Robert Stuhr: Unverzichtbare Klassikaufnahmen

  • Unter dem Einfluß des Forums und meiner sich entwickelnden musikalischen Interessen habe ich die Einleitung zu meinen "Unverzichtbaren" neu geschrieben:


    Während ich früher mehr oder weniger unsystematisch von gregorianischen Chorälen bis zu zeitgenössischer Musk alles gesammelt habe, habe ich mich - nach einer längeren beruflich bedingten Unterbrechung - vor etwa 2 Jahren wieder der klassischen Musik zugewandt.


    Schwerpunkte der Sammlung waren zunächst Beethoven, Bach, Schubert, Mozart, etwa in der Reihenfolge. In erster Linie Instrumentalmusik, bei Bach auch die großen Vokalwerke, Lieder bei Schubert, Opern von Mozart (Entführung, Zauberflöte, Hochzeit des Figaro).


    Vom früheren Sammeln in die Breite habe ich mich anfangs abgewandt und den Vergleich von Interpretationen und das Hören verschiedener Stile, auch im Wandel der Zeit, bevorzugt. Ich habe großes Interesse an historischen Aufnahmen, das Rauschen alter Schellackaufnahmen macht mir nichts aus. Wie sich zB die Interpretation der Symphonien von Beethoven im Laufe der Zeit gewandelt hat, von Nikisch, Fried, Pfitzner, über Furtwängler, Weingartner, Leibowitz, Reiner, Karajan bis hin zu Norrington, Gardiner und Zinman, das ist schon sehr interessant. Ähnliches gilt auch für die Klaviersonaten. Diesen Sammelstil habe ich beibehalten.


    Der Schwerpunkt liegt klar bei der Musik für Klavier, Violine und Cello solo sowie der Kammermusik, weg von Symphonik und Konzerten. Mit orchestralen Klangmassen modernerer Symphonien kann ich nichts (mehr) anfangen. Also kein Interesse an zB Bruckner, Mahler, Schostakowitsch, Petterson, Harris. Weitere prominente Lücken: Brahms und Tschaikowsky.


    Geschätzte zeitgenössische Komponisten sind zB Arvo Pärt, Toru Takemitsu, Tan Dun, Michael Nyman, Philippe Hersant und Nicolas Bacri.


    Besondere Steckenpferde sind einmal die Pianisten der französischen Schule, also ab Louis Diemer, Riesler, Ciampi, Cortot, Haskil, Lipatti, Casadesus, Nat, Meyer, Long, und wie sie alle heißen, bis hin zu den heutigen. Zweitens die französische Kammermusik ab etwa Faure, gerade auch in Interpretationen bis 1945.


    Ich beginne mich derzeit für die Barockmusik zu interessieren, unter dem Einfluß gewisser Elemente dieses Forums ;) Schwerpunkt neben den Concerti vor allem geistliche Musik und Oper.


    Bevorzugte Instrumente:
    Klavier, Cello, Violine, Abneigung gegen Blechbläser.


    Größter Dirigent des 20. Jahrhunderts ist zweifellos Wilhelm Furtwängler, weiter geschätzt werden von mir zB Mengelberg, Horenstein, Bernstein oder Wand. Abneigung gegen Toscanini oder Karajan. Das betrifft aber nur den generellen Stil, nicht jede einzelne Aufnahme.


    Obwohl ich einräume, daß HIP-Aufnahmen nicht nur bei Barockmusik, sondern auch bei Beethoven hervorragend klingen und die Neuentdeckung altbekannter Werke ermöglichen, mache ich kein Dogma aus HIP oder HOP. Entscheidend ist allein, ob mich die Interpretation als solche überzeugt. Eine HIP-Aufnahme, die Furtwänglers Eroica vom Dezember 1944 auch nur entfernt nahekommt, habe ich noch nicht gehört.

  • Diese Aufnahme von Beethovens Symphonie Nr. 3 sollte jeder gehört haben:



    FURTWÄNGLER CONDUCTS BEETHOVEN:
    THE BEST OF THE WORLD WAR II LEGACY
    IN NEW DIGITAL TRANSFERS
    Musik & Arts CD-4049(4)


    Niemand, weder vorher noch nachher, hat jemals diese Interpretation der Eroica übertroffen. Wilhelm Furtwängler dirigierte am 16./18.12 1944 die Wiener Philharmoniker, mitten im verwüsteten Deutschland. Live immer besser als im Studio, dürfte Furtwänglers Dirigat an glühender Intensität kaum zu überbieten sein. Die Musik steht unter Hochspannung, vor allem der erste Satz, von dem eine richtige Bedrohlichkeit ausgeht, als hätte Furtwängler das bevorstehende Kriegsende geschaut.


