…und die Liebe zu ihnen zu begreifen. So müsste der Thread-Titel ergänzt werden, denn eben das ist die Intention, die hinter seinem Start steht.
Die Idee zu diesem Thread und der Entschluss, ihn zu starten wurden ausgelöst und geweckt durch eine am Ort eines Klassik-Forums möglicherweise Verwunderung auslösende Begebenheit. Anlässlich der Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Bob Dylan sinnierte ich bei einem meiner täglichen Spaziergänge über den Gedanken, der musikalisch ernsthafte Pop-Song könne möglicherweise der legitime Nachfolger des traditionellen Kunstliedes in der heutigen Gegenwart sein, die die kleine Welt bürgerlicher Existenz als der genuine gesellschaftliche Ort des „Kunstliedes“ längst hinter sich gelassen und globale Dimensionen angenommen hat. Dabei ging mir, so langsam vor mich schreitend, der Song von Otis Redding: „Sittin´ on the Dock of the Bay“ durch den Kopf. Und prompt stellte sich einen Augenblick später das Brahms-Lied „Feldeinsamkeit“ ein. Und ich fragte mich: Sind das nicht beides gültige künstlerisch-musikalische Aussagen lebensweltlich-existenzieller Befindlichkeit zu unterschiedlichen historischen Zeiten, zwischen denen tiefgreifende politische, ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Wandlungsprozesse liegen?
Ganz spontan neigte ich dazu, dies zu bejahen, nahm das aber gleich wieder zurück, ahnend, dass dies sorgfältiger Reflektion bedürfe.
Aber darum geht es hier ja nicht. Ich möchte nur erklären, wie ich an die Liedmusik von Brahms geriet. Als ich dann, wieder zu Hause, einfach mal so zu der EMI-CD-Box griff mit den Brahms-Lied-Interpretationen durch Dietrich Fischer-Dieskau und mich eine Stunde lang einhörte in das, was ich zwar alles ganz gut kannte, aber lange nicht mehr gehört hatte, ereignete sich etwas, was ich gerade vor nicht allzu langer Zeit bei der Beschäftigung mit Gustav Mahlers Liedern erlebt hatte: Die Lieder von Johannes Brahms ergriffen von mir Besitz. Ich fing an zu singen, - und das mitten in meiner Beschäftigung mit dem „Spanischen Liederbuch“ von Hugo Wolf, das hier ja gerade in einem ihnen gewidmeten und inzwischen abgeschlossenen Thread vorgestellt wurde.
Noch stehe ich sozusagen noch mit halbleeren Händen dar. Zwar habe ich die Absicht, mit meinen Betrachtungen das ganze liedkompositorische Werk abzudecken, also alle Brahms-Lied-Opera zu berücksichtigen, sehe mich aber vor die Frage gestellt, auf welche Lieder ich mich dabei näher einlassen soll. Denn alle können es nicht sein: Es sind über zweihundert, genauer gesagt 204 einstimmige Lieder, 20 Duette und 60 Quartette, die Brahms hinterlassen hat. Man muss also auswählen. Auch wenn die Duette und die Quartette von vornherein ausgeklammert bleiben sollen, sieht man sich einer übergroßen Fülle gegenüber. Und da wird´s schwierig. Fast alle Lieder können einen in Bann schlagen und viele davon sind große liedkompositorische Werke. Sich auf die allseits bekannten und regelrecht populär gewordenen zu beschränken, dürfte dem Anspruch, den sich dieser Thread stellen möchte, nämlich die spezifische Eigenart der Brahmsschen Liedmusik zu erfassen und die Gründe für ihre so große Beliebtheit aufzuspüren, nicht gerecht werden. Für den zweiten Aspekt wäre diese Vorgehensweise zwar hinreichend, für den anderen wäre aber die Basis zu klein. Das Wesen der Liedmusik von Johannes Brahms und die kompositorische Entwicklung, die sie durchlaufen hat, ließen sich auf dieser Grundlage nicht erfassen. Welche Lieder also nehmen?
Angesichts dieser tatsächlich mich bedrängenden Frage wird mir bewusst, dass ich bei meinen vorangehenden Threads zum Thema „Kunstlied“ einen Fehler begangen habe. Ich habe in unbedachter Weise einfach losgelegt, ohne mich darum zu kümmern, wie denn die Freunde des Kunstliedes in diesem Forum darüber denken, - ob die Lieder des threadmäßig gerade thematisierten Komponisten sie überhaupt anzusprechen vermögen und, wenn ja, welche davon sie gerne einer näheren Betrachtung und eines gemeinsamen Diskurses darüber für wert erachten.
Und so habe ich denn die Bitte: Wer an diesem Projekt in Sachen „Brahms-Lied“ interessiert ist, der möge hier Vorschläge machen, auf welche Lieder man sich näher einlassen sollte. Ich werde mich bemühen, im Zusammenhang mit meinen eigenen Vorstellungen, die ich hinsichtlich der Auswahl habe, allen diesbezüglichen Wünschen so gut ich kann nachzukommen und hege dabei die große Hoffnung, dass daraus ein gemeinsames Nachdenken und ein lebhaftes und ergiebiges Gespräch über die Liedmusik von Brahms hervorgehen möge.