Vermittelten die vorangehenden Lied-Opera zuweilen noch den Eindruck, dass Brahms auf der Suche nach der für ihn letztendlich gültigen Liedsprache war, so dass er, wie gerade das Nebeneinander von „Der Schmied“ und „An eine Äolsharfe“ im vorangehenden Opus 19 zeigt, zu formal und inhaltlich durchaus weit voneinander abliegenden Liedkompositionen gelangte, so bietet das Opus 32 erstmals ein liedkompositorisch einheitliches Bild, - und das sowohl thematisch als auch liedsprachlich-konzeptionell. Brahms scheint seine zentralen liedkompositorischen Themen wie auch die ihnen zugehörige liedsprachliche Form und Gestalt gefunden zu haben. Opus 32 erschien im Jahre 1864 unter dem Titel „Lieder und Gesänge von Aug. v. Platen und G.F. Daumer für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte“. Es enthält neun Lieder, davon fünf auf lyrische Texte von August von Platen und vier auf solche von Georg Friedrich Daumer. Hinsichtlich ihrer Entstehungszeit lassen sie sich nicht genau datieren. Der größte Teil dürfte 1864 entstanden sein, einige Kompositionen entstanden aber wohl in der Zeit davor.
Platen (eigentlich August Graf von Platen-Hallermünde) war ein nachromantischer Lyriker, der, innerlich tief zerrissen und von abgrundtiefem Pessimismus geplagt, die Erlösung in der ins Extrem gesteigerten ästhetischen Form suchte. Daumers Lyrik zeigt in ihrer Thematik zwar Anklänge an die von Platen, sie ist jedoch stärker reflexiv geprägt und wirkt zuweilen lyrisch-sprachlich gekünstelt. Gleichwohl muss sich Brahms in den lyrischen Texten der Beiden in hohem Maße wiedergefunden haben, denn die Lieder darauf lassen hohe innere Betroffenheit vernehmen. Brahms spricht sich darin – wie ja für alle seine großen Lieder gilt – in seinem Lebensgefühl und den existenziellen Grundfragen, mit denen er sich auseinandersetzt, selbst aus. Das tut er freilich, und das ist typisch nicht nur für seine Liedmusik, sondern für sein gesamtes kompositorisches Schaffen, indem er die persönliche Aussage auf dem Weg über die musikalische Form auf die Ebene der Allgemeingültigkeit hebt.
August Graf von Platen: „Wie rafft´ ich mich auf in der Nacht“
Wie rafft ´ ich mich auf in der Nacht, in der Nacht,
Und fühlte mich fürder gezogen,
Die Gassen verließ ich vom Wächter bewacht,
Durchwandelte sacht
In der Nacht, in der Nacht,
Das Tor mit dem gotischen Bogen.
Der Mühlbach rauschte durch felsigen Schacht,
Ich lehnte mich über die Brücke,
Tief unter mir nahm ich der Wogen in Acht,
Die wallten so sacht,
In der Nacht, in der Nacht,
Doch wallte nicht eine zurücke.
Es drehte sich oben, unzählig entfacht
Melodischer Wandel der Sterne,
Mit ihnen der Mond in beruhigter Pracht,
Sie funkelten sacht
In der Nacht, in der Nacht,
Durch täuschend entlegene Ferne.
Ich blickte hinauf in der Nacht, in der Nacht,
Und blickte hinunter aufs neue:
O wehe, wie hast du die Tage verbracht,
Nun stille du sacht
In der Nacht, in der Nacht,
Im pochenden Herzen die Reue!
Dem Lied liegt ein Viervierteltakt zugrunde, es soll „Andante“ vorgetragen werden. Die Grundtonart ist zwar f-Moll, die Harmonik moduliert jedoch sehr stark und greift sowohl nach B- wie nach Kreuztonarten aus, zudem wandelt sich auch das Tongeschlecht immer wieder. Die Harmonik reflektiert in ihren zuweilen regelrecht kühn anmutenden Rückungen, die einmal sogar dazu führen, dass auf ein h-Moll unmittelbar ein c-Moll folgt (letzter Vers, zweite und dritte Strophe), unüberhörbar die starken seelischen Regungen, die der lyrische Text zum Ausdruck bringt. Die Komposition stellt ein variiertes Strophenlied nach dem Schema A-B-B-A´ dar. Die Strophen sind jedoch auf dezente Weise so miteinander verkoppelt, dass im Teil B zunächst der Bass, später der Diskant die melodische Linie von Teil A aufgreift.