    Auch wenn zB. Bernstein mit den New Yorkern oder Horenstein mit Vienna Pro Musica auf Vox gleichfalls hervorragend sind, der letzte Funke fehlt im Vergleich mit dieser Aufnahme.


    Die Aufnahme geistert in allen möglichen Varianten herum (die Eroica-Seite von Eric Grunin listet nur einen Teil), die Klangqualität mehr oder weniger dumpf und oft manipuliert. Diese CD klingt - den Zeitumständen entsprechend - sehr gut und ist uneingeschränkt empfehlenswert.


    Es handelt sich um eine 4er - Box, die auch die 4.,5.,6.,7., 9.Symphonie enthält.


    [tip]1480451[/tip]



  • Arvo Pärt, Alina,
    ECM New Series 1591
    Aufnahme Juli 1995


    Alexander Malter, Klavier


    Die Musik von Pärt ist nicht kitschig oder langweilig. Sie wird auch nicht entwertet, weil es - zumindest zeitweise - in bestimmten Schicki-Micki- Kreisen Mode war, ihn zu hören. Pärt komponiert unverwechselbare authentische Musik. Da ist nichts gekünstelt, aufgeplustert, dem Zeitgeist angepaßt. Die spirituellen und religiösen Wurzeln von Pärts Musik sind offenkundig, seine Demut, sein Streben nach Einfachheit, das Weglassen alles Unwesentlichen kennzeichnet seine Musik.


    FÜR ALINA ist ein essentielles Stück zeitgenössischer Musik und zugleich das erste, welches Pärt nach seinem mehrjährigem Schweigen im neuen "tintinnabuli"-Stil komponierte. Im Booklet der CD finden sich dazu viele kluge Worte, die ich nicht wiederholen muß. In englischer Sprache empfiehlt sich ein Besuch von David Pinkerton's arvopärt.org - Seite mit allen wichtigen Informationen über Mann und Werk.


    Das Stück ist öfters als Filmmusik verwendet worden, zb bei Tom Tykwers HEAVEN. In keinem anderen Film hat die Musik aber eine solche Wirkung wie in Francois Dupeyrons LA CHAMBRE DES OFFICIERS. Der Film spielt 1914-18 fast nur in einem franz. Lazarett, wo ein am Gesicht verwundeter Offizier mit den körperlichen, vor allem aber mit den seelischen Folgen seiner schweren Verwundung kämpfen muß. (Tip: Die franz. Special Edition (Doppel-DVD) besitzt englische Untertitel und ist den anderen Veröffentlichungen qualitativ weit überlegen. Ansehen!) Die Musik schafft eine beklemmende Atmosphäre. Auf der CD findet sich das ebenfalls sehr bemerkenswerte Stück SPIEGEL IM SPIEGEL.


    [tip]1536317[/tip]

  • Die dritte vorgestellte CD ist wieder mit zeitgenössischer Musik:



    Hans Otte
    Das Buch der Klänge
    Herbert Henck, Klavier
    ECM New Series 1659
    Aufnahme September 1997


    Hans Otte (*1926) schrieb das Werk zwischen 1979 und 1982. Es ist ein Zyklus aus 12 Teilen. Ich zitiere einfach aus der Widmung:


    "für alle die,
    die ganz bei den Klängen sein wollen,
    um so
    auf der Suche nach dem
    Klang der Klänge,
    dem Geheimnis allen Lebens,
    sich selbst
    klingend
    wiederzufinden, zu erfahren"


    Vertrauer Klavierklang und die Harmonien der überlieferten Tonalität erleichtern das Erschließen des Werkes sehr. Es gründet zwar nicht, so das Booklet, auf Tonarten, schließt diese aber auch nicht aus. Oft verschmelzen Dur und Moll zu einer Einheit und schaffen eine charakteristisch schwebende, unaufgelöste Harmonik. Metronomangaben sind lediglich als Anhalt aufgenommen, die Wahl stimmiger Tempi obliegt dem Spieler. Zurücknahme und Überschaubarkeit, Durchhörbarkeit und Schmucklosigkeit sind die Zierde dieser Musik.


    Wenn ich Pärts "Für Alina" hier liste, dann wird es niemanden wundern, auch "Das Buch der Klänge" hier zu finden.


    [tip]9812374[/tip]

  • Unverzichtbar ist für mich mittlerweile dieses Werk geworden:


    Gabriel Faure: Klavierquintett Nr. 1 op 89 für Klavier, 2 Violinen, Viola und Violoncello. Und zwar in dieser Aufnahme hier:



    Es gibt sicher auch andere gute Aufnahmen, aber ich habe das Werk eben mit dieser Aufnahme kennengelernt.


    Der in D noch immer sträflich vernachlässigte Faure gehört für mich mittlerweile zu den herausragenden Repräsentanten franz. Musik um die Wende des 19./20. Jahrhunderts, die ich - nicht zuletzt durch das Forum - sehr schätzen gelernt habe. Verstärkt wird meine Liebe zu Faure noch dadurch, daß er fast ausschließlich als Komponist für Kammer- und Klaviermusik sowie Lieder in Erscheinung getreten ist, und damit meiner Neigung zu diesen Richtungen sehr entgegenkommt.


    Uraufführung am 23.03.1906 in Brüssel durch das Ysaye-Quartett mit dem Komponisten selbst am Klavier. Das Werk war Eugene Ysaye gewidmet.


    Aus dem Booklet: "Seine Werke werden geprägt durch die schwärmerische Anmut seiner polyphon verwobenen Melodien, die den geistesverwandten Dichter Proust entflammten und in den Beschreibungen des Musikers Vinteuil im Romanzyklus"Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" wieder auftauchen. Vor allem aber ist es die offenbar frei schwebende, in Wahrheit aber minutiös geplante harmonische Entwicklung, die als eigentlicher Motor die Musik Faures vorantreibt und impressionistische Züge mit der träumerischen Melancholie von Brahms oder Schumann vermischt."


    [tip]7411825[/tip]

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  • Auch einer der Unbekannten ist der amerikanische Komponist Charles Tomlinson Griffes (1884-1920). Für den europäischen Klassikliebhaber fängt (ketzerisch formuliert) die amerikanische Musik überhaupt erst mit Ives an. Griffes ist auch leider früh verstorben.


    Ich möchte die Aufmerksamkeit richten of die Three Tone-Pictures op. 5, die zwischen 1910 und 1915 entstanden sind.Teil 1 ist betitelt mit The Lake at Evening, Teil 2 mit The Vale of Dreams, Teil 3 mit The Night Winds. Die Stücke sind alle sehr kurz, zwischen 1:41 und 3:21. Und dennoch entfalten sie eine erstaunliche Wirkung auf den Hörer. Sie zeigen Griffes als kompetenten Miniaturisten. Hier verläßt er erstmals seine Wurzeln in der deutschen Romantik (Griffes hat, wie viele amerikanische Komponisten seiner Zeit, in Deutschland studiert) und findet seinen eigenen, eher impressionistischen Stil.




    Das Bild zeigt die Marco Polo-CD, aber in D wurde die Naxos-CD vertrieben (jetzt wohl ausverkauft). Aber die Stücke kommen auf zahlreichen Kompilationen US-amerikanischer Musik vor und sollten nicht schwer zu finden sein.

  • Diese Aufnahme von Beethovens Vierter sollte man kennen:



    Der ebenso populäre wie falsche Spruch, bei Beethoven seien die Symphonien mit ungerader Nummer die besseren, wird durch diese Aufnahme klar widerlegt. Ebenso wie bei der oben besprochenen Furtwängler-Aufnahme der Eroica gibt auch hier das Liverlebnis den Ausschlag. Schwungvoll, voller Verve und zündend spielend, erwischt das Bayerische Staatsorchester unter Kleiber einen Glückstag, der die Interpretation weit über das normale Maß hinaushebt.


    Wer nur eine Aufnahme der Vierten haben möchte, der sollte diese wählen!

  • Weltberühmt, oft totgenudelt, aber trotzdem unverzichtbar:



    Barber: Adagio for Strings


    gehört zu den Stücken, denen auch Klassikhasser etwas abgewinnen können. Kennengelernt habe ich das Stück durch den Soundtrack von Oliver Stones "Platoon".


    Das Stück wird oft verhunzt, indem die Wiedergabe entweder in pathetischen Kitsch abgleitet, oder zu nüchtern gehalten wird. Das Stück benötigt aber so viel Emotion wie nur möglich, ohne die Grenze zum Kitsch zu überschreiten. Wer kann das besser als Leonard Bernstein? Es spielen zwar nicht die New Yorker, aber was soll's! Schade, daß keine Aufnahme von dem Stück mit Furtwängler existiert...

  • Noch einmal Arvo Pärt at his best:




    Cantus in memory of Benjamin Britten


    ist eine bewegende, nur 5 Minuten dauernde Trauermusik, die mit einfachen Mitteln mehr auszudrücken vermag als großorchestrierte Stücke.


    Wie fast immer bei Pärt, erweist sich Dennis Russell Davies als kompetenter Interpret, hier am Pult des Staatsorchesters Stuttgart. Aufnahme auf dem ECM-typischen Niveau.

  • Wieder Pärt, meine Vorliebe für ihn ist schwer zu übersehen :]





    Das Te Deum


    war für mich der Einstieg in Pärts moderne Sakralmusik. Das Stück hat mich sofort in seinen Bann geschlagen und weist exemplarisch alle Vorzüge Pärtscher Vokalmusik auf. Auch als Einstieg in seine musikalische Welt zu empfehlen. Der Estnische Philharmonische Kammerchor und das Tallinn Kammerorchester unter Tonu Kaljuste sind erste Wahl, wenn es um die Interpretation der Vokalmusik von Pärt geht.

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  • Hier eine historische Klavieraufnahme:



    Frederic Lamond ( 1868-1948 ) wurde in Schottland geboren und war Schüler von Liszt, nachdem er vorher bei von Bülow studiert hatte. Während seiner langen Pianistenkarriere lebte er überwiegend in Deutschland, bis 1933 die Nationalsozialisten die Macht ergriffen.


    Beethoven war sein bevorzugter Komponist und er hat eine Edition seiner Sonaten herausgebracht. Er hat relativ zahlreiche Aufnahmen auf Schallplatte hinterlassen, die einen Sinn für Eleganz, einen wunderschön singenden Ton, zweckmäßig beherrschte Technik und eine gewisse Ernsthaftigkeit offenbaren. Auch komponierte er selbst für Klavier und schrieb Kammermusik.


    Biddulph hat zwei CDs mit seinen Beethoven-Einspielungen für HMV veröffentlicht, die zweite sei hier vorgestellt. Sie gibt tiefe Einblicke in eine längst vergangene Interpretationspraxis. Was für ein Beethoven-Spiel! Seine Aufnahmen waren seit den originalen 78er Platten nicht mehr verfügbar, und so stellen die Biddulph-CDs eine schöne Gelegenheit dar, diesen Repräsentanten einer vergangenen Epoche kennenzulernen.


    Durch ein hervorragendes Remastering empfiehlt sich diese CD auch für Klavierfreunde, die sich mit Schellackaufnahmen nicht anfreunden können. Rauschen ist kaum zu hören, man hört stattdessen glasklares, nicht durch Filtern eingeschränktes Klavierspiel. Die Aufnahmen stammen aus den Jahren 1927 und 1930 (elektrische Aufnahmen), Waldstein und Appassionata in einem Take!

  • Alexei Lubimov hat auf dieser CD




    10 Stücke aus mehreren Jahrhunderten versammelt. Unterstützt von der erstklassigen Technik finden sich gleich zwei Unverzichtbare auf der CD:


    1. C.P.E. Bach: Fantasie für Klavier cis-moll (1787)
    2. John Cage: In a Landscape (1948 )


    Bachs Fantasie ist mit Abstand das modernste Stück auf der CD, obwohl Debussy, Silvestrov, Mansurian und Bartok auch vertreten sind. Wenn man den Stand des Klavierbaus, der Kompositionen für dieses Instrument, bedenkt, dann mutet es unglaublich an, wie weit dieser Mann schon nach vorn geschaut hat. Beethoven läßt grüßen....


    Das Stück von Cage ist - wenn ich das richtig beurteile - für seine Musik durchaus untypisch. Er, so Lubimov in seinen Anmerkungen zur CD, "schenkt uns eine Blume zartester Poesie, eine echte Lotusblüte, die forttreibt auf den Wassern des Vergessens". Wer zB Jarretts Köln Concert oder Chopins Nocturnes mag, der dürfte auch an diesem Cage gefallen finden.




    Der Bote - Elegies for piano
    Alexei Lubmov
    ECM New Series 1771
    Aufgenommen 2000

  • Nun Chopin, erst in den letzten Monaten von mir entdeckt. Die Nocturnes haben es mir besonders angetan. Es gibt etliche erstklassige Interpreten, nicht zuletzt Rubinstein. Aber diese CD hat es mir besonders angetan:



    und die Rückseite




    Der chinesische Pianist Fou Ts'ong, ein hochkultivierter Mann, spielt in einer anderen Liga als die in den letzten Jahren hochgepushten Pianisten aus dem Reich der Mitte. Man informiere sich bitte hier:


    http://www.chineseperformingarts.net/past_event14.htm


    Technisch ohne Fehl und Tadel spielend, trifft er für meinen Geschmack den Ton der Stücke genau. Ohne je in den Kitsch abzugleiten oder die Stücke in ein Sammelsurium sentimentaler Akkorde zerfallen zu lassen, vermeidet er andererseits auch jeden Anflug von Virtuosität, Kühle oder Distanz (zB im Gegensatz zu Weissenberg).




    Chopin Nocturne
    Fou Ts'ong
    Sony Classical 513496 2
    (für schlappe Euro 7 bei Amazon.de erhältlich)

  • Debussy spielt eine immer größere Rolle in meinem musikalischen Leben. Meiner Meinung nach ist er für die Musik des 20. Jahrhunderts von weit größerer Bedeutung als Schönberg. Es werden in der Zukunft noch mehr Werke von ihm in meinen Unverzichtbaren auftauchen. Zunächst aber ein altes Schlachtroß, nämlich La Mer. Und zwar in dieser Aufnahme:





    Ich habe kürzlich ein Vergleichshören durchgeführt mit folgenden Interpretationen:


    Bernstein 1990
    Boulez 1995
    Coppola 1932
    Desormiere 1950
    Horenstein 1966
    Inghelbrecht 1954
    Karajan 1965
    Markevitch 1959
    Toscanini 1950


    Mit deutlichen Abstand war Inghelbrecht die beste Interpretation. Was er aus der Partitur an Stimmen, Spannung und Farben herausholt, ist unfassbar, wenn man ihm zB Karajan, Toscanini oder Bernstein gegenüberstellt. Hört man diese, erfährt man gar nicht, was alles im Stück enthalten ist. Nun erst wird die revolutionäre Wirkung von Debussys Musik vollends klar, die Wirkung, die sie vor 1914 auf den Zuhörer gehabt haben muß. An zweiter Stelle kommt Desormiere, dem ähnliches gelingt.


    Die Aufnahme auf Testament ist sehr klar und für 1954 überaus gut. Sie sind, zusammen mit den anderen Werken von Debussy, Mitte der 50er Jahre bei der franz. Plattenfirma Ducretet-Thomson entstanden und nun auf drei CDs des Labelas Testament wieder erhältlich.



    Desire-Emil Inghelbrecht
    (mit dem Orchestre National de la Radiodiffusion Francaise)
    Debussy: La Mer, Images, Trois chansons de Charles d'Orleans, Noel des enfants qui n'ont plus de maisons
    The Ducretet-Thomson Recordings
    Testament SBT 1213

  • Hier eine Aufnahme des Komponisten und Organisten Abel Decaux:





    Abel Marie Decaux wurde 1869 in Auffay, Dep. Seine-Maritime, geboren, und begann seine musikalische Ausbildung in Rouen, wo er unter anderem in der örtlichen Kathedrale an der Orgel ausgebildet wurde. Dann ging er nach Paris und setzte seine Ausbildung unter Widor und Guilmant fort. Komposition lernte er bei Massenet.


    Ab 1903 war er Organist an der Kirche Sacré-Couer de Montmatre, daneben Professor für Orgel an der Schola Cantorum de Paris. Später unterrichtete er zeitweilig an der Eastman School of Music in Rochester. Er starb am 19.3.43 in Paris. Zeitgenossen nannten ihn den französischen Schönberg.


    Sein kompositorisches Schaffen ist gering, sein Bekanntheitsgrad Null. Das vorgestellte Werk wird gelegentlich als Lückenfüller (wie hier auf Hyperion mit der Klaviersonate von Dukas) eingespielt. Es ist musikhistorisch sehr interessant, zwischen 1900-07 in atonaler Form geschrieben:


    Clairs de lune
    1. Minuit passe [4'30] = Mitternacht vorbei
    2. La ruelle [4'02] = Die schmale Gasse (oder Hintergasse)
    3. Le cimetière [6'00] = Der Friedhof
    4. La mer [5'01] = Das Meer


    (Die Zeitangaben sind der Hyperion-Webseite entnommen und geben die Spieldauer Hamelins an, der das Werk eingespielt hat)


    An anderer Stelle habe ich gelesen, das Stück sei freitonal. Wie dem auch sei, das Werk belegt, wie aufregend die damalige Epoche musikalisch gewesen ist. Radikaler als alles, was Debussy zu dieser Zeit geschrieben hat, scheint am ehesten ein Vergeich mit der Tonsprache Skriabins möglich. Denkbar weit von den damals populären spätromantischen Schlachtrössern entfernt, entfalten die auf den ersten Blick so unscheinbaren Stücke eine direkt unheimliche Sogwirkung. Man höre sich nur einmal an, wie Decaux mit wenigen Akkorden im ersten Teil eine fahle Mitternachtsstimmung erzeugt. Die Atmosphäre eines nächtlichen Friedhofes ist im dritten Teil mit beklemmender Präzision eingefangen, mit dem zweiten assoziiert man sofort eine Straßenszene aus einem expressionistischen deutschen Stummfilm oder aus Pabsts „Die freudlose Gasse“. Den vierten Teil vergleiche man mit dem orchestralen Aufwand in Debussys gleichnamigen Stück…


    Ich kann die auch aufnahmetechnisch gelungene Einspielung nur jedem ans Herz legen, der sich für Klaviermusik abseits der ausgetretenen Pfade interessiert.



    Dukas: Klaviersonate
    Decaux: Clairs de lune
    Piano: Marc-André Hamelin


    Hyperion CDA67513
    aufgenommen am 15.12.2005 in der Henry Wood Hall, London

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  • Die Estampes sind es auf dieser CD, die ich so schätze. Wagners Tempi sind recht langsam (Pagodes 5:10, Soiree dans Grenade 5:32 und Jardins sous la pluie 3:43), langsamer als die meisten meiner Vergleichseinspielungen zB von Rubinstein, Planes, Roge, Gieseking, Moravec, Monique Haas oder Kocsis, ja, selbst noch etwas langsamer als Debussy selbst auf Welte Mignon - Klavierrolle (5:10 bei Soiree dans Grenade).


    Aber sie zerfallen nicht in zusammenhanglose schöne Momente. Der Spannungsbogen bleibt erhalten. Stattdessen entsteht eine fast verzauberte Atmosphäre, die den Stücken sehr gut bekommt und mich auch persönlich so sehr anspricht. Meiner Meinung nach ist es diese Spielweise, die Debussys Auffassung darüber, wie seine Klaviermusik gespielt werden sollte, am nächsten kommt. Er sagte einmal gegenüber dem amerikanischen Pianisten George Copeland, es sei notwendig, sich selbst völlig aufzugeben und die Musik mit einem machen zu lassen, was sie will. Man müsse ein Gefäß sein, durch das sie hindurchgeht. Weil so viele Pianisten versuchten, sich der Musik aufzudrängen, gebe es so wenig Leute, die seine Musik spielen könnten.


    Vanessa Wagner gehört nicht zu ihnen.


    Zur Pianistin gibt es hier mehr Informationen:


    http://www.vanessa-wagner.com/index.html



    Debussy:
    Images I & II
    Images oubliees
    Estampes
    L'isle joyeuse
    Valse romantique
    La plus que lente


    Piano: Vanessa Wagner
    Ambroisie AMB 9991
    aufgenommen im Studio vom 12.-15.06.2005 in Sion in der Schweiz