (und schon seit fast 20 Jahren) weit problemlosere Erhältlichkeit über internationale Bestellungen. Wenn 1967 jemand in Deutschland eine Aufnahme von Bruckners 8. in stereo kaufen wollte, hatte er selbst in einem großen Plattengeschäft vermutlich nicht mehr als drei Optionen. Selbst 1977 dürfte es nicht so viel anders ausgesehen haben.
    Klar, dass dann eine oder zwei verbreitete, gute und leicht erhältliche Aufnahmen sehr schnell zur "Referenz" werden. Denn wer nicht sehr bewusst nach etwas anderem sucht, findet eben nur die. Noch Ende der 1980er, als ich begann, CDs zu kaufen, gab es bei Bruckner, jedenfalls bei Gesamtaufnahmen im wesentlichen Jochum, Wand, Karajan. Es gab im Prinzip zwar mehr Aufnahmen, z.B. damals aktuell Inbal mit einigen Erstaufnahmen der Urfassungen. Und von einzelnen Sinfonien natürlich deutlich mehr. Aber wenn man in ein normales Geschäft gegangen ist, dann fand man dort vermutlich typischerweise zwei ziemliche neue Vollpreis-Aufnahmen (damals z.B. Giulini/Wiener, DM 70-80 für eine Doppel-CD der 8.), Wand/WDR zum midprice und evtl. sehr günstig Jochum auf DG resonance. Und vielleicht noch ein paar mehr, je nach Größe des Geschäfts. Aber nicht 30, 50 oder mehr wie heute problemlos bei Amazon oder jpc.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich habe es wohl schon einmal geschrieben, aber ich finde, der Begriff Referenz macht nur Sinn, wenn er eine gewisse Allgemeingültigkeit besitzt. Wenn ich von meiner "persönlichen Referenz" spreche, meine ich meine Lieblingsaufnahme und dann benötige ich den Referenzbegriff nicht. Eine Referenz bildet sich heraus, wenn über Jahre viele Musikliebhaber, Musiker und Kritiker immer wieder an bestimmte Aufnahmen erinnern, die für sie eine besonders wichtige Rolle gespielt haben zum Verständnis des jeweiligen Werkes. Ein Dirigent kann deshalb nicht allgemein eine Referenz sein, sondern höchsten bestimmte Aufnahmen von ihm. Karajan hat bei aller Wertschätzung zahlreiche Aufnahmen vorgelegt, wo von Referenz gar keine Rede sein kann. Und eine Referenz ist m.E. auch unabhängig von der jeweiligen Klangtechnik.
    Typische Referenzaufnahmen sind z.B. die Beethoven Sonaten mit Arthur Schnabel, die späten Quartette mit dem Busch Quartett, die Bach Cello Solosuiten von Bach mit Casals etc., die sind alle historisch. Aber immer wieder werden sie von Kritikern als Vergleich herangezogen und sind deshalb auch permanent im Katalog präsent. Soltis Ring, Bernsteins Mahler, Celibidaches oder Wands Bruckner, Kondrashins und Borodin Quartetts Schostakowitsch, ABMs Debussy, alles Aufnahmen, die häufig als Vergleich herangezogen werden. Das sind für mich Referenzaufnahmen, selbst wenn ich im einzelnen durchaus bessere kenne, aber das spielt keine Rolle.


    Die Auftrennung in "klassische" und "heutige" Referenzen halte ich für unsinnig.

  • Referenz hat für mich zwei Bedeutungen.


    Wenn ich mich für ein Werk interessiere, suche ich mir eine Referenz, das ist eine allgemein als sehr gut anerkannte Einspielung.


    Diese Bewertung überlasse ich gerne anderen Musikliebhabern, die dafür ihre Zeit investiert haben.


    Von dieser Interpretation aus vergleiche ich dann, sie ist nicht automatisch die Beste, aber ich muss ja von irgendeinem festen Bezugspunkt aus losgehen.


    So finde ich mit Geduld und etwas Glück meine Referenz.


    Und diese wird allein bestimmt durch meine Reaktion auf die Musik.


    Beste Grüße


    Karl

  • Zitat

    Wenn ich von meiner "persönlichen Referenz" spreche, meine ich meine Lieblingsaufnahme und dann benötige ich den Referenzbegriff nicht.

    Nein, ich denke, eine persönliche Referenz muss nicht zwingend auch die oder eine Lieblingsaufnahme sein. Ich würde sie als festen Bezugspunkt, an dem alles andere relatiert werden kann, betrachten. Eine wohlbekannte und zumindest in Teilbereichen geschätzte Aufnahme. Zugegeben, der Begriff wird dann sehr beliebig, aber man macht immerhin damit klar, in welchem Rahmen man den eigenen Hör-Horizont absteckt.



    Zitat

    unabhängig von der jeweiligen Klangtechnik

    Wenn man wirklich "nur" auf die Musik abstellen möchte, kann man das natürlich so sehen. Andererseits: ist das in Zeiten eines übervollen Marktes so sinnvoll, Klang und Interpretation zu treffen? Zumal hier manches Hand in Hand geht? Meiner Ansicht nach nützt eine historisch aufgenommene Referenz wenig, wenn die Klangtechnik z. B. wie ein Schleier über der Interpretation liegt, sie "verdeckt" und sie schlimmstenfalls den Hörer etwas "hinzudenken" lässt.


    Viele Grüße
    Frank

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  • Typische Referenzaufnahmen sind z.B. die Beethoven Sonaten mit Arthur Schnabel, die späten Quartette mit dem Busch Quartett, die Bach Cello Solosuiten von Bach mit Casals etc., die sind alle historisch.

    Das waren teils schlicht die ersten Aufnahmen dieser Stücke überhaupt. Dazu von Künstlern, die schon jahrzehntelang für Interpretationen dieser Werke hoch angesehen waren, im Falle von Casals war er Anfang des 20. Jhds. anscheinend der erste, der die Cellosuiten überhaupt wieder regelmäßig aufgeführt hat. Es gibt aber andere historische Aufnahmen, die aus welchen Gründen auch immer, diesen Status nicht in der Weise behalten haben. Z.B. verdienten Weingartners Aufnahmen der Beethoven- und Brahms-Sinfonien aufgrund der historischen Bedeutung dieses Dirigenten, oder auch Richard Strauss' Aufnahmen eigener Werke auch einen solchen Status, scheint mir aber in diesen Fällen nicht so gefestigt wie bei Schnabel oder Casals.



    Zitat

    Die Auftrennung in "klassische" und "heutige" Referenzen halte ich für unsinnig.

    Ich finde sie nicht sehr hilfreich, aber auch nicht unsinnig. Es gibt m.E. schon Fälle, in denen eine alte Referenz abgelöst oder gar obsolet werden kann. Ich würde heute z.B. vermutlich kaum eine Einspielung eines Bachwerks vor 1970 ohne erläuternden Kommentar als "Referenz" empfehlen. Umgekehrt verstünde ich auch, wenn jemand eine Aufnahme als "Referenz mit state of the Art Klangqualität" empfehlen würde, wobei klar wäre, dass viele Optionen aufgrund der schlechteren Klangqualität gar nicht berücksichtig würden.
    Noch deutlicher gilt das, wenn eine "alte Referenz" nur faute de mieux diesen Status hatte, weil es nur sehr wenige oder nur eine einzige Einspielung gab. Z.B. einige Erstfassungen von Brucknersinfonien, die meines Wissens zum ersten Mal in den 1980ern aufgenommen wurden und von denen es bis heute oft nur ca. 3 Aufnahmen gibt.

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    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Die Auftrennung in "klassische" und "heutige" Referenzen halte ich für unsinnig.


    Wenn wir uns den "tieferen Sinn" dieses Threads vor Augen führen, dann ist das allerdings nicht der Fall. Es sollte herausgefunden werden, ob heutige Aufnahmen ebenso "Referenzstatus erlangen können, wie ihre "historischen Vorgänger".
    Es wird ja stets geklagt, dass immer nur dieselben Interpreten empfohlen werden, und daß die "großen Alten" einfach nicht zu toppen seien. Das bringt mit sich, daß zahlreiche Neuaufnahmen nicht mal 5 Jahre in den Katalogen bleiben und ihre Interpreten vielleicht im Konzertleben einigermaßen erfolgreich sein mögen, im Bereich Tonaufzeichnung bleiben sie indes vielfach unbeachtet. Hier zu erforschen, ob es nicht doch "heutige Referenzen" gibt, ist sicher nicht uninteressant, und auch die Frage, warum heutigen Aufnahmen allenfalls von dem einen oder anderen Rezensenten "Referenzstatus" zugesprochen erhalten. Eine breite Akzeptanz findet indes nur in seltenen Fällen statt. Vielleicht liegt es auch daran, daß "Autoritäten" heutzutage kaum als solche anerkannt werden, möglicherweise aber auch, weil wirkliche Spitzenleistungen kaum herausragen, weil der Qualitätslevel generell höher ist. Anders gesprochen: Es regiert das "Mittelmaß" auf eher hohem Niveau.
    Man betrachte nur die Spitzenleistung mancher Orchester aus äusserst exotischen Gegenden.......


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Die Trennung zwischen "klassischen" und "heutigen" Referenzen find ich deshalb problematisch, da als erstes schon einmal die Frage zu klären wäre, wo die zeitliche Grenze zu sehen wäre. Sind die Beethoven Quartette mit dem Alban Berg Quartett "klassische" oder "heutige" Referenzen. Die einzige sinnvolle Trennung wäre für mich historisch (also mono) und seit Einführung der Stereophonie. Aber da z.B. die "großen" Dirigenten der Vergangenheit nicht alle zur gleichen Zeit gestorben sind, finde ich es schwierig eine Trennlinie zu ziehen.
    Ein weiteres Problem ist tatsächlich die Proliferation hochkarätiger Aufnahmen in den letzten Jahrzehnten. Um bei den Beethoven Quartetten zu bleiben, sowohl das Hagen Quartett, wie auch das Artemis und das Belcea Quartett haben Aufnahmen vorgelegt, die Referenzcharakter beanspruchen können und dies wurde Ihnen auch von den verschiedensten Kritikern zugestanden. Das gab es früher in dem Umfang vielleicht nicht. Auch war die Präsenz der einzelnen Aufnahmen früher auf bestimmte Regionen beschränkt, so galten in USA halt das Budapest und Juilliard Quartett, in Deutschland das Amadeus oder Koeckert Quartett und in Russland vielleicht das Beethoven oder Borodin Quartett als jeweilige Referenz für Beethoven. In einem globalen Markt wird das halt sehr schnell unübersichtlich.


    Ich finde übrigens - und das habe ich hier im Forum schon öfter gesagt - das z.B. bei den Streichquartetten fast alle Referenzaufnahmen neueren Datums sind. Wer vergleichend die Aufnahmen aus den 50er und 60er Jahren und von heute hört, kommt nicht umhin festzustellen, dass allein das technische Niveau der Quartette heute viel höher ist als früher und dass die meisten Aufnahmen aus dieser Zeit zwar noch historisches Interesse haben, aber nicht mehr Referenz sein können.