Der ersten Strophe, wie auch dem ersten Teil der vierten, liegt ein schwerer, wie schleppend wirkender Marschrhythmus zugrunde, der dadurch zustande kommt, dass auf einen längeren Notenwert ein kürzerer folgt. Das eintaktige Vorspiel, in dem die Singstimme am Ende auftaktig einsetzt, gibt diesen Rhythmus ja vor, indem Oktaven im Wert eines Viertels und eines Achtels einen Terzfall beschreiben. Diese oktavisch geprägte Grundstruktur bleibt im Klaviersatz der ersten und der vierten Strophe bis zum dritten Vers einschließlich erhalten. Danach geht er im Diskant in zwei- und mehrstimmigen Akkordrepetitionen über. Auch die melodische Linie der Singstimme übernimmt diesen gewichtig schreitenden und zugleich schleppend wirkenden Gestus. Die rhythmische Struktur, die sie bei der ersten Melodiezeile auf den Worten „Wie rafft´ich mich auf in der Nacht“ aufweist, behält sie die ganze erste Strophe über bei: Nach dem auftaktigen Achtel folgt ein Akzent in Gestalt eines Viertels (auf „rafft´“), dem folgen zwei kurze Töne, und danach weist die melodische Linie wieder einen Akzent in Gestalt eines Viertels auf. Dieses lyrische Ich muss sich aufraffen, fühlt sich gezogen, tritt seinen Gang in die Nacht mit einer Last auf der Seele an, und die Liedmusik bringt dies mit einer entsprechenden Rhythmisierung zum Ausdruck.
Auch in der Struktur der melodischen Linie und ihrer Harmonisierung schlägt sich das nieder. Zunächst verbleibt sie, ganz der inneren Haltung dieses lyrischen Ichs entsprechend, mit einem Auf und Ab in Sekund- und Terzschritten in mittlerer tonaler Lage. Bei den Worten „Und fühlte mich fürder gezogen“ setzt Brahms das Prinzip der Wiederholung ein, um der lyrischen Aussage alle ihre seelischen Dimensionen abzugewinnen. Drei Mal steigt die melodische Linie mit einem Sprung in hohe Lage empor, geht danach aber sofort wieder in eine Fallbewegung über. Und da das ihre eigentliche Tendenz ist, überlässt sie sich ihr bei der Wiederholung der Worte ganz und gar. Dieses lyrische Ich will eigentlich nicht, fühlt sich „gezogen“ bei seinem Gang durch die Nacht, und die innere Unentschlossenheit, die die melodische Linie am Ende immer in einen Quartfall bei „gezogen“ münden lässt, schlägt sich auch in den zahlreichen harmonischen Rückungen nieder: Sie reichen von „Des“ über „Es“, „F“ „b-Moll“ bis C-Dur am Ende dieser Melodiezeile.
Mit den Worten „Durchwandelte sacht in der Nacht / Das Tor mit dem gotischen Bogen“ kommt ein neuer Ton in die Liedmusik. Brahms interpretiert dieses lyrische Bild, indem er ihm den Charakter von fahler klanglicher Leere beigibt und es damit aus der Perspektive des lyrischen Ichs sieht, wie es sich im Laufe des Liedes in seiner seelischen Befindlichkeit immer mehr enthüllt. Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich zunächst wie starr in Gestalt von Tonrepetitionen auf einer sich langsam absenkenden tonalen Ebenen und beschreibt am Ende eine bogenförmige Bewegung, die über einen Quartsprung in einen weit gespannten, das Taktende übergreifenden Bogen in Gestalt eines Quintfalls bei dem Worten „Bogen“ übergeht. Klanglich fahl – und darin ein wenig erschreckend – wirkt die Liedmusik an dieser Stelle auch deshalb, weil das Klavier im Diskant zu sich in der tonalen Ebene absenkenden und mit harmonischen Rückungen einhergehenden triolischen Oktavrepetitionen übergegangen ist, die in ihrer klanglichen Leere ein wenig an Schubert erinnern. Sie gehen zwar am Ende in dreistimmige Akkorde über, das nimmt der Liedmusik aber nicht ihren bedrückenden Charakter, zumal das Klavier im dreitaktigen Nach-, bzw. Zwischenspiel die letzten melodischen Schritte im Bass noch einmal nachvollzieht, im Diskant begleitet mit eben diesen triolischen Akkordrepetitionen.
Die Strophen zwei und drei sind in der melodischen Linie der Singstimme identisch, nicht aber im Klaviersatz. Den schleppenden Schreitrhythmus hat sie weitgehend abgelegt, sie bewegt sich jetzt ein wenig flüssiger, was daran liegt, dass in die deklamatorischen Schritte zusätzliche Achtel eingelagert sind. Der lyrische Text gibt die Erfahrungen wieder, die das Ich bei seiner nächtlichen Wanderung macht. Es sind solche der Bewegung, Es erfährt die Wogen des Mühlbachs als vor ihm davon wallend und nicht zurückkehrend. Es ist eine Erfahrung von Einsamkeit in einer Natur, die sich in ihrem Sein gleichgültig gegenüber dem Menschen entfaltet. Die melodische Linie setzt sich aus zwei Grundfiguren zusammen, die mehrfach in modifizierter Gestalt wiederkehren: Da ist einerseits die z.T. in Tonrepetitionen erfolgende Bewegung auf wechselnden tonalen Ebenen, in denen sich der deskriptive Charakter des lyrischen Textes niederschlägt; und da sind sich wiederholende Fallbewegungen in Sekunden, die die seelischen Regungen des lyrischen Ichs reflektieren.
Die Worte „Tief unter mir nahm ich die Wogen in Acht“ werden auf einer melodischen Linie deklamiert, die sich in repetierenden Schritten auf der Ebene eine hohen „Des“, eines „C“ und eines „Es“ bewegt. Das Klavier begleitet das im Diskant mit aus Quarten hervorgehenden und in Terzen und Quarten aufsteigenden Vierteln, im Bass mit Oktaven, die die melodische Linie der ersten Strophe aufgreifen. Die Harmonik rückt von f-Moll am Ende nach G-Dur. Bei den nachfolgenden Worten „Die wallten so sacht in der Nacht in der Nacht“ beschreibt die melodische Linie hingegen zwei Mal eine in hoher Lage ansetzende Fallbewegung in Sekunden, bevor sie dann in ein Verharren auf der Ebene eines hohen „Es“ und eines „Des“ übergeht. Wenn nun dem lyrischen Ich bewusst wird, dass keine von den Wellen zu ihm zurück wallt, so reflektiert dies die melodische Linie mit einer expressiven, in einer Quarte, wie Sekunden und einer Terz aus tiefer Lage über eine verminderte Oktave emporsteigenden und danach wieder fallenden Bewegung, die das Klavier im Diskant mit Achteln mitvollzieht und bei der sich die harmonisch ungewöhnliche Rückung von h-Moll nach c-Moll ereignet. Die Worte werden, eben weil es sich um eine das lyrische Ich tief treffende Erfahrung handelt, wiederholt, - dieses Mal aber auf einer in Sekundschritten über mehr als eine Oktave fallenden melodischen Linie, die am Ende, bei dem Wort „zurücke“, in einen lang gedehnten Quintfall mündet, der mit einer Rückung von G-Dur nach C-Dur verbunden ist.
Die lyrischen Bilder vom melodischen Wandel der Sterne und von der beruhigten Pracht des Mondes bewirken eine Modifikation des Klaviersatzes, - bei mit der dritten Strophe identischer melodischer Linie. Nun begleitet das Klavier mit klanglich funkelnd wirkenden Sextenfolgen im Diskant über einem Auf und Ab von Sexten im Bass. Die Sexten im Diskant gehen dann, um den klanglichen Eindruck des Funkelns noch zu verstärken, in aufsteigende und wieder fallende Achtel über, wobei sich dies in hoher Lage ereignet. Die Harmonik durchläuft allerdings die gleichen Modulationen wie in der dritten Strophe. Die Schönheit dieser Bilder ist eine, die dem Menschen in ihm gegenüber gleichgültiger Ferne abgewandt ist, - wie die Welle des Flusses. Und so drückt die Liedmusik dies in gleicher Weise aus, wie sie das auch am Ende der dritten Strophe getan hat.
Platens Gedicht mündet in eine mit dem Klageruf „O wehe“ eingeleitete bittere Selbstanklage. Bei allem Bemühen, die Strophenlied-Form zu wahren, konnte Brahms in der vierten Strophe die Liedmusik der ersten nicht einfach übernehmen. Immerhin aber stellt er, ähnlich wie bei der zweiten und dritten Strophe, einen Bezug zu ihr her, indem die melodische Linie in ihrer Grundstruktur deutliche Anklänge an die der ersten Strophe aufweist. Freilich nutzt Brahms diese strukturell ähnlichen melodischen Figuren als Grundlage für eine entwickelnde Variation im Sinne einer Steigerung der Expressivität. Die erste Melodiezeile bewegt sich nun in fast identischen Schritten auf höherer tonaler Ebene, und auch die Sprungbewegungen der dritte Melodiezeile reichen nun in höhere Lage hinauf. Das Hinauf- und Hinunterblicken des lyrischen Ichs löst starke seelische Erregung in ihm aus, und nicht nur die melodische Linie reagiert darauf, auch der Klaviersatz tut es, - mit einen erregten Auf und Ab von Achteln in Diskant und Bass.
Der Klageruf „ O wehe“ bewirkt, dass die melodische Linie zwar wie auf den Worten „die Gassen“ in der ersten Strophe mit einem Quintsprung in hohe Lage aufsteigt, die nachfolgende Fallbewegung setzt sie aber nun nicht fort, wie sie es dort tut, sondern steigt nun bei den Worten „die Tage“ mit einem neuerlichen Quintsprung in noch höhere Lage empor, um dort in einem Sekundfall zu enden. Die Harmonik durchläuft hier die die durchaus ausdrucksstarke Modulation von G-Dur über c-Moll nach des-Moll und steigert auf diese Weise den expressiven Gestus der melodischen Linie. Brahms greift an dieser Stelle, da es sich um das eigentliche lyrische Zentrum des lyrischen Textes handelt, wieder zum Mittel der Wiederholung. Dies freilich mit einer strukturell ganz und gar gewandelten und in ihrer Expressivität weiter gesteigerten melodischen Linie: Zweimal beschreibt sie, beim zweiten Mal um eine kleine Sekunde tiefer ansetzend, einen höchst gewichtigen Fall über große und kleine Terzen, geht bei dem Wort „Tage“ zwar in einen großen Sekundsprung über, aber nur, um sich erneut einem noch größeren Fall zu überlassen, über eine Quinte nämlich, dem ein kläglich wirkender kleiner Sekundsprung nachfolgt. Die Harmonik moduliert hier erneut auf klanglich ausdrucksstarke Weise im Moll-Bereich von „B“, Ges“ und „Ces“.
Brahms will es – wie in allen seinen Liedern – nicht beim hoffnungslosen Sturz in seelische Abgründe belassen. Er sucht allemal das Rettende. So auch hier. Bei den Schlussworten „Nun stille du sacht in der Nacht, in der Nacht / Im pochenden Herzen die Reue“ kehrt die Liedmusik des Endes der ersten Strophe wieder, nun aber mit dem Anfangssprung der melodischen Linie in eine um eine Sekunde angehobene tonale Lage ausgreifend und das „pochende Herz“ mittels einer Tonrepetition mit einem besonderen Akzent versehend. Das Klavier ist wieder zu seinen triolischen Oktavrepetitionen zurückgekehrt, die zu dem lang gedehnten Quintfall auf dem Wort „Reue“, mit dem die melodische Linie endet, in sich in der tonalen Ebene absenkende dreistimmige Akkorde übergehen.
Im sechstaktigen Nachspiel wiederholt das Klavier die letzte Melodiezeile in Gestalt von bitonalen Akkorden im Diskant über Tonrepetitionen im Bass noch einmal in Gänze, dann noch zweimal partiell, und beschließt das Lied mit einem lang gehaltenen f-Moll-Akkord.
Es ist zweifellos ein großes